Kreuz und Erlösung
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Wenn wir uns eingehender damit befassen wollen, was Erlösung im christlichen Sinn bedeutet, müssen wir bei der Aussage beginnen, dass Jesus die Menschen rettete, lange bevor das Kreuz in Sicht war.
Er rettete die Menschen, indem er sie dazu brachte, auf eigenen Füßen zu stehen.
In diesem Sinn verstanden seine Zeitgenossen ihn als Retter.
Er gab ihnen ihre Selbstachtung und ihre tiefste Beziehung zurück ‒ die Beziehung zu Gott, zum Allerhöchsten ‒, indem er sie daran erinnerte, dass sie nie verloren gegangen war.
Jesus sagte nicht: «Hier hast du etwas, ich gebe es dir» oder: «Ich vergebe dir deine Sünden.»
Jesus sagte: «Deine Sünden sind vergeben», mit der implizit darin enthaltenen Frage: «Weißt du das denn nicht?»
Es waren seine Gegner, die sagten: «Wer ist dieser Kerl, der den Leuten die Sünden vergibt? Nur Gott kann Sünden vergeben.»
Natürlich sahen die politischen und autoritären religiösen Obrigkeiten seiner Zeit nicht gerne, dass er Menschen auf diese Weise rettete, genauso wenig, wie ihre heutigen Entsprechungen in Mittelamerika keinen gerne sehen, der den Menschen dort hilft, auf eigenen Füßen zu stehen.
Auch wenn man die Evangelien als spätere Berichte über Geschehnisse, die sich eine geraume Zeit davor zugetragen hatten, betrachten muss, so geht doch ziemlich deutlich daraus hervor, dass seine rettende Aktivität zum Kreuz führte und dass Jesus das Kreuz willentlich als ein freies, bereitwilliges Opfer für seine Sache, für das, wofür er einstand, und auch als Geste des Gottvertrauens auf sich nahm.
Nachdem er von der etablierten Gesellschaft aus dem Weg geräumt worden war, erkannten seine Nachfolger ‒ auch wenn sie zuerst tief bestürzt waren und in alle Winde zerstreut wurden ‒, dass ein solches Leben nicht mehr auszulöschen war.
Und das nennen wir die Auferstehung.
Sie wird uns in mythischen Bildern überliefert, und wir können den Geschehnissen nicht nachgehen, um festzustellen, was historisch wirklich geschah; um das geht es uns auch nicht.
Wichtig ist offensichtlich, dass er starb und dennoch lebt.
Wir können das nicht dadurch belegen, dass wir zweitausend Jahre zurückgehen, sondern es ist vielmehr etwas, das heute in zahllosen Lebensgeschichten geschieht und erfahrbar ist:
Er hat uns befreit.
Christus lebt in denen, die seinem Weg folgen, und sie leben in ihm.
Das ist die höchste Art der Rettung. Sie leben durch sein Leben und werden ihrerseits Retter für andere.
Heutzutage ist mir noch keiner begegnet, dem es Schwierigkeiten gemacht hätte, das zu verstehen, aber viele haben enorme Probleme mit der Auffassung, dass «er für unsere Sünden gestorben ist», wie man im Kindergottesdienst lehrt.
Jesus lebte und starb, um der Entfremdung von unserem wahren Selbst ein Ende zu setzen, der Entfremdung von anderen und von der allerhöchsten Wahrheit. Er hat für dieses Ziel gelebt und musste sterben, weil er entsprechend lebte. In diesem Sinn ist er «für unsere Sünden» gestorben».
Unglücklicherweise ist das über die Jahrhunderte hinweg in einer beinahe juristischen Sprache übermittelt worden; als wäre es eine Art Transaktion oder ein Handel mit Gott:
Es gab einen Graben zwischen uns und Gott, und jemand musste dafür aufkommen.
Diese ganzen Geschichten können wir vergessen.
Das juristische Bild scheint anderen Generationen geholfen zu haben. Schön und gut. Alles, was hilft, ist in Ordnung. Aber wenn es zum Hindernis wird wie heute, sollten wir es vergessen. Wir brauchen diese Sprache nicht zu sprechen. Wir können die Dinge ruhig so beschreiben, wie ich es eben getan habe.
[Der spirituelle Weg (1996): ‹Zen-Buddhismus und Christentum im täglichen Leben, ein Dialog› von Robert Aitken mit David Steindl-Rast, Teil 1: ‹Der Erlöser und der Weise›, 75-77; siehe auch ST 37-39 unter dem Titel ‹Erlösung›]
[Ergänzung:
Audios
1. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache:
Teil 2: «Ihr wisst alles über Gott von innen her»:
(00:00) Warum musste Jesus Christus am Kreuz sterben? Und: Wie hat das uns erlöst? Die Antwort von Anselm von Canterbury (1033-1109)[1] / (04:20) ‹Weil Gott der Vater es so wollte› ‒ diese Antwort ist ungenügend, weil die Frage zunächst eine geschichtliche Frage ist, die man geschichtlich beantworten muss. / (05:43) Die Antwort von Bruder David: Das Leben Jesu steht für die entscheidende Wende in der Religionsgeschichte: Jesus verlegt die göttliche Autorität in die Herzen seiner Zuhörer[2] / (09:38) Die Pointe der Gleichnisse Jesu: ‹Ihr wisst es doch: Warum handelt ihr nicht danach›? / (11:19) ‹Der Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Schriftgelehrten› ‒ ‹Deine Sünden sind dir vergeben›: Jesus ermächtigt die Menschen ‒ Konflikt mit den autoritären Autoritäten / (13:14) Zuviel Verantwortung: Die Massen lassen ihn fallen / (15:18) Der Tod hat uns als solcher nicht erlöst, sondern die Auferstehung / (17:07) Wofür Jesus steht, unterliegt nicht dem Tod / (18:53) ‹Gott gehorchen oder euch›? (Apg 5,29): Wieder Autorität in den Herzen der Hörer ‒ Die innere Autorität zurückgewinnen: Einander ermächtigen, Befreiung von den Sünden, denn Sünde ist diese Hölle, die wir aus dieser Welt gemacht haben ‒ Es kostet sehr viel: Wir müssen umkehren, die Verantwortung übernehmen, auf eigenen Füßen stehen
2. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(36:54) Die erlösende Kraft des Kreuzes und die Auferstehung ‒ ‹Wenn irgendjemand von uns einen einzigen Menschen kennengelernt hat im Leben, der aus dieser Lebenskraft Jesus lebt, dann haben wir die Auferstehung erlebt› / (38:56) ‹So kann man leben›: Ein Sieg durch den Tod des Siegers und ein Friede, den die Welt nicht geben kann / (40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition
3. Vater Unser (1992)
Teil 3 in Themen aufgeteilt
‹Wir sind erlöst!› – der andere Blick auf Gewohnte: ‹Das Kreuz auf sich nehmen›, ‹Bekehrung›, ‹Busse›
4. Audio Beten ‒ Mit dem Herzen horchen (1988)
2. Bruder David in der Fragerunde:
Das Urwesen des Christlichen zurückgewinnen; siehe auch die Mitschrift Teil II, 13f.:
(19:44) Erlösung in biblischer Schau:
«Das ist das Urwesen des Christlichen, dass Gott uns nicht so von außen erlöst, sonst müsste man ja diese ganze christliche Geschichte gar nicht haben, sondern, dass die Erlösung von innen kommt, durch einen, der uns gleich ist in allem. Das ist ausdrücklich gesagt von Christus:
Jesus Christus ist uns in allem gleich außer in dieser Entfremdung, in der Sünde ‒ richtig verstanden ‒ in der Vereinzelung, in der Verelendung, in der inneren Abspaltung von unserem göttlichen Kern, von unserem innersten göttlichen Wesen.»]
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[1] Bruder David erklärt die Satisfaktionslehre, die Anselm von Canterbury in seinem Buch «Cur Deus homo» vertritt: «Wie Anselm von Canterbury für seine Zeit gesprochen hat, müssen wir heute das für unsere Zeit sagen können.»
[2] Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):
«Geistesgeschichtlich betrachtet war es die größte Leistung Jesu des Mystikers, dass er ‒ wie, auf andere Weise, Buddha vor ihm ‒ aus dem Bannkreis des Theismus ausbrach. Gott ist für Jesus nicht die für den Theismus kennzeichnende Gottheit, die, von uns getrennt, uns gegenübersteht; Jesus erlebt sich als mit Gottes eigenem Leben lebendig.»
Krise
Text, Interview und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Eine Krise ist immer eine Läuterung, wenn wir sie richtig verstehen. Das Wort «Krise» selbst geht auf eine Wurz zurück, die «aussieben» bedeutet. Die Krise ist ein Trennen, ein Aussieben dessen, was machbar ist und über das hinausführt, was tot ist und zurückgelassen werden muss.
In persönlichen Krisen sind immer drei Elemente enthalten: Das erste ist die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann, wir stehen vor einer Wand. Dann kommt die Einsicht, dass wir Ballast abwerfen müssen, wenn wir weiterkommen wollen. Die dritte und wichtigste Einsicht in diesem Prozess ist, dass wir innere Führung brauchen.
Es kommt darauf an zu erspüren, was es ist, das wir abwerfen müssen, um dieses scheinbar unbezwingliche Hindernis zu überwinden.
Letztlich müssen und dürfen wir uns dann von jener segensreichen Lebenskraft leiten lassen, die immer in uns fließt, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind.
