Im Gespräch – Warum Glauben (2025)
Prof. Dr. Dr. Matthias Beck im Gespräch mit Bruder David Steindl-Rast OSB Video
Moderation: Dr. Paul Wuthe
Ergänzende Links zu den Themen im Gespräch
1. Teil:
WAS MEINEN WIR, WENN WIR VOM GLAUBEN SPRECHEN?
Immer wieder erklärt uns Bruder David das Wort Gott im Zusammenhang mit dem Leben, unserer Lebensgeschichte, unserer innigsten Beziehung zum Geheimnis als dem großen Du.
1.1. Bruder David im Interview mit Olivia Rölling in der TV Sendung Der Sinn des Lebens und die Dankbarkeit (2024):
(08:28) «Wenn Du in der Früh aufwachst und Deinen Tagesplan anschaust – in der Haltung: ‹Das schenkt mir das Leben, das verlangt es von mir› – dann hast Du ein Gegenüber: das Leben. Es lebt dich!
Wir haben nicht das Leben, das Leben hat uns. Trotzdem können wir uns ihm gegenüberstellen. Das ist sehr geheimnisvoll, und sehr tief: Wir sind Leben, das Leben lebt uns, und wir sind mit ihm im Dialog: hörend, achtsam auf das, was das Leben von mir will. Und zugleich achtsam darauf: Was schenkt es mir? Natürlich können wir auch taub und schlafwandelnd sein.»
«Du sprichst vom Leben so, als wäre es ein Subjekt. Was ist das: das Leben, das etwas von mir will?»
«Es ist unser großes Du, und es ist das ES, das alles gibt. ES gibt sogar mich! Was ist dieses ES? Es ist das geheimnisvolle Herzstück, die Mitte des Lebens. Wir stehen ständig im Dialog damit. Wenn Du über Dein Leben nachdenkst, dann ist dieses Leben ja nicht eine Aneinanderreihung von unzusammenhängenden Episoden, sondern Du hast eine Geschichte: Das setzt voraus, dass Du sie jemandem erzählst.»
«Auch sich selber?»
«Ja, aber auch jemand anderem: dem großen Du, dem du gegenüberstehst, und das ich das Leben nenne: Man kann es auch – sehr vorsichtig – Gott nennen.»
«Weshalb diese große Zurückhaltung, es Gott zu nennen?»
«Weil das Wort so missbraucht und missverstanden wird, dass es zu weiteren Missverständnissen führt, außer man weiß genau, mit wem man spricht. Ich spreche lieber vom ‹großen Geheimnis im Herzen des Lebens›, mit dem wir in Beziehung stehen.
Wir können nur Ich sagen, weil es ein Du gibt. Diesem Du wollen wir unsere Lebensgeschichte erzählen. Kein menschliches Du versteht es ganz. Je mehr man jemanden liebt, umso größer ist das Bedürfnis, ihm seine Lebensgeschichte mitzuteilen, und umso schmerzlicher spürt man aber, dass immer ein Rest bleibt. Das verstehe ich so, dass unser eigentliches Du nicht neben allen anderen ist, sondern in allen anderen, alle anderen umfassend.»
1.2. Bruder David am Ende der Fragerunde nach seinem Vortrag Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch die Mitschrift:
(01:03:25) «Und aus unserem eigenen Erleben wissen wir: Wenn wir Ich sagen, setzt das schon eine Beziehung zum Du voraus. Und zwar zu dem Ur-Du. Es ist nicht die Summierung aller Du’s, die wir in unserem Leben treffen. Und das können wir uns auch dadurch bewusst machen, dass ich dieses Du, das mit meinem innersten Ich mitgegeben ist, immer wieder suche und auch in den liebsten und nächsten Menschen nicht ganz vollkommen finde. Es ist dieses Du, dem wir unser Leben erzählen. Darum ist unser Leben eine Lebensgeschichte und nicht eine Aufeinanderfolge von Ereignissen, weil wir sie als Geschichte diesem Du erzählen durch das ich erst so Ich bin: Ich bin erst Ich, weil es dieses Du gibt. Martin Buber[1] und Ferdinand Ebner[2] haben das ja sehr weit ausgebaut und weitere Überlegungen angestellt.»