Wenn wir uns in unserer Hilflosigkeit vertrauend öffnen und fragen: «Was kann mich jetzt führen? Ich bin hilflos, aber ich vertraue darauf, dass es eine Führung gibt», dann bekommen wir immer Antwort.
Manchmal bekommen wir unerwartete Wegweisungen: Wir lesen etwas, was genau auf unsere Situation zuzutreffen scheint, oder wir begegnen jemandem, der genau das richtige Wort für uns hat. Manchmal findet die Neuausrichtung auch völlig innerlich statt, durch einen Traum oder eine unerwartete Einsicht. Auch ein glücklicher Zufall kann uns helfen.
Ganz plötzlich wird uns die Weisung, die wir brauchen, geschenkt.
Was wir in die Krise einbringen müssen, ist Vertrauen. Und ein vertrauensvolles Warten ist eine wahrhaft innige Form des Betens.
[ST 80f., Quelle: MS 5) 100-102]
[Ergänzend:
Audio-Vorträge und weitere Links zu Interview / Texten:
1. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen – Goldegger Dialoge 18.-20.06.1992, siehe auch Tagungsband Schmerz – Stachel des Lebens (AT).
Drittes Seminar mit Br. David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg
(15:19) Das Leben führt uns immer wieder in Krisen.
O-Ton Bruder David:
«Ganz formell gesprochen, ist es entweder eine Krise, dann kommt man durch oder es war eine Sackgasse, dann bleibt man drinstecken.
Das Wort Krise beinhaltet schon, dass man durchkommt. Sonst ist es eine Sackgasse und man bleibt drinstecken. Krise hängt mit dem Wort ‹Sieb› zusammen im Deutschen. Es ist eine Situation, in der das Lebensfähige von dem zum Absterben verurteilten ausgesiebt wird. Das Lebensfähige bleibt zurück und das, was sterben muss, das fällt durch. Das ist das grundsätzliche Bild, das hinter dem Wort Krise steht.
Man kann das vielleicht auch so sehen, dass zu einer Krise immer drei Phasen gehören, drei Elemente und das erste ist das Erlebnis: So geht es nicht weiter! Also das Anstehen. Der Anstoss. Wir stossen an etwas an. Und wenn wir daran zerbrechen, dann wars keine Krise.
Wenn es zum Anstoss wird fürs Weitergehen, für eine ganz neue Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit oder der Aufstieg zu einer neuen Ebene, dann können wir von einer Krise sprechen.
Diese Phase drückt sich meistens auch in Dunkelheit aus, ‹des Lebens Dunkelstunden›, wie Rilke das nennt.
Das Leben geht von Krise zu Krise und wenn wir keine Krise haben, dann geht’s bestenfalls so dahin, aber nicht wirklich lebendig und nicht wirklich anwachsend oder bereichernd und so.
Die meisten von uns würden sagen: ‹Mach dir nur keine Sorgen, mir ist’s ganz recht, wenn’s nur so dahin geht. Ich brauch weiter nichts.› Aber wenn wir ernstlich darüber nachdenken, dann ist Krise doch etwas, wofür wir dankbar sein müssen, wenn es kommt. Man kanns nicht herbeizwingen.
(24:53) Die zweite Phase, die zu einer Krise gehört ist das Abstreifen. Irgendetwas muss zurückgelassen werden.
Man versucht alles mitzunehmen und was nicht mitgenommen werden kann, wird abgestreift.
Wenn man ein bisschen Erfahrung hat, dann hat man schon eine Ahnung, was nicht lebensfähig ist und was abgestreift werden muss.
Das Abstreifen ist auch ein sich auf das Wesentliche besinnen.
(28:20) Und die dritte Phase ist die Kraft, die uns durchführt oder Führung, die Leitung. Den Strom, den man beginnt zu spüren. Wir spüren, dass etwas uns durchziehen wird. Eine Kraft, die uns durchbringen wird, aber es ist ganz entscheidend, dass die Dunkelheit, von der wir anfänglich gesprochen haben, auch hier in der dritten Phase nicht aufgehoben wird.
Es ist sehr wichtig für uns, um uns in Krisen zurechtzufinden, nicht zu glauben, dass wir erst dann durchkommen, wenn wir sehen, wo’s hingeht. Wir sehen nur die Richtung. Wir sehen ein Dämmern und noch keine Gestalt, noch keine Figur. Wir sehen ein Morgengrauen und noch keine Landschaft. Wenn man die Landschaft sieht, dann ist man schon nicht mehr in der Krisensituation.
Und diese Phase des Fühlens, dass es wohin geht, des Mitgehens und viel wichtiger noch, des Suchens nach etwas, was Führung gibt und leitet, das ist sehr wichtig, denn das könnte man übersehen. Sonst sitzt man da, zuerst angestossen, dann abgestreift, und kann sich jetzt nicht fassen, weil man immer noch nicht sieht und wie lange wird das jetzt dauern?
Es wird so lange dauern, bis wir uns dem Lebensstrom willig hingeben, der uns dorthin führt und keine Ahnung haben, wohin es geht, (29:53) sowie im ersten Vers des 12. Kp. der Genesis mit der Berufung Abrahams, und die Stimme Gottes sagt zu Abraham:
‹Geh hinaus aus deinem Vaterhaus, aus deiner Familie, aus deinem Land – also es wird alles aufgezählt: Geh hinaus! Und das Hebräische ist ganz stark, ‹Lech lécha›, hinausgehen, geh hinaus.›
Also Superlativ: ‹Geh hinaus in das Land, das ich dir zeigen werde›.
Und nicht einmal ein Name für das Land, keine Beschreibung, nur eine Richtung und nicht einmal die Richtung eigentlich, sondern: ‹Folge, ich werde dich führen›.»
2. Dankbar in einer Krise? (2005): Darin zeigt Bruder David an Hand eines konkreten Beispiel aus den 70er Jahren in Südindien die drei Elemente jeder Krise noch einmal auf.
3. Aufwachsen in Widersprüchen ‒ Salzburger intern. Pädagogische Werktagung 17. sowie 19. bis 20. Juli 1989
Vom Rhythmus des Lebens
Eröffnungsreferat und Dialog
Siehe auch die Transkription des Vortrags: Vom Rhythmus des Lebens, im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 13-22:
In diesem Vortrag erklärt Bruder David mit Blick auf die Forschungen von James Fowler, wie sich das Zugehörigkeitsbewusstsein phasenweise von Krise zu Krise erweitert und parallel dazu sich das Autoritätsbewusstsein verinnerlicht ‒ von der allmächtigen Autorität der Eltern in der frühesten Kindheit bis zum prophetischen Gehorsam des reifen Erwachsenen:
«Das ist auch der Rhythmus, in dem sich unsere wahre Lebendigkeit entfaltet. Eine Strecke der Entfaltung, ein Anstoß; dann: wir können nicht weiter ‒ Krise. Wenn wir diese Krise bestehen, eine neue Strecke höherer Lebendigkeit, bis zur nächsten Krise.»
4. Interreligiöser Dialog 20. September 2014
Gespräch, Fragen nach dem Vortrag
(07:01) Br. David wird zu Glaubenskrisen in seinem eigenen Leben gefragt
Weitere Links zu Interview / Texten:
Interview: Weihnachten geht nicht nur uns Christen an (2016): Bruder David kommt am Schluss des Interviews auf die Krise der Kirche zu sprechen.
Die Krise in Syrien (2013)]
Kritik
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Mir fällt es nicht leicht, Kritik anzunehmen. Ich bin ständig so selbstkritisch, dass das kleinste bisschen Kritik aus dem Munde eines anderen leicht der Tropfen sein kann, der das Fass zum Überlaufen bringt. Wenn ich also bei einer Kritik irgendwie direkt reagiere, verderbe ich meistens alles, und ich habe festgestellt, dass es dann am besten ist, wenn ich sage, ich würde darüber nachdenken. Das hilft mir, eine hastige Reaktion zu vermeiden, und gibt mir Zeit, es zu verdauen. [ST 82, Quelle: SW 200]
Lebendigkeit
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Soweit wir es zurückverfolgen können, haben Menschen, wenn sie über Spirituelles sprachen, einen Ausdruck verwendet, der einfach «Lebensatem» bedeutet. Im Lateinischen wie im Griechischen und Hebräischen bedeutet Geist Atem. Geist ist die echte Lebendigkeit des Lebens wie wir wissen. Aber was bedeutet dies? Wir wissen, dass diese Lebendigkeit mehr ist als nur körperliche und geistige Fähigkeiten.
Denkt an die Bemerkung, welche wir oft über die Vitalität von jemandem hören: «Er/sie scheint so lebendig zu sein!» Hier ist mehr im Spiel als nur ein etwas gleichmäßigerer Puls oder ein höherer IQ.
In den großen spirituellen Traditionen ist «Lebendigkeit» oft mit «Achtsamkeit» (mindfulness) austauschbar. Der englische Begriff (mindfulness) betont nicht so sehr den Verstand (mind) als vielmehr die Fülle (fulness). Lebendigkeit ist nicht nur eine Fülle des Verstandes, sondern auch des Leibes und des Geistes.
Diese Vorstellung unterscheidet sich völlig von der verbreiteten Auslegung von Achtsamkeit, welche häufig einen Bruch macht – oder aufrechterhaltet – zwischen Leib und Geist. Echte Spiritualität, echte Lebendigkeit ist im Gegenteil tief in unserem Leib verwurzelt, wird von den Religionen oft außer Acht gelassen oder ganz verneint, ist aber in tief spirituellen Menschen leicht zu erkennen. Denkt an den Dalai Lama, seine Gesten und sein dröhnendes Lachen.
Die Bezeichnung Achtsamkeit scheint zu beschränkt, um ihn zu beschreiben, aber welches Wort sollten wir gebrauchen?
Wenn in einer Sprache ein Wort fehlt, fehlt oft eine Einsicht, in diesem Fall die Einsicht, dass die volle Lebendigkeit aus Achtsamkeit und Leibhaftigkeit besteht und, dass diese volle Lebendigkeit das Herzstück unserer Spiritualität ist.
Die Poesie liefert uns Beispiele von dieser außergewöhnlichen Lebendigkeit, die wir in einen Zusammenhang mit unserem Alltag bringen können. Ein Gedicht von William Butler Yeats preist einen solchen Augenblick. Es bringt eine im Wesentlichen religiöse Erfahrung in einen Zusammenhang, wo wir ihn nicht erwarten würden.
Oft sind wir in Kirchen, Moscheen und Tempel enttäuscht, weil wir denken, dass wir hier eine solche Erfahrung «haben sollten».
Aber Augenblicke der Lebendigkeit kommen nicht auf Bestellung.
Wenn sie kommen, sind wir, wie C.S. Lewis es beschreibt, «überrascht von Freude».
So auch Yeats in seinem Gedicht «Vacillation, IV».
Es beginnt in einem für große Lebendigkeit ungewöhnlichen Alter – «Mein fünfzigstes Jahr, gekommen und gegangen war’s» – und in einer nicht sehr vielversprechenden Umgebung. Yeats sagt:
«Mein fünfzigstes Jahr, gekommen und gegangen war’s,
ich saß, ein Einzelgänger,
in einem überfüllten Londoner Geschäft,
ein offenes Buch und eine leere Tasse
auf der marmornen Tischplatte.»
Wir alle kennen dieses Gefühl des Alleinseins inmitten einer Menschenmenge, gerade ihretwegen umso einsamer. Das Buch liegt offen da. Er scheint in der Hälfte das Interesse daran verloren zu haben. Die Tasse ist leer und so anscheinend auch seine Gedanken. Die Oberfläche des Tisches aus kaltem Stein drückt perfekt seinen Mangel an jeglichen Gefühlen in diesem Augenblick aus. Dieser Mann sieht nicht, was um ihn herum vorgeht. Er starrt geistesabwesend vor sich hin.
Aber unerwartet geschieht etwas und bemächtigt sich seiner, ein wundersamer Kontrast zur Leere, mit der das Gedicht begonnen hat:
«Während ich Geschäft und Straße anstarrte,
mein Leib plötzlich erstrahlte…»
Bemerkt, dass Yeats sagt, er erfahre dieses plötzliche Erwachen, seine Lebendigkeit, in seinem Leib. Er sagt nichts über seinen Verstand oder seine Gedanken. In diesem Augenblick denkt er nicht. Dieses Bewusstsein, das den Leib mit Lebendigkeit erstrahlen lässt, übersteigt das Denken weit.
«…Und für zwanzig Minuten, mehr oder weniger,
schien meine Glückseligkeit so herrlich,
dass ich gesegnet war und segnen konnte.»
Diese «mehr oder weniger» zwanzig Minuten weisen darauf hin, dass dies ein zeitloser Augenblick war. Aber eine augenzwinkernd gemeinte Eigenschaft zu diesem «mehr oder weniger» dringt ebenfalls durch. Die Erfahrung ist zu überwältigend; der Dichter muss sich mit diesem umgangssprachlichen Ausdruck selbst distanzieren. Während er lediglich von seiner «Glückseligkeit» spricht, bricht die religiöse Wirklichkeit mit dem Wort «gesegnet» durch.
Wie in echten spirituellen Erfahrungen liegt der Beweis in der Tatsache, dass er seine gesegnete Lebendigkeit anderen weitergeben kann.
Das ist es, was Religion (lateinisch re-ligio) ist: wörtlich «wieder binden» von Bändern, die zerrissen worden waren, Bande, die uns mit allen anderen Geschöpfen verbinden, mit unserem wahren Selbst und mit dem Göttlichen. Wir sind nicht länger allein und einsam: wir gehören zusammen.
Echte Lebendigkeit ist der Ausdruck einer tiefen Zugehörigkeit. Unser Leib «erstrahlt» vielleicht nicht, aber in gewissen glückseligen Augenblicken wissen wir, mindestens für den Bruchteil einer Sekunde, dass wir zusammengehören.
Wir wissen es «bis in unsere Knochen».
Es ist die höchste Art von Wissen, das nicht auf Gedanken beschränkt ist, noch auf Gefühle, noch auf irgendeine andere Art von Wissen. Dies ist nicht das Wissen, auf das wir uns in alltäglichen Gesprächen beziehen. [Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012), 1f.]
[Ergänzend:
1. Auf dem Weg der Stille (2016), 69-71:
«Je voller unsere Achtsamkeit wird und je stärker wir lebendig werden, desto deutlicher geht uns auf, wie unzureichend die Sprache ist. Aber wenn wir darüber sprechen wollen, müssen wir etwas tun, das die Sprache erweitert, ja erhöht. Wie sieht diese erweiterte Sprache aus? Die erweiterte Möglichkeit der Sprache ist die Poesie, und so möchte ich Ihnen ein Gedicht von William Butler Yeats vorstellen, das auf einen dieser Augenblicke hinweist. Es versetzt die religiöse Erfahrung in einen Kontext, in dem Sie diese kaum erwarten würden.
Die meisten von uns machen religiöse Erfahrungen, wann und wo wir sie am wenigsten erwarten würden; und in Umgebungen, worin wir sie erwarten, werden wir gewöhnlich diesbezüglich enttäuscht. Hier folgt ein autobiografisches Gedicht ‹Vacillation, IV› über ein Erlebnis, das Yeats in einem Londoner Kaffeehaus widerfuhr. Er beschreibt es folgendermaßen:
‹Mein fünfzigstes Jahr war gekommen und gegangen.
Ich saß als einsamer Mensch
in einem überfüllten Londoner Kaffeehaus,
vor mir auf der marmornen Tischplatte
ein offenes Buch und eine leere Tasse.
Ich saß da und starrte auf die Straße hinaus,
als plötzlich mein ganzer Körper zu glühen begann,
und zwanzig Minuten lang oder auch mehr
erfüllte mich ein derartiges Glück,
dass ich Segen verspürte und zu segnen vermochte.›[1]
Was passierte da also? Er sagt überhaupt nichts über sein Verstehen oder seine Gedanken; vermutlich dachte er in diesem Augenblick überhaupt nichts. Aber sein Körper glühte mit dieser bebenden Lebendigkeit der Achtsamkeit, die so weit über alles Denken hinausgeht. Sein Körper glühte! Das haben auch wir schon alle erfahren, oder jedenfalls etwas Ähnliches. Er sagt: Es ‹erfüllte mich ein derartiges Glück, dass ich Segen verspürte und zu segnen vermochte›; dass er also etwas empfing, das er als ‹Segen› bezeichnet ‒ was ja bezeichnenderweise ein religiöser Begriff ist ‒ und das er weitergibt. So fließt also etwas durch ihn hindurch, und das ist dieser Geist, der durch ihn hindurchfließt.»
2. Wie uns «dankbar leben» heil und gesund macht (2011) und Mitschrift:
(00:00) Freudig lebendig, gesund und heil in Beziehungen]
________________________________
[1] «My fiftieth year had come and gone,
I sat, a solitary man,
In a crowded London shop,
An open book and empty cup
On the marble table-top.
While on the shop and street I gazed
My body of a sudden blazed;
And twenty minutes more or less
It seemed, so great my happiness,
That I was blessed and could bless.»
Lebensthemen und Schlüsselbegriffe von David Steindl-Rast OSB
Anlässlich Bruder Davids 96. Geburtstag entsteht hier eine Online-Anthologie zu Texten, Audios und Filmen von und mit David Steindl-Rast OSB.
«Wir horchen hin auf das Wort, das uns jeder Augenblick des Lebens zuspricht. Es gibt uns. Es gibt.» (David Steindl-Rast OSB)
Diese Anthologie ist Copyright-geschützt ©BibliothekDSR
Lebensvertrauen
Text, Videos und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Mir wird immer klarer: Alles hängt von einer Entscheidung ab: Lebensvertrauen oder Lebensfurcht.
Aber fast tatsächlich erschüttert irgendetwas mein Vertrauen.
Was soll ich dann tun?
Ich will mir bewusst machen, auf wie vieles
ich mich immer noch vertrauensvoll verlasse,
ohne es zu beachten ‒ Atmung, Verdauung, Blutkreislauf;
Stromnetz, Verkehrsnetz, Lebensmittelversorgung …Mein schlafwandlerisches Vertrauen auf all dies
will ich mir heute bewusst machen und es stärken.In Furcht leben ist ja ärger als alles, was ich befürchten könnte.
Dir will ich also vertrauen, Du mein Leben.