Bruder David schließt mit einer humorvollen Antwort von Henry Nouwen[3], den er gut kannte. Er erzählt sie auch in seinem Buch mit Pater Anselm Grün Das glauben wir (2015), 40:
«Henri Nouwen ist viel gereist und hatte einen großen Kreis von Studenten um sich, die ihn liebten und verehrten. Damals war noch die Zeit, wo man von Reisen Dias mitgebracht und vorgeführt hat. Nach 30 Dias wurde es den Studenten ein wenig langweilig. Darum sagte er manchmal: ‹Ich weiß schon, wie es sein wird, wenn ich in den Himmel komme. Der liebe Gott wird sagen: Henri ‒ da bist du ja! Zeig mir deine Dias!› ‒ Das wünschen wir uns alle. Wir sehnen uns nach dem großen Du, das unsere Lebensgeschichte hören will und sie auch versteht.»
1.3. Ebd. im Buch Das glauben wir (2015), 38:
«Wir sind uns selbst Geheimnis. Ich mache einen weiteren Schritt und zwar mit Martin Buber[4] und Ferdinand Ebner[5]: ‹Ich bin durch Dich so Ich›. Das sagt der amerikanische Dichter E. E. Cummings: ‹I am through you so I.› ‒ In dem Augenblick, in dem ich ‹Ich› sage, setze ich das Du voraus. Und das ist kein Konglomerat der vielen ‹Du-s›, die ich in meinem Leben treffe; mein großes Du ist keine Verallgemeinerung dieser vielen, sondern geht ihnen allen voraus, geht über alle hinaus. Das kann man auch daran erkennen, dass keine unserer Begegnungen uns wirklich letztlich zufriedenstellt. Vielleicht einen Augenblick lang, aber dann stirbt dieses Du früher oder später. Wir sind auf ein überzeitliches Du angelegt. Das ist eben dieses göttliche Du. Wir finden es nie völlig verwirklicht in diesem Leben.»
Der Reigentanz der Trinität
im Gebet und in den Religionen
1.4. Siehe dazu Den großen Tanz beten (1998) [derselbe Text aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 3 ‹Der Mystiker in uns›, 18-21]; siehe auch in Dreifaltigkeit: Ergänzend: 2.4.:
«Eines der Geschenke, für das ich in meinem Leben sehr dankbar bin ist die Art, wie ich von der Heiligen Dreifaltigkeit erfuhr. Andere erzählten mir, dass sie, als sie erfuhren, dass wir die Dreifaltigkeit nie verstehen könnten, schon früh entschieden hätten: ‹was soll’s!› Wenn man mir von diesem Geheimnis erzählte, war es immer in einem Ton, der mich einlud, dieses Geheimnis zu erkunden – eine Aufgabe nicht nur für ein ganzes Leben, sondern für die Ewigkeit, des Lebens jenseits von Zeit. Mein Gebetsleben war genau diese Entdeckungsfahrt und ist es immer noch. Mittlerweile bereits in den Siebzigern habe ich tatsächlich das Gefühl, noch kaum begonnen zu haben.
Während einer Predigt unseres Studentenkaplans, des Dominikaners Pater Diego Hanns Goetz (1911-1980), hob ich einmal geradezu ab, ekstatisch außer mir durch die Erkenntnis, dass wir Gott als dreifaltig erkennen können, gerade weil wir in den ewigen Tanz von Vater, Sohn und Hl. Geist hineingezogen sind.
Für Wiener Studenten ist es keineswegs frivol, von Gott als tanzend zu sprechen. Tanzen ist etwas Ernsthaftes, natürlich nicht todernst, aber lebens-ernst. Viel später lernte ich den Hymnus der Shaker über Christus als ‹Herr des Tanzes› kennen.
Ich lernte auch, dass weit zurück im 4. Jahrhundert der hl. Gregor von Nyssa vom ‹Kreistanz der Hl. Dreifaltigkeit› gesprochen hatte: der ewige Sohn kommt aus dem Vater hervor und führt uns mit der ganzen Schöpfung im Hl. Geist zum Vater zurück.