Amen»
[Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019): ‹85 ‒ Lebensvertrauen›, 94]
[Ergänzend:
1. LEBENSVERTRAUEN, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 146:
«Lebensvertrauen ist unsre angeborene Grundhaltung. Misstrauen hingegen erlernen wir erst später und es bleibt eine intellektuelle Einstellung, die zu unsrem Alltagsverhalten dauernd in Widerspruch steht. Wir vertrauen ja ‒ meist ohne uns dessen ausdrücklich bewusst zu sein ‒ den Lebensvorgängen, ohne die wir keinen Augenblick weiterleben könnten. In einer solchen inneren Zerrissenheit zu leben, das kann uns krank machen. Vernünftiges Lebensvertrauen nimmt die vielen Beweise, die uns unsre physische Lebendigkeit von der Vertrauenswürdigkeit des Lebens liefert, ernst und baut darauf auf.
Wenn das Leben sich in den Bereichen von Atmung Stoffwechsel oder Blutkreislauf so verlässlich erweist, sollten wir uns dann nicht in allen Bereichen mehr auf die Weisheit des Lebens verlassen als auf unser begrenztes Wissen?
Wir dürfen vertrauen, dass uns alles, was das Leben uns bringt, zum Besten gereicht, auch wenn das im Augenblick nicht so offensichtlich ist.
Rückblickend können wir feststellen, dass die weisesten Entscheidungen vom Leben getroffen wurden, nicht von uns selbst.»
2. Filme
2.1. Filminterview Was am Ende wirklich zählt (2022) und Transkription, 2f.:
(05:58) Isha Johanna Schury: «Wie können wir denn das Vertrauen in uns finden, wenn wir’s nicht spüren, wenn wir das Gefühl haben: Ach, wir haben die Verbindung zu diesem Vertrauen gar nicht so richtig. Wo können wir das denn finden?»
David Steindl-Rast: «Für viele Menschen ist das eine große Schwierigkeit. Weil es ihnen vielleicht genommen wurde durch schwere Erlebnisse und so. Aber wenn wir zurückschauen auf unser Leben ‒ und dazu brauchen wir gar nicht so besonders alt sein, wenn wir zurückschauen auf unsere Lebenserfahrungen, dann sehen wir, dass auch das Schlimmste, das uns zugestoßen ist, von dem wir gedacht haben: Also das ist jetzt wirklich das Ende und das ist nur schrecklich, dass auch das immer zum Besten war.
Also, dass Leben auch aus den größten Schwierigkeiten immer das Beste hervorbringt.
Ich habe das schon öfters erlebt, dass, wenn man Menschen einlädt, einmal zurückzuschauen und zu sehen, ob sich das in ihrem eigenen Leben bewahrheitet, dann alle sagen, auch die jungen: ‹Ja das ist schon eigentlich wahr, auch was mir die größten Schwierigkeiten gemacht hat, wurde schließlich doch eine Quelle neuen Lebens und neuer guter Erfahrungen›.
Dass wir aufs Leben vertrauen können und dürfen, ist eine Lebenserfahrung. Wenn wir nur still werden und darüber nachdenken.
Außerdem kann man sich auch fragen: Wenn ich ohne Lebensvertrauen lebe, was ist dann das Gegenteil?
Es ist Furcht. Es ist beständige Furcht. Das ist ja kein Leben. Das ist ja wie Tod, so hinzuleben, so mit ständiger Furcht.
Und leider leben viele Menschen mit dieser Furcht. Und darum ist es eine ganz wichtige Aufgabe, auch eine Aufgabe für ältere Menschen, den jüngeren Lebensvertrauen irgendwie zu vermitteln.
Das meiste vermittelt man durch sein Beispiel natürlich. Aber auch es verständlich zu machen, darin sehe ich auch für mich eine große und wichtige Aufgabe.»
2.2. Bruder David im Film Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019); Mitschrift des Vortrages, 1:
«Herzlichen Dank für die Einladung, ein paar vorbereitende Worte zu sprechen.
Und vielleicht sollten wir anfangen mit uns selber, sozusagen, jede und jeder von uns:
Was haben wir mitgebracht? Was bringen wir?
Was kann ich sicher sein, dass jede und jeder von Euch jetzt mitgebracht hat?
Und das Wort, das ist ein ganz wichtiges Stichwort, ist Lebensvertrauen ‒ Lebensvertrauen.
Wenn wir nicht Vertrauen ins Leben hätten, wären wir nicht hierhergekommen. Und dieses Lebensvertrauen wird durchwegs ganz was Wichtiges bleiben, denn Dankbarkeit ist ein Ausdruck des Lebensvertrauens, und eine Methode, das Lebensvertrauen immer wieder zu stärken.
Also es geht von Anfang bis Ende um Lebensvertrauen und das habt Ihr schon mitgebracht, das ist schon da.
Allerdings dieses Lebensvertrauen hat verschiedene Grade. Und vielleicht können wir uns jetzt fragen ‒ könnt Ihr Euch selber fragen:
Wo ist denn jetzt ungefähr der Temperaturstand meines Lebensvertrauens?
Null, Gefrierpunkt ist es sicher nicht, Siedepunkt wahrscheinlich auch nicht, also wo liegt es ungefähr?
Ihr braucht es nicht den andern sagen, aber es ist ganz gut, es selber zu wissen:
Wo stehe ich jetzt ungefähr in meinem Lebensvertrauen?»
3. Audios
3.1. Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung»
Zweites Kamin-Gespräch mit David Steindl-Rast:
(22:09) ‹Du sagst Glaube, aber man könnte ebenso gut Lebensvertrauen sagen, es geht genau um dasselbe› ‒ Lebensvertrauen, ein kostbares Gut
3.2.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(12:18) «Religiöser Glaube ist radikales Vertrauen aufs Leben. Das ist ein Akt, wir müssen uns dem anvertrauen. Wenn wir uns nicht anvertrauen, haben wir nicht das richtige Verhältnis zum Leben. Wir können wählen. Wir können uns dem Leben anvertrauen oder nicht.»
3.2.2. Interreligiöser Dialog (2014)
Gespräch, Fragen nach dem Vortrag:
(00:49) «Wenn ich mir vorstelle: Menschen, die jetzt in Irak oder in Syrien leben ‒ ich habe selbst Freunde dort, die all dieses Schreckliche erleben: Wie soll ich denen dann sagen: Vertraut, habt das Urvertrauen, die Verlässlichkeit in die Dinge, wenn so schreckliche Dinge passieren?»
Bruder David: «Ich glaube, das ist eine Frage, die sich vielen von uns stellt und daher bin ich sehr dankbar für die Frage. Wenn wir uns in einer solchen ganz schrecklichen Situation befinden ‒ und ich bin unter Hitler aufgewachsen, unter fallenden Bomben und alle unsere Freunde sind immer eingezogen worden und waren wenige Monate später tot. ‒ Ich habe solche Sachen erlebt:
Wenn wir mitten in einer solchen Situation sind, löst sich das ganz von selbst: Wir haben spontan Vertrauen aufs Leben.
Nicht: Ich vertraue dem Polizisten, oder dem Mann, der da aggressiv wird oder so: Das heißt’s nicht. Aber in dem Augenblick, wo ich mit dieser Aggression konfrontiert bin, vertraue ich ganz spontan aufs Leben.
Das Leben in uns ist so stark, dass es das einfach tut. Und je schwieriger die Umstände werden, um so leichter fällt es uns, wir haben gar keine Zeit, drüber nachzudenken. Es tut sich einfach.
Und wir kennen aus andern, weniger dramatischen Umständen, dass man manchmal, wenn man nicht Zeit hat zu überlegen, das Richtige tut und wenn jemand fragt: ‹Wie hast du denn das gemacht›? ‒ ‹Ich habe gar keine Zeit gehabt, mir zu überlegen, es hat sich einfach getan.›
Und diese Dinge, die sich so einfach tun, die sind das Richtige.
Und wenn wir in so ganz schwierigen Situationen sind, fließt das so durch uns durch.
Beweisen kann man es natürlich nicht, und ich hoffe, dass Sie nie in einer Situation sein werden, wo Sie‘s erleben, aber wer es erlebt hat, wer solche, ganz schwierige Situationen erlebt hat, der weiß: So geht’s. Das Leben in uns ist so stark, dass es dieses Vertrauen hat und das Vertrauen erfüllt wird.»
3.3. Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (Mitschrift) (2010), 9:
(43:06) Wir können von den Glaubenssätzen der Religionen zum Urglauben vorstoßen?
«Und dieser Urglaube ist das Vertrauen auf das Leben.
Das ist uns eingegeben. Das haben wir als Menschen.
Wir vertrauen dem Leben. Ob wir jetzt Buddhisten, Christen, Hindus, Atheisten, Agnostiker sind, alle ‒ jeder Mensch ‒ hat dieses tiefe Vertrauen auf das Leben, als Mitgift.
Und dieses Lebensvertrauen, das ist der Urglaube.
Manchmal wird dieser sehr schwach, wenn wir enttäuscht sind, wenn unser Vertrauen enttäuscht wird, im Laufe des Lebens. Das kann große Schmerzen und Verhärtungen geben.
Aber tief im Innersten haben wir alle diesen Glauben. Und dieser Glaube hat Kraft und Wärme genug, um das Eis der ‹–ismen› (Dogmatismus, Ritualismus, Moralismus) zu schmelzen.»
3.4. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(23:13) «Das Wachstum des Glaubenslebens ist eine durch Krisen fortschreitende Verinnerlichung.»
(23:31) «Um den Glauben beten ist ganz entscheidend, aber wir sollen das nicht missverstehen als beten, etwas glauben zu können, sondern um den Glauben beten heißt in erster Linie: um Lebensvertrauen, um Gottvertrauen, um Vertrauen zu beten.
Wir beten um größeres Vertrauen und dieses Gebet wird immer sofort erhört, denn dieses Gebet ist schon die Geste, mit der wir uns dem Vertrauen öffnen.
Wir können nicht um Vertrauen beten ohne Vertrauen zu haben, dass das Vertrauen uns geschenkt wird. Diese Art von Gebet erfüllt sich gleich.
Aber es ist doch notwendig, immer wieder stehen zu bleiben und unser Herz in dieser Richtung zu öffnen.
Um Glauben beten, das ist ungeheuer wichtig. Wir vergessen das oft. Bis wir unten durch sind, und plötzlich wachen wir dazu auf.»]
Lebensvertrauen und Dankbarkeit
Interviews von Br. David Steindl-Rast OSB
Alfred Fiedler: «Ein zentrales Thema in deinem Leben und Wirken nimmt die ‹Dankbarkeit› ein. Du hast auch ‹Dankbarkeitskreise› ins Leben gerufen. Erst vor kurzem schwärmte eine Bekannte, Sibylle Eisenburger, davon, die von dir inspiriert, selbst Dankbarkeitskreise ins Leben ruft. Sie lässt dich auch herzlich grüßen.
Bruder David: «Aha. Ich freue mich immer, wenn ich so höre von diesen Dankbarkeitskreisen an verschiedenen Orten.»
Bernhard Marckhgott: «Dieses Wort DANKE, was macht das mit den Menschen? Dass du so daran glaubst, an diese Heilsamkeit oder Wirksamkeit? Das Positive dieses Wortes DANKE – Wie bist du zu dieser Einsicht gekommen?»
Bruder David: «Es geht gar nicht um das Danke sagen. Das ist einfach eine Frage der Höflichkeit. Es geht um eine Lebenshaltung der Dankbarkeit. Und um über diese zu sprechen, muss man beim Vertrauen beginnen, und zwar vom Lebensvertrauen. Für unsere Großeltern hat es Gottesvertrauen geheißen, für uns heißt es heute Lebensvertrauen. Da ist wirklich kein Unterschied, vom christlichen Standpunkt aus: Gott ist der Gott des Lebens. Ob man es dann Lebensvertrauen nennt oder Gottvertrauen, ist egal. Ich fasse es lieber unter Lebensvertrauen zusammen, weil das Wort Gott sehr missbraucht wird und missverstanden wird. Und Lebensvertrauen fehlt sehr vielen Menschen heute. Sie haben Angst.
Bernhard Marckhgott: «Und wie soll man das Wort Gott verwenden?»
Bruder David: «Es ist nicht notwendig. Es kommt nicht darauf an, jemanden zu überzeugen, diese oder jene Sprache zu verwenden. Es kommt nur darauf an, eine Haltung zu erlernen und zu vermitteln. Die Haltung ist die des Vertrauens, und ich beginne eben mit Lebensvertrauen, weil man darüber mit jedem Menschen sprechen kann, ob die jetzt Gott sagen wollen oder nicht.
Über Lebensvertrauen kann man mit jedem Menschen sprechen. Und man kann jedem Menschen zeigen, dass die einzige vernünftige Haltung eines Menschen das Lebensvertrauen ist. Vernünftig! Denn jeden Augenblick, jede Sekunde erneuern sich 2 Millionen roter Blutkörperchen in unserem Körper. Jede Sekunde: 2 Millionen sterben und 2 Millionen entstehen. Kein Wissenschaftler kann überhaupt ein rotes Blutkörperchen bis zur letzten Einzelheit darstellen, geschweige denn herstellen. Und das ist nur eine von tausenden von Funktionen, die in uns walten.
Es ist viel richtiger zu sagen, das Leben lebt uns, als zu sagen, dass wir das Leben haben. Das Leben lebt uns und wir tragen Verantwortung. Und aus diesem Lebensvertrauen, also wenn ich dem Leben vertraue, muss ich auch dem anderen Menschen vertrauen. Das Leben schickt mir ja den anderen Menschen.
Daher kommt als nächster Schritt: Jeden Augenblick hinhorchen. Jeden Augenblick hat das Leben eine Gabe für mich. Und du fragst dich, was schenkt mir jetzt das Leben? Das Leben schenkt mir auch eine Aufgabe! Wenn wir das erfüllen, haben wir alles erfüllt, was die christliche Lehre oder irgendeine andere Religion sich wünschen kann. Und wir haben eine friedliche Welt.
Wir können eine persönliche Beziehung haben zum Leben – das ist sehr geheimnisvoll.
In der christlichen Sprache heißt es:
«In Gott leben, weben und sind wir.» (Apg 17,28)
Zu diesem Leben können wir auch eine persönliche Beziehung haben, wenn wir sagen, das Leben schenkt uns etwas – dann ist das nicht nur eine Vermenschlichung, eine Metapher, sondern es ist wahr – es wird uns wirklich etwas geschenkt. Und dafür steigt in uns eben auch Dankbarkeit auf. Und das ist eine Haltung: Dass man in jedem Augenblick fragt, was schenkt mir jetzt das Leben. Und wenn es ein freies Geschenk ist – darauf zu vertrauen, dass es ein gutes Geschenk ist. Und dann kann ich mir gar nicht helfen, dann bin ich schon dankbar, dann steigt schon die Dankbarkeit hoch.»
Das Geschenk innerhalb von jedem Geschenk ist die Gelegenheit!
Es ist nicht dieses Glas Wasser (zeigt auf das vor ihm stehende Glas Wasser). Dieses Glas Wasser könnte auch da draußen stehen und für mich unerreichbar sein. Es steht aber hier vor mir und ich bin dankbar, dass es hier steht und ich es trinken kann. Für die Gelegenheit bin ich dankbar!
Das einzige Geschenk in jedem Geschenk, wofür man dankbar sein kann, ist immer die Gelegenheit. Gelegenheit – meistens ‒ sich zu freuen. Das übersieht man ganz. Aber wenn man mal einmal damit beginnt, findet man es heraus: 90% der Zeit ist Gelegenheit sich zu freuen. Das ändert das Leben ganz und macht es freudiger.
Das hat man auch schon wissenschaftlich herausgefunden. Dass Menschen, die jeden Tag einen Satz niederschreiben, ein Ding wofür sie dankbar sind, sind gesünder. Wissenschaftlich haben wir diese Belege.
Gelegenheit ist manchmal nicht so leicht zu finden. Wenn ich jetzt vor dem Fernseher sitze und entsetzliche Verbrechen, Krieg und so weiter, sehe, was ist da die Gelegenheit dankbar zu sein? Dass ich darauf aufmerksam gemacht werde, damit schenkt mir das Leben eine Frage oder eine Herausforderung. Das ist die Gelegenheit etwas zu tun. Und wenn ich im ersten Moment denke, ich kann gar nichts tun, dann kann ich mich fragen, was kann ich tun? Das ist auch schon etwas.
Alfred Fiedler: «Dass bereits der Impuls die Gelegenheit für die Frage bietet, was kann ich tun, ist ein bestechender Gedanke.»
[Ein unvergessliches Zusammentreffen (2024): Interview mit Bruder David OSB von Dr. Bernhard Marckhgott und Dr. Alfred Fiedler mit Bruder David]
[Ergänzend:
1. Jeder Augenblick enthält so viele Überraschungen (2019): Interview mit Bruder David von Sabine Schüpbach:
«Es gibt manche Situationen, in denen mir das Lebensvertrauen und die Dankbarkeit schwerfallen. Ich leide öfters unter Atembeschwerden. Nicht frei atmen zu können, ist schon eine Qual. Dann stöhnt der Körper – und er stöhnt nicht ‹danke, danke›. Dann brauche ich eine Weile, um mich zu erinnern: Ich kann ja doch noch atmen, es wird schon wieder werden. Meine Dankbarkeit wird herausgefordert, das gehört wohl zum Leben. Je mehr man aber in Übung ist, umso kürzer dauert die Zeit, bis man im schwierigen Augenblick das Geschenk erkennen kann.
Um dankbar sein zu können, müssen wir uns auf das Leben verlassen. Dieses Vertrauen brauchen wir, um die Gelegenheiten zu ergreifen, die sich uns bieten. Dabei handelt es sich um Gottvertrauen. Aber ich nenne es lieber Lebensvertrauen. Denn viele Leute machen eine Unterscheidung zwischen Gott und Leben. Sie betonen, sie hätten Gottvertrauen, beklagen sich aber über ihr Leben. Dabei ist genau das Leben, das sie so schrecklich finden, der Ort der Begegnung mit Gott. Wie Paulus sagt: «In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir» (Apostelgeschichte 17,28).
Sind Gott und Leben für Sie ein und dasselbe?
Gottes Wirklichkeit geht unendlich über alles hinaus. Aber wir erleben Gottes Gegenwart nicht anders als durch unsere Lebensumstände. Die Idee, dass ein Gott hoch oben im Himmel sitzt, ist keine christliche Vorstellung. Was wir ‹Leben› nennen, ist unsere Gottesbegegnung – Augenblick für Augenblick. Darauf gilt es zu vertrauen.
Und wenn das Vertrauen sich nicht einstellt?
Vertrauen ist das Schwerste überhaupt. Darum kommt in der Bibel so häufig der mutmachende Spruch «Fürchte dich nicht» vor – in der Weihnachtsgeschichte rufen ihn die Engel den Hirten auf dem Feld zu. Angst ist unvermeidlich im Leben. Aber wir sollten lernen, nicht mit Furcht darauf zu reagieren.
Wie ist das möglich?