Wir können auch von diesem Großen Tanz in den Begriffen Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen durch Tun sprechen: der Logos, das Wort Gottes kommt aus Gottes unergründlichem Schweigen hervor und kehrt zu Gott zurück, reich an Ernte im Hl. Geist, der zu liebendem Tun inspiriert.
Mein höchstes Ziel beim Gebet ist es, in diesen Tanz einzugehen durch alles, was ich tu oder denke oder leide oder sage. Nach diesem Ende-ohne-Ende sehne ich mich, wann immer ich bete:
Ehre sei dem Vater,
durch den Sohn,
im Heiligen Geist,
wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit,
von Ewigkeit zu Ewigkeit.Amen.»
1.5. Unsere eigene Religion neu durchdenken in den drei Audio-Vorträgen in Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010); siehe auch in Es gibt mich: Ergänzend: 1.2.:
In allen drei Vorträgen geht es Bruder David im letzten Punkt um ein neues Durchdenken unserer eigenen Religion. Darin zeigt er auf, wie der Buddhismus, die Amen-Traditionen[6] (Judentum, Christentum, Islam) und der Hinduismus Ausformungen des allgemeinmenschlichen Urglaubens sind. Die Verschiedenheit liegt in der unterschiedlichen Betonung von Schweigen ‒ Wort und Verstehen durch Tun. Es handelt sich um drei Innenwelten, die uns Bruder David anhand der drei Worte ES, ‹mich› und ‹gibt› mit innerer Logik nahebringt:
«Unser Glaube sieht all dies im Lichte der Dreifaltigkeit. Für uns Christen sind die Wege des Menschen auf der Suche nach dem tiefsten Sinn nur im Lichte des trinitarischen Geheimnisses verständlich.» [Jesus als Wort Gottes (1972), abgedruckt im Buch Die Frage nach Jesus (1973), 65]
«Und da sehen wir also jetzt, dass einerseits dieses ‹ES gibt mich› den Urgrund: dieses ES, die kosmische Fülle: m i c h, und die unerschöpfliche Lebendigkeit des Gebens zusammenfasst, dass Vater, Sohn und Hl. Geist irgendwie ansatzhaft schon darin stecken, und wir sehen zugleich, dass die großen Traditionen diese dreifaltige Wirklichkeit je in anderer Weise betonen: die Buddhisten, könnte man sagen, die Theologie des Vaters entwickeln, die Amen-Traditionen (Judentum, Christentum und Islam) die Theologie des Wortes, und der Hinduismus die Theologie des Hl. Geistes, des Verstehens.»
«So könnte man fast sagen, dass sie einander brauchen: Für das volle Verständnis ‹Es gibt mich› brauchen wir schon die ganze Tradition der Menschheit, alle verschiedenen Formen, Ausformungen dieses einen tiefen menschlichen Glaubens.»
1.6. Die Symphonie des apostolischen Glaubensbekenntnisses von Bruder David in seinem Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2010) schließt mit dem großen «Amen, Amen und nochmals Amen!»[7] bei dem mehr als achttausend Menschen innerlich mitgesungen haben im August 1993 in Chicago, anlässlich der 2. Versammlung des Weltparlaments der Religionen hundert Jahre nach der ersten Zusammenkunft 1893 ebenfalls in Chicago:
«Und da war ich nun, ganz überwältigt von der Ehre, zu diesem Ereignis beitragen zu dürfen. Spannung lag in der Luft. Die Frage, worüber ich vor einer so achtungsgebietenden Zuhörerschaft sprechen sollte, ließ mich in dieser Nacht nicht schlafen. … Das Herzstück der christlichen Tradition ist ohne Zweifel die Dreieinigkeit Gottes ‒ Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Wie konnte ich aber hoffen, diese tiefgründigste Lehre der christlichen Tradition den anderen nahezubringen? War gegenseitiges Verständnis im interreligiösen Dialog überhaupt möglich, wenn es um den kennzeichnenden Glaubensinhalt weit auseinanderliegender Traditionen ging?» (232)
Hier beim Parlament der Weltreligionen zeigte sich mir aber etwas Wichtiges: Spiritualität ist nicht nur ein Suchen nach Sinn, sie ist ebenso Feier von Sinn.