Ich kann mich im Vertrauen üben, dass jeder Tag mir genau das bringen wird, was ich brauche – auch wenn es nicht immer das ist, was ich mir wünsche. Ich persönlich bin dabei dankbar für die Werkzeuge der christlichen Tradition wie etwa Gebete. Aber auch Menschen, die keiner Religion angehören, erfahren immer wieder: Alles, was wir wertschätzen, wird uns vom Leben geschenkt. Wir können lernen, darauf zu vertrauen.»
2. Es geht im Leben darum, unsere Verbundenheit zu feiern (2019): Interview mit Bruder David von Michaela Gründler:
«Das ist die große Entscheidung: Vertraut man jetzt dem Leben oder misstraut man ihm auf Schritt und Tritt? Wenn man ihm misstraut, ist das Ärgste schon passiert. Viel schlimmer kann es ja gar nicht werden. Wenn man hingegen vertraut, ist das der Einstieg zur Beziehung zum großen Geheimnis. Ich verwende daher lieber Lebensvertrauen statt Gottvertrauen, aber es läuft auf ein und dasselbe hinaus.
Weshalb sagen Sie lieber Lebensvertrauen statt Gottvertrauen?
Ich bin sehr vorsichtig mit dem Begriff Gott. Den meisten Menschen in unseren Breiten wird ja schon sehr früh eine falsche Idee von Gott gegeben: die Idee, dass wir von Gott getrennt sind – schon als Geschöpfe, und durch Sünde noch mehr. Unsere angeborene Urreligiosität weiß aber, dass wir dem göttlichen Geheimnis innig verbunden sind.
Auch in der Bibel, wo Paulus zu Griechen in Athen spricht – einfach als Mensch zu Menschen –, da kann er auf nichts zurückgreifen als auf diese allgemein menschliche Religiosität, also sagt er: ‹Eure eigenen Dichter haben es ja schon gesagt: In Gott leben wir, bewegen uns und sind.›
Das ist nicht der Gott, der uns als himmlischer Polizeimann bespitzelt, der Gott, der fern von uns im Himmel thront und uns verurteilt. Dass wir ‹in Gott leben und weben und sind›, (Apostelgeschichte 17:28) ist ein Ansatzpunkt, den heute viele Menschen guten Willens annehmen können.
Wenn man das Lebensvertrauen verliert – wie lässt es sich wiedergewinnen?
Da kommt wieder die Dankbarkeit ins Spiel. Ich spreche dabei aber nicht von Dankbarkeit im Sinne, dass man jemandem für etwas dankt. Falls es in dein Weltbild hineinpasst, Gott zu danken, wunderbar! Aber wenn jemand überhaupt kein Lebensvertrauen hat, ist es besser, zu sagen:
Schau, du kannst atmen. Du kannst sehen. Du bekommst etwas zu essen, das dir schmeckt. Das alles schenkt dir das Leben. Wenn wir dort anfangen, wo wir uns am Leben freuen, dann gibt uns das ein bisschen Lebensvertrauen. Das Leben hält ja doch viel Gutes für uns bereit.»
3. Radikales, mutiges Vertrauen in das Leben (2019): Interview mit Bruder David von Anne Voigt [ebenso: Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017)]:
«Was ist Glaube für Sie?
Glaube ist ein radikales, mutiges Vertrauen in das Leben. Der Glaube an etwas kann aber auch ein Sich-Anklammern sein. Im Deutschen ist es missverständlich: Das Wort ‚glauben‘ bedeutet in der Alltagssprache gewöhnlich, etwas für wahr halten. Der religiöse Glaube wurde dann eben auch sehr häufig als ein Etwas-für-wahr-Halten von Glaubenssätzen verstanden und leider auch so gepredigt. Anstatt sich an Glaubenssätze zu klammern, ist es viel wichtiger, sich vertrauensvoll auf das Leben einzulassen.
Wie geht das, sich aufs Leben einzulassen?
Das Lebensvertrauen wird uns im Normalfall geschenkt. Erweist sich die Umwelt eines Babys als vertrauensvoll, vor allem die Mutter, ist eine Voraussetzung bereits erfüllt.
Der zweite Pfeiler ist, dass die Umwelt einem Menschen früh Vertrauen schenkt. Wenn sich jemand mir gegenüber als vertrauenswürdig erweist, darf ich mich verlassen. Und wenn mir Vertrauen geschenkt wird, kann ich mich finden. Bei einem Menschen, der diese beiden Erfahrungen schon sehr früh erlebt hat, ist das eine sehr gute Grundlage.
Hatten Sie dieses Glück?
Ich muss dankbar zugeben, dass mir das sehr früh geschenkt wurde. Das Leben bringt uns aber immer wieder in Schwierigkeiten und macht uns Angst. Es ist sehr schwierig, sich in solchen Momenten nicht zu fürchten und durch diese Ängste ins Weite zu gehen. Jeder kennt solche Situationen und jeder reagiert anders, da gibt es psychische und psychophysische Prägungen. Ich bin persönlich depressiv veranlagt.
Sie haben Depressionen?
Ich habe immer wieder Depressionen, zum Glück meistens nur sehr kurze. Das sind schon große Belastungsproben für das Lebensvertrauen. Aber worüber man mit jedem sprechen kann und sollte, ist die Frage:
Was ist die Alternative zu Lebensvertrauen. Lebensangst?
Solange wir nicht durch psychophysische Belastungen eingeschränkt sind und eine Wahl haben, kann man immer wieder nur sagen: So schlimm es auch ist: Mit Lebensvertrauen auf schwierige Situationen zuzugehen hat mehr Chancen und ist viel angenehmer, als Lebensangst zu haben.»
4. Lebensquell und Schale (2017): Interview mit Bruder David von Heinz Niederleitner:
«Die Unzufriedenheit, die wir empfinden, hängt damit zusammen, dass wir dem Leben nicht vertrauen; wir bezweifeln, dass es uns genug gibt. Wir wollen immer etwas anderes oder mehr. Dabei gehört es ganz wesentlich zum Lebensvertrauen, daran zu glauben, dass uns das Leben immer gibt, was wir brauchen.
Zum Lebensvertrauen, das ja dasselbe ist wie Gottvertrauen, gehört die Kreativität im Vertrauen darauf, dass ich aus meinem Leben etwas machen kann.
Das Leben bietet mir immer die Gelegenheit, etwas daraus zu machen, es zwingt mich nicht.
Aus dem Augenblick etwas zu machen, ist viel mehr als sich einfach mit ‹Zwängen des Lebens› zu arrangieren. Das ist keine kreative Lösung.
Lebensvertrauen heißt ja auch, dass das Leben mich nicht zwingt, sondern, dass es mir Gelegenheit anbietet.»
5. Zeit ohne Druck (2017): Interview mit Bruder David von Heinz Niederleitner:
«Zum Lebensvertrauen gehört das Vertrauen, dass das Leben mir immer genug schenkt.
Zeit ist ein ganz wichtiges Element, das uns geschenkt wird.
Deshalb ist es ein ganz wichtiger Aspekt des Lebensvertrauens, sich darauf zu verlassen, dass das Leben mir immer genügend Zeit schenkt – auch wenn es nicht so ausschaut. Und warum schaut es nicht so aus? Weil ich etwas anderes will, als das Leben mir gibt.
Natürlich darf ich mir wünschen, für dieses und jenes mehr Zeit zu haben. Aber das Gefühl, dass nicht genug Zeit da wäre, darf ich ersetzen durch vertrauensvolles Ausnutzen der Gelegenheit, die das Leben mir jetzt schenkt.
In jedem Augenblick kann ich schauen, wie ich ihn so verwenden kann, dass ich auch das bekomme, was ich mir erträume und wünsche.
Dabei werde ich unter Umständen draufkommen, dass es mir möglich ist, etwas weniger zu schlafen.
Unter anderen Umständen ist es notwendig, etwas mehr zu schlafen.
Wenn ich eine halbe Stunde früher aufstehe, habe ich vielleicht Zeit für das, was ich mir wünsche; oder wenn ich das auslasse, was mir nicht so wichtig erscheint, bietet mir das Leben die Gelegenheit, stattdessen etwas zu machen, was mich wirklich freut.
Wir können uns eine Wertordnung setzen: Wie will ich die Zeit nutzen, die mir das Leben schenkt?»]
Leiden – Kreuz tragen
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
In meiner Kindheit und Jugend hörte ich oft den Ausdruck, der oder die «hat ein schweres Kreuz zu tragen». Die Vorstellung, dass wir Jesus, unser eigenes Kreuz tragend, nachfolgen können, entstand sehr früh in den christlichen Gemeinden und kam schon in den Evangelien zu Wort. So sagt Jesus im Markusevangelium: «Wer mein Jünger sein will, der sage sich von seinem Ich los, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach» (Mk 8,34).
Dem Weg Jesu zu folgen konnte im Römerreich zur Zeit, als Markus schrieb, tatsächlich zum Kreuzestod führen. Für zahllose Christen aber, die im Lauf der Geschichte mit Mut, Geduld und Liebe ihr «Kreuz» trugen, hatte dies nichts mit den Anschuldigungen zu tun, derentwegen Jesus gekreuzigt worden war.
In welchem Sinne kann ich im 21. Jahrhundert vom Kreuztragen sprechen, wenn es etwa darum geht, den Kürzeren zu ziehen, weil ich aufrichtig bin, mich für alternde Eltern aufzuopfern, oder mich mit einer schweren Behinderung durchzuschlagen?
Worin besteht da die Verbindung zwischen meinem «Kreuz» und dem, an dem Jesus gekreuzigt wurde?
Was die beiden verbindet, ist Treue. Jesus wurde gekreuzigt, weil er tat, was Treue zu Gott von ihm verlangte. Wenn auch ich das tue, dann sind wir ans gleiche Kreuz genagelt, wie verschieden unsere Lebensumstände auch sein mögen.
Jesus wollte sein Kreuz ebenso wenig wie ich es will. Das Kreuz, das wir uns selber auswählen, ist nicht das wahre Kreuz. Was wir wählen, ist Gott treu zu bleiben, was es auch koste, und das «Kreuz» versinnbildet den Preis, den wir dafür bezahlen müssen. Auf dem Ölberg betete Jesus ja selber um eine billigere Lösung: «Vater, wenn es möglich ist …» Er rang sich aber durch, bis er sagen konnte: «Dein Wille geschehe» (Lk 22,42).
Indem sie die gleichen Worte im Vater Unser beteten, haben Christen immer wieder Groll und Bitterkeit überwunden und den «Frieden Gottes» gefunden, «der alles Begreifen übersteigt» (Phil 4,7).
Wir können diesen Frieden an einer tiefen Freudigkeit erkennen, die mit Leid und Schmerz vereinbar ist. Sie steigt in uns auf, sobald wir den inneren Widerstand aufgeben und nüchtern zugeben: Was ist, ist.
Das bedeutet nicht Resignation, sondern genau das Gegenteil. Wenn wir die gegebene Lage als gegeben (dankbar) entgegennehmen, wird plötzlich Energie verfügbar, die wir bisher an unseren Widerstand vergeudeten. Darum sind wir jetzt imstande, aus unserer Lage etwas zu machen ‒ und oft erstaunlich mehr, als wir uns zugetraut hätten.
Solange ich mich erinnern kann, stand auf dem Schreibtisch meiner Mutter eingerahmt der Spruch:
«Das sind die Starken im Land,
die unter Tränen lachen,
ihr eigenes Leid verbergen
und andere glücklich machen.»[1]
Ich kann mich so gut daran erinnern, weil unsere Mutter uns das vorlebte. Menschen, die so leben, die drückt ihr Kreuz nicht nieder, es «erhöht» sie vielmehr, hebt sie über ihr kleines Ich hinaus und gibt ihnen den Halt, den sie brauchen, um Andere zu stützen.
Unser Ich ist es ja, von dem wir uns «lossagen» müssen, um das Kreuz Jesu Christ auf uns zu nehmen.
Schmerz lässt sich im Leben nicht vermeiden, aber es gibt viel Leid, das vom inneren Widerstand gegen den Schmerz kommt und dieses Leid können wir vermeiden.
In geduldiger Liebe freudig unser «Kreuz zu tragen» ist in der christlichen Tradition der Weg, das Leid zu überwinden.
In eine christlich-katholischen Familie hineingeboren und so aufgewachsen, kritisierte der große Mythenforscher Joseph Campbell (1904-1987) vernehmbar und unverblümt die Überbetonung von Schmerz und Leid, die sich in den Kirchen breitgemacht hatte. In seinen Forschungen zur Sakralkunst wies er auf masochistische Aspekte der Kreuzverehrung hin. Kurz vor seinem Tod wurde er in ein katholisches Spital eingeliefert. Wie mir seine Witwe, Jean Erdman, erzählte, hing da seinem Bett gegenüber ein für ihn ungewöhnliches Kruzifix an der Wand ‒ eine moderne Darstellung des siegreichen Christus, der mit ausgebreiteten Armen nicht so sehr ans Kreuz genagelt ist, als vom Kreuz aus die ganze Welt umarmt. Voll Freude rief Joseph Campbell bei diesem Anblick aus: «Das ist das Kruzifix, das ich mein Leben lang zu sehen hoffte!»
Und du? Welche Darstellung des Gekreuzigten ‒ wenn überhaupt eine ‒ spricht dich persönlich an?
Erinnere dich, dass die Kirche während der ganzen ersten Hälfte ihrer bisherigen Geschichte kein Kruzifix kannte, sondern nur das von Juwelen strahlende kosmische Kreuz ‒ ein Kreuz mit vier gleichlangen Armen; eine Kompass-Rose zur Orientierung auf dem Lebensweg.
Vergiss auch nicht, dass Matthias Grünewald den Isenheimer Altar für ein Spital malte, in dem am Antoniusfeuer Erkrankte, betreut wurden. Extreme Schmerzen leidende, verstümmelte und durch stinkende Wunden gedemütigte Menschen waren es, für die der Künstler seinen gemarterten Christus am Kreuz in so abstoßenden Einzelheiten darstellte. Sie blickten zum Gekreuzigten auf und sahen Gott ihr eigenes Leid tragen. Als «quasi medicina» galt darum damals diese Art von Andachtsbild; es heilte innerlich, auch wenn es äußerlich nicht kurieren konnte. Was hilft dir auf ähnliche Weise?
Wir alle haben ja das Recht und die Chance, in der religiösen Kunst das zu finden, was uns hilft. Aber noch überzeugender kann mitmenschliches Beispiel wirken. Weißt du von Zeitgenossen, die Jesus Christus so begeistert nachfolgten, dass sie auf ihre eigene Weise gekreuzigt wurden?
Pater Maximilian Kolbe (1894-1941) zum Beispiel nahm im KZ Auschwitz freiwillig den Platz eines Mitgefangenen ein, eines zum Hungertod verurteilten Familienvaters, und starb an seiner Stelle.
Was bedeutet es für dich persönlich, dein «Kreuz» zu tragen?
Unterwelten, Höllen und Totenreich sind uns näher, als wir wahrhaben möchten. Und was soll uns die Höllenfahrt Jesu Christi sagen, wenn wir nicht bereit sind, mit ihm auch dorthin zu gehen?
Im Credo bekennen wir gläubig, dass Gottes liebende Gegenwart auch im Reich des Todes gefunden werden kann. Wer soll aber Gottes Abgesandter sein? Wer soll seine Botschaft auch in die Hölle bringen, wenn du und ich es nicht tun?
Eine Frau, die ich liebe und bewundere, eine Persönlichkeit von internationalem Ansehen auf ihrem Fachgebiet, schickt mir jedes Jahr zu Beginn der Fastenzeit ihre Vorsätze bezüglich des Betens, Fastens und Almosengebens. Einmal schrieb sie:
«Um es etwas wärmer und persönlicher zu machen, werde ich heuer mit den Obdachlosen auf der Straße sprechen und sie umarmen, bevor ich ihnen Geld gebe.»
Und wie hältst du es? In welchem Reich des Todes kannst du Botschafter werden für Gottes Liebe?
Heruntergekommenen Ehrfurcht erweisen und ihnen so Würde und Selbstvertrauen zurückgeben, ist nur einer von vielen Wegen. Gibt es in deiner Nähe vielleicht ein Altersheim, in dem jemand von Kindern oder Enkelkindern vergessen und vernachlässigt lebt?
Welcher kurze Besuch oder Telefonanruf könnte für dich heute zur Höllenfahrt werden, für ein Kind Gottes aber ein Sonnenstrahl in der Finsternis?
Immer wieder muss ich staunen über die Flut der Freude, die nur darauf wartet, in unser Herz zu fließen, sobald wir eine gewisse soziale Berührungsangst überwinden und unsere Scheu vor Tod und Leiden ablegen.
Matthias Claudius (1740-1815) wusste um diese wahre Freude:
«In uns ist zweierlei Natur,
Doch ein Gesetz für beide;
Es geht durch Tod und Leiden nur
Der Weg zur wahren Freude.»[2]
[Credo (2015): ‹Gekreuzigt› ‒ ‹Persönliche Erwägungen›, 114-116, und ‹Hinabgestiegen in das Reich des Todes› ‒ ‹Persönliche Erwägungen›, 147f.]
[Ergänzend:
1. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(59:00) Die Kreuzigung nicht suchen, aber auch nicht scheuen
2. Die Crux gemmata; siehe auch Kreuz ‒ Sinnbild: Ergänzend: 1.:
Audio Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 4 ‒ Nachmittag
‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
Gespräch: (01:08:24) Die Crux gemmata, das mit Edelstein geschmückte kosmische Kreuz im Vergleich zum Isenheimer Altar
Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Teil 1:
(21:55) Der Auferstandene trägt nicht Narben, sondern freudenstrahlende Wunden: Ursprünglicher Sinn der Kreuzenthüllung und Ausklang mit Glockengeläut]
______________
[1] Franz Grillparzer: «Das sind die Starken, / die unter Tränen lachen, / eigene Sorgen verbergen / und andere glücklich machen.»
[2] Matthias Claudius: ‹Sterben und Auferstehn›
Leiden als Mitleiden
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
(Audio 18:53): Bruder David liest aus seinem Buch zum Daodejing des Laozi Der Fließweg (2024) seine Erwägungen zum Spruch 71:
«Vom Nicht-Wissen
wissen
ist Erleuchtung
vom Nicht-Wissen
nicht wissen
ist Leiden
am Leiden leiden
hebt Leiden aufWeisheit ist
nicht leiden
am Leiden»
«Was dem Leiden ein Ende macht, wollen wir wohl alle wissen. Hier erfahren wir allerdings nicht, was es beendet, sondern was es ‒ in dreifachem Sinne ‹aufhebt›.[1]
‹Am Leiden leiden
hebt Leiden auf›:
hebt es
1. auf eine neue Verständnisebene: Es wird zu Anstoß, das Leid aller Wesen zu lindern;
2. beendet es ein passives Erleiden, denn es wird zum Mitleiden;
3. bewahrt es als aktives Mitleid. Leid ‒ als Mitleid ‒ gehört zum vollen Lebendigsein.»[2]
Das Wort «Erlösung» täuscht uns allzu leicht darüber hinweg, dass es dabei um Befreiung geht. Jesus hat wegen seines Eintretens für Befreiung gelitten, und alle, die im Lauf der Geschichte in seiner Nachfolge mit ihm leiden mussten, litten um der Befreiung willen.