Jeder dieser wundervollen Tage in Chicago brachte neue Feiern und Festlichkeiten, in denen die Schönheit einer Tradition nach der anderen zum Leuchten kam.
Das Bild eines prachtvollen Reigentanzes drängte sich mir dabei auf, und ich entschied mich, es in meiner Ansprache zu verwenden.
Schon im 4. Jahrhundert verwendeten die griechischen Kirchenväter das Bild des Reigens oder Rundtanzes ‒ so wie Kinder ihn tanzen, einander bei den Händen haltend und ‹Ringa ringa reia› singend ‒, um tiefe theologische Einsichten über Gottes Dreieinigkeit auszusprechen:
Der Sohn ‒ Christus als ‹Choryphaeos›, als Anführer des Tanzes ‒ kommt aus der Verborgenheit des Vaters hervor und kehrt im Schwung des Heiligen Geistes zum Vater zurück.
Wenn mein christlicher Glaube an Gott als dreieinig ‒ nicht eins und nicht drei, sondern eins in drei und drei in eins ‒ wirklich Ausdruck des Ur-Glaubens ist, dann musste selbst eine so spezifische Lehre wie die von Gottes Dreifaltigkeit keimhaft in dem Glauben enthalten sein, den ich mit allen Menschen gemein habe. … Es begann mir zu dämmern, dass die ‹Offenbarung› der Trinität, die ich immer für ausschließlich christlich gehalten hatte, das Herzstück des Glaubens schlechthin war. So konnte ich also hoffen, andersgläubige Schwestern und Brüder zu erreichen, wenn ich von dieser Trinität aus meiner christlichen Perspektive sprach. Das entschied ich mich also zu tun. Ich würde über das menschliche Streben nach Sinn sprechen und das Bild eines festlichen Reigens ausmalen, bei dem die vom Wort Lebenden Hand in Hand mit denen, die ins Schweigen tauchen, und mit denen, die den Pfad des Verstehens gehen, tanzen.» (237f.)
«In Beethovens 9. Symphonie hören wir die bekannte Melodie zu Schiller Ode ‹An die Freude› zuerst pianissimo in den Bässen, nach und nach aber schließt ein Instrument nach dem anderen an, die Lautstärke schwillt und schließlich stimmt auch noch der Chor triumphierend ein.
Auf ähnliche Weise nimmt jede Tradition das Thema ‹Glaube› auf und prägt es durch die Eigenart ihrer Stimme. Unser eigenes Instrument mag das Cello sein oder die Oboe, aber erst wenn wir den Zusammenhang aller Instrumente hören, werden wir unsere eigene Melodie voll würdigen können. Nur das volle Orchester der weltweiten Gemeinschaft im Glauben kann das große AMEN[8] angemessen erklingen lassen ‒ als Antwort menschlichen Vertrauens auf Gottes Treue.» (231)
2. Teil:
WER IST JESUS UND WAS MEINEN WIR MIT CHRISTUS?
2.1. Da ist doch etwas dazwischen!
«Weil Jesus so gelebt hat, muss er sterben. Die Verbindung zwischen dem Leben Jesu und dem Tod Jesu ist etwas, was äußerst vernachlässigt wurde in unserer Katechese, in unserem Verständnis, in unsere Lesen des Neuen Testamentes, sogar in unserem Glaubensbekenntnis: ‹Empfangen vom Hl. Geist, geboren aus Maria der Jungfrau, gelitten unter Pontius Pilatus›: Da liegt doch etwas dazwischen! Nicht erwähnt. Warum hat er gelitten unter Pontius Pilatus? Nicht weil er von der Jungfrau Maria geboren wurde, da liegt ja etwas dazwischen!»
(Bruder David im Vortrag Fülle und Nichts (1996): Warum hat Jesus gelitten unter Pontius Pilatus? ab 12:24)
2.2. Dichtung, mythische Aussagen konfrontieren mit historischen Fakten
«Wenn ich in allem, was meine Sinne empfangen,
das ‹Darüber-Hinaus› mit aufnehme,
wird das mir Geschenkte so dicht,
dass nur Dichtung diese Fülle aussprechen kann.
Es wird zu schwer; nur dichterische Sprache
kann so Gewichtiges tragen und vermitteln.»(Bruder David in Dichtung, Bilder, Sprache)
«Mythos in diesem Sinn ist keineswegs etwas Unwahres.
Oft verwenden wir das Wort falsch und sagen:
Das ist ja gar nicht wahr,
das ist nur ein Mythos.
Wenn es wirklich Mythos ist
im vollen Sinn des Wortes,
dann ist es nicht nur wahr,
sondern überwahr;
dann ist es Ausdruck dessen,
was sich in logischer Sprache
nicht mehr fassen lässt.»(Bruder David in seinem Vortrag Im Paradoxen Sinn erfahren, 62;
siehe auch das Audio vom 19. Juli 1989 in Aufwachsen in Widersprüchen)«Das i n n e r e Auferstehungserlebnis der Jünger Jesu ist durch das Lauffeuer ihrer Begeisterung bezeugt und wir wissen davon aus der Geschichte. Was aber war der ä u ß e r e Anlass, der zum zündenden Funke für diese Begeisterung wurde? Das ist eine berechtigte und wichtige Frage. Die Antwort wird letztlich von Historikern gegeben werden müssen. … Wir haben ein Recht zu fordern, dass alle relevanten Belege herangezogen werden.»
(Bruder David in seinem Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2010), 152)
3. Teil
VOM ERLEBNIS ZUR LEBENSAUFGABE:
BRUDER DAVIDS WEG UND DICHTUNG, DIE DAS SCHWEIGEN NICHT BRICHT
1. Bruder Davids Weg, als Mönch alles auf eine Karte zu setzen
Bruder David hatte in seiner Kindheit immer wieder mystische Erfahrungen wie das Erlebnis während einer Predigt des Studentenpfarrers Pater Diego Hanns Goetz in 1.4. Er nennt sie auch Gipfelerlebnisse:
«Auf die Kriegszeit zurückblickend sehe ich, dass mir gerade in den schwersten, unglücklichsten Zeiten jene innere Freude, um die es geht, Auftrieb gab, eine Freude, die von Glück oder Unglück gar nicht abhängt. Aber wovon hängt sie dann ab? Darüber grüble ich nach.
Da kommt mir plötzlich aus heiterem Himmel der Satz in den Sinn: ‹Den Tod allzeit vor Augen halten›. Ja, wirklich ‹aus heiterem Himmel› ‒ aus heiterstem! Es ist ein strahlender August in Salzburg. Ich bin hierher eingeladen worden von Freunden, darunter ein entzückendes Mädchen, in das ich verliebt bin. Die Stadt ist voller Musik; überall flattern Klänge im Sommerwind auf Straßen und Plätzen, unter Arkaden und aus offenen Fenstern …
In all den vergangenen Jahren hatten wir junge Menschen den Tod zum Greifen nahe vor Augen. Es scheint mir jetzt, dass mehr meiner Freunde an den Fronten umgekommen sind, als übrig blieben. Und auch zu Hause hatten Bomben täglich Zerstörung und Tod gebracht. Ein einziges unvorsichtig geflüstertes Wort konnte die Todesstrafe nach sich ziehen; einer unserer Kapläne wurde verhaftet und hingerichtet.[9]
Diese schrecklichen Kriegsjahre waren für mich und meine Freunde Jahre echter Freude, jener Freude, die ich nie einbüßen möchte. Darum die Frage: Wovon hing denn noch bis vor Kurzem diese Freude ab? Darauf steht nun plötzlich die überraschende Antwort vor mir:
Wir haben freudig gelebt, weil wir gar nicht anders konnten als den Tod allzeit vor Augen zu haben. Das zwang uns, im Augenblick zu leben ‒ ganz im Jetzt ‒, und darin lag das Geheimnis unserer Lebensfreude.
Um diesen Zündfunken freudigen Lebendigseins nicht zu verlieren, müsste ich also auch in Zukunft ‹den Tod allzeit vor Augen halten›. Diesen Leitsatz hatte ich aber in der Regel des hl. Benedikt gefunden. Sollte das also von mir verlangen, Benediktinermönch zu werden? Bei diesem Gedanken wird mir unbehaglich und so gehe ich lieber Polka tanzen; niemand tanzt die Krebspolka mit so viel Feuer wie meine Elisabeth.
Wir wohnen auf der Festspielstiege und jeden Morgen gehe ich nach St. Peter hinunter zur Messe bei den Benediktinern. In meinem Schott-Messbuch kann ich die lateinischen Messtexte für den Tag auf Deutsch mitlesen. Tag für Tag scheint es in den Lesungen um Entscheidung zu gehen; das Thema beschäftigt mich intensiv, wenn auch nur so halbbewusst. Zögernd erwäge ich, ob die Freude, die mir so viel wert ist, etwa sogar das Mönchwerden wert sei könnte. Ich bin in mir gespalten, vor einer Entscheidung schrecke ich aber zurück. Am nächsten Morgen erzählt die erste Lesung der Messe vom berühmten Urteil Salomons (1 Könige 3,16-28): Zwei Frauen bringen ein Baby vor den König und jede der beiden behauptet, das Kind sei das ihre. Salomon lässt ein Schwert bringen und befielt: ‹Schneidet das Kind entzwei und gebt jeder der Frauen eine Hälfte›! Da schreit die eine Frau: ‹Gebt i h r das Kind›! Und erweist sich so als die wahre Mutter.
In diesem Augenblick schreit auch in mir etwas auf und schon jetzt hat das Urteil Salomons in mir schlagartig eine Sehnsucht nach innerer Ungespaltenheit ausgelöst, die mich nicht loslassen wird. Logisch ist das nicht, aber ich weiß: Mönch zu werden ist mein Weg, wie weit auch die Umwege dahin sein werden.
Vor den Konsequenzen dieser Entscheidung werde ich nun sieben Jahre davonlaufen. Ein Alibi nach dem Anderen werde ich finden.»
(Bruder David im Gespräch mit Johannes Kaup
in Ich bin durch Dich so ich (2016), 50-52)
2. Dichtung, die das Schweigen nicht bricht
Alle drei Vorträge von Bruder David in Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010) anlässlich der Vorstellung seines neuen Buches Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2010) haben eine gemeinsame inhaltliche Gliederung: 1. Was meinen wir mit einem Glauben, der alle verbindet? 2. Wer sind ‹alle›? 3. Wie können wir diese gläubige Verbundenheit leben? Bruder David schlägt vor:
Furchtloser Umgang mit andern;
Stille und Verständnis für Dichtung;
Dankbar leben im Jetzt;
Unsere Religion neu durchdenken:
Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis
im Buch Mystik ‒ Spiritualität der Zukunft (2005), 76-83.
Dichtung nährt unser Glaubenswissen. Dass Christentum Gottesverwirklichung ist, drückt Rilke in seinem Gedicht ‹Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz› in dichterischer Sprache aus:
«Die Dichtung verdichtet unser Erlebnis und zerredet es nicht.
Gedichte lassen unser Erleben zu Wort kommen.
Sie brechen das Schweigen nicht,
sondern das Schweigen kommt zu Wort im Gedicht.
So möchte ich beginnen mit ein paar Zeilen
aus Rilkes Stundenbuch.
Rilke ist Mystiker, obwohl er
meistes nicht so verstanden wird:‹Du hast dich so unendlich groß begonnen
an jenem Tage, da du uns begannst, ‒
und wir sind so gereift in deinen Sonnen,
so breit geworden und so tief gepflanzt,
daß du in Menschen, Engeln und Madonnen
dich ruhend jetzt vollenden kannst.›Gott vollendet sich nicht ohne unser Zutun.
Gott vollendet sich aber auch trotz unseres Versagens.»(Bruder David in seinem Beitrag
Arbeit und Schweigen
im Buch Geist und Natur (1989), 290, 294)
Siehe auch in Stille leben und in Beten wach und empfänglich: Ergänzend: 4.: ‹Die Stille nicht brechen, sondern zu Wort kommen lassen›:
«Über Stille darf zuletzt nur Dichtung reden. Nur die Worte der Dichter brechen das Schweigen nicht, sondern lassen es vielmehr zu Wort kommen.
Unsere westliche Kultur wird vom Wort beherrscht. Wir können uns in eine Kultur des Schweigens und der Stille kaum hineindenken.
Oft sind wir wie vom Wort besessen, voller Angst vor all dem, was sich nicht in Worte fassen lässt.
Und doch ahnen wir, dass das ‹erlösende Wort› aus dem Schweigen kommen muss.
Ja, wir ahnen sogar, dass Wort und Schweigen untrennbar zusammengehören, dass an echten Worten die Stille das Wesentliche ist.
Wir haben keine Schwierigkeit, zwischen einem bloßen Wortwechsel und einem Gespräch zu unterscheiden.
Was an einem echten Gespräch wichtiger ist als die Worte, ist die Bereitschaft, uns von den Worten in jene Stille führen zu lassen, aus der sie auf uns zukommen.
Darum münden die tiefsten Gespräche in gemeinsames Schweigen.
Auch jedem guten Gedicht merkt man es an, dass es aus der Stille stammt und in die Stille zurückführen will.
Wenn auch die deutsche Dichtung eindeutig Dichtung des Wortes ist, so hat sie doch Höhepunkte gerade dort erreicht, wo Worte noch sanft am Unsagbaren ausgehen[10] und wo dann nur noch Stille übrigbleibt.»
_______________________
[1] Martin Buber (1878-1965) war ein österreichisch-israelischer Religionsphilosoph. Seinen dialogischen Ansatz stellt er in seinem wichtigsten Werk ‹Ich und Du› (Stuttgart 2008) dar.
[2] Ferdinand Ebner (1882-1931) war ein österreichischer Philosoph, der zusammen mit Martin Buber zum wichtigsten Exponenten des dialogischen Denkens gezählt wird.
[3] Henri Jozef Machiel Nouwen (1932-1996) war römisch-katholischer Priester, Psychologe und geistlicher Schriftsteller aus den Niederlanden, zahlreiche Werke, unter anderem: ‹Ich hörte auf die Stille. Sieben Monate im Trappistenkloster›, Freiburg 1997.
[4] Siehe Anm. 1
[5] Siehe Anm. 2
[6] Siehe Anm. 7
[7] Siehe den letzten Satz im Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2010):
«Was sollten die Tänzer im großen Reigen der Religionen singen? ‹AMEN. AMEN und nochmals AMEN!» (239)
Bruder David spricht von den Amen-Traditionen und meint damit das Judentum, Christentum und den Islam, weil allen drei Wort-Religionen das Wort AMEN gemeinsam ist.
«Aber nicht nur die westlichen Amen-Traditionen sind durch dieses Wort verbunden. Wir dürfen das AUM oder OM, die heilige Silbe östlicher Traditionen mit dem AMEN eng verwandt verstehen.» (229f.)
[8] Ebd. «Das hebräische AMEN ist ein inhaltsreiches Wort. Es bedeutet so viel wie das deutsche Ja, geht aber weit darüber hinaus. Wer AMEN sagt, bejaht nicht nur eine Aussage, sondern verpflichtet sich, danach zu leben.
Die Kernbedeutung dieses Wortes ist Verlässlichkeit. AMEN zu sagen heißt, sich auf Gottes Verlässlichkeit verlassen. So fasst das AMEN am Schluss des Glaubensbekenntnisses noch einmal zusammen, was glauben heißt: Unser Herz vertrauensvoll auf Gott zu setzen und dementsprechend zu leben.» (229)
[9] Pater Heinrich Maier (1908-1945) war ein österreichsicher, römisch-katholischer Priester, Pädagoge, Philosoph, sowie Widerstandskämpfer gegen Hitler.
[10] Immer wieder zitiert Bruder David T. S. Eliot: Four quartets: Burnt Norton, V:
«Words, after speech, reach into the silence.»
«Worte, nachdem sie gesprochen, reichen in das Schweigen hinein.»