Freilich ist Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung durch das Machtsystem nur die naheliegendste Form von Befreiung, die notwendig ist. Das Machtsystem selbst ist ja nur das offensichtlichste Krankheitssymptom der ver-rückten Welt, die wir hervorbringen, wenn wir unser Selbst vergessen und uns mit unserem Ich identifizieren, das vom Selbst, von der Mitwelt und so von Gott entfremdet ist. Befreiung von dieser Entfremdung beendet alles Leid.
Tiefes Mitgefühl lässt jene, die Befreiung von Selbstentfremdung erlangt haben, das Leid all derer teilen, die sich noch um Befreiung mühen. Diese «Bodhisattvas» ‒ wie Buddhisten sie nennen ‒ erreichen die Schwelle höchster Seligkeit, kehren aber um, weil sie an Befreiung (Erlösung) mithelfen wollen bis auch die Verstricktesten endlich befreit sind.
Wie tief sie auch aus Mitgefühl ins Leiden hinabsteigen, sie strahlen doch immer die Freude aus, die sie schon verkostet haben. Die Archetypen von Christus und Bodhisattva treffen da zusammen.
Viele, die Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama begegnen ‒ und nicht nur Buddhisten ‒ fühlen sich wie in der Gegenwart eines Bodhisattvas. Auch mir ging es so, als mir vor vielen Jahren zum ersten Mal gegönnt war, ihm zu begegnen. Das war im Green Gulch Zen Zentrum bei San Francisco, wo ihn bei seinem ersten Besuch in Kalifornien eine kleine Gruppe begrüßte.
Ein Teilnehmer benützte diese Gelegenheit um die buddhistische Tradition gegen die christliche auszuspielen. «Buddhisten lehren den Weg, die Leiden zu überwinden», bemerkte er. «Was hat Ihre Heiligkeit da den Christen zu sagen, die sich jetzt schon zweitausend Jahre lang im Leiden suhlen?»
(So etwa lautete die Frage; die Antwort schien mir so wichtig, dass ich sie mir ganz genau merkte.) «Schon gut, schon gut», sagte S.H. der Dalai Lama, «aber wir dürfen nicht vergessen, dass nach buddhistischer Lehre das Leiden nicht dadurch überwunden wird, dass man die Schmerzen einfach hinter sich lässt, sondern dadurch, dass man sie um anderer willen auf sich nimmt.»
In so wenigen Worten vermochte dieser große Lehrer eine Überzeugung auszudrücken, in der Buddhisten und Christen übereinstimmen.
Was immer deine persönlichen Umstände sein mögen: kannst du dich an eine Gelegenheit in deinem Leben erinnern, bei der jemand mit so großer Liebe Schmerzen erlitt, dass dadurch Leid überwunden wurde?
Mütter werden an Geburtswehen denken, Lehrer werden sich vielleicht daran erinnern, wie viel seelisches Leid überwunden werden kann, wenn wir es aus Liebe zu unseren Schülern ertragen. Kennst du aus eigener Erfahrung die Freude, die das Leiden überwindet, wenn wir aus Liebe zu anderen Schmerzen ertragen?
Hast du einmal Bilder von den Demonstrationen gesehen, die Dr. Martin Luther King in Selma, Alabama anstiftete, wo schwarze Bürgerrechtler vom Wasserstrahl aus Feuerwehrschläuchen niedergestoßen und von Polizeihunden angefallen wurden? Hast du selber einmal teilgenommen an einer öffentlichen Protestaktion für Menschenrechte oder für ein ähnliches Anliegen?[3]
In der christlichen Tradition steht nicht das Kreuz am Ende, sondern das Leben. Wie Jesus sagt, ist er gekommen, um das Leben zu bringen, und es in Fülle zu bringen und nicht, um zu leiden und zu sterben.
Er stellt uns aber vor die Entscheidung ‒ weil wir eine Welt geschaffen haben, wo man so gegen den Strom schwimmen muss, um der Wahrheit willen, sogar Leiden auf uns zu nehmen um des Lebens willen.
Jeder, der sich heute entscheidet, lebensspendend und lebensbejahend zu sein und denen, die unterdrückt und ausgebeutet sind in unserer Welt so weit wie möglich Leben zu vermitteln, der wird leiden müssen.
Wenn es uns leidig ist, werden wir es nicht tun. Wenn wir aber bereit dazu sind, werden wir uns dafür entscheiden, auch zu leiden, weil es zu der Erfüllung all dessen beitragen kann, wofür wir als Menschen eintreten.
Die Zukunft, nach der wir uns sehnen, die nicht Untergang und Zerstörung ist, sondern die ein ganz neuer Aufbruch der Lebendigkeit sein kann, wird nur dann zustande kommen, wenn wir bereit sind ‒ wenn es uns nicht leid ist, auch Schwieriges zu erfahren und zu erleiden um dieser Zukunft willen.
Das einzige Bild, das in der gesamten christlichen Tradition immer wieder hinter Leiden steht, ist das Bild der Geburtswehen. Sie werden in der ganzen Bibel kein andres Bild finden. Das ist so typisch für das Durch-Leiden-Müssen, damit neues Leben entsteht.
Wir leben heute in einer Zeit, in der etwas ganz Neues geboren werden will, das göttliche Kind in uns. Uns dafür zu entscheiden, bedeutet leiden, aber in einem sehr positiven Sinn und es ist ganz im Zug der christlichen Tradition, aber doch gegen den Strich dessen, was wir manchmal irrtümlich und leider Gottes daraus gemacht haben.»[4]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-4]
[Ergänzend:
1. Audio Fokus aus «Der Atem der Stille» (DVD 2006), Benediktushof Edition: «S.H. der Dalai Lama, Bodhisattva-Ideal und Rosenkranz»; siehe auch die Transkription des Vortrags, 11f.:
2.1. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); siehe auch Gottvertrauen im Leiden und Sterben: Ergänzend: 2. Audios
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(15:21) Loslassen – Ganz in diesem Augenblick leben – Verlust hat bei schöpferischen Menschen erst das Beste herausgebracht, das Beispiel von Helen Keller / (17:59) Leiden in unserem Herzen aufheben – Das Leben gibt uns nie Aufgaben, ohne uns auch die Kraft zu geben, diese Aufgaben zu bewältigen. Auf diese Kraft können wir uns verlassen
2.2. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); siehe auch die Mitschrift der Diskussion im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens (1992), 39f.
Diskussion:
(24:18) S.H. der Dalai Lama zum Thema Leiden – Das Bodhisattva-Ideal
«Im Zusammenhang von buddhistisch-christlichem Dialog stellt sich die Frage des Leidens, denn Buddha ist zu seiner Lebensaufgabe erwacht, indem er das Leiden sah und einen Weg suchte, es zu überwinden. Der gesamte Buddhismus steht und fällt der Bemühung, das Leiden zu überwinden.
… Ich möchte Ihnen eine kurze Anekdote aus einem Interview mit S.H. dem Dalai Lama erzählen. Ich war bei diesem kleinen Interview, niemand sonst war als Christ gekennzeichnet. Es war kein Grund, warum S.H. der Dalai Lama sich besonders christlich ausdrücken sollte. Immer wieder haben die Leute ihm dort Fragen über den Buddhismus auf Kosten der westlichen Tradition gestellt. Immer wieder hat er diese Fragen genommen und umgedreht.
Zum Beispiel: Was haben Sie zu dem Problem des Krieges zu sagen? Die Christen haben seit Anfang an immer miteinander Krieg geführt. Die Buddhisten habe eine ausgezeichnete Geschichte des Friedens. Darauf hat er gesagt: Es sieht vielleicht manchmal so aus. Aber jede Lehre ‒ die christliche wie die buddhistische ‒ predigt den Frieden. Die Anhänger jeder Lehre führen miteinander Krieg. Buddhisten genauso wie Christen.
Dann kam die Frage auf das Leiden: Die Christen wühlen im Leiden herum und die Buddhisten haben diesen wunderbaren Weg, das Leiden zu überwinden.
Darauf sagte S.H. der Dalai Lama: ‹So einfach ist das nicht. Nach buddhistischer Lehre wird das Leiden nicht dadurch überwunden, dass man Schmerz zurücklässt, sondern dadurch, dass man Schmerzen für andere erträgt ‒ wo nötig.›
Ich könnte mir absolut keine bessere christliche Antwort vorstellen. Das ist im Buddhismus das sogenannte Bodhisattva-Ideal, das unserem Christusbild weitgehend entspricht. Bodhisattva ist ein Buddhist, der bis zur Schwelle der Erleuchtung vorgeschritten ist, bis zum Eingang ins Nirwana, sich dort umdreht und gelobt, nicht einzutreten, bis nicht das letzte Lebewesen auch bereit ist einzutreten, alles durchzuleiden um der anderen willen. Das ist letztlich Barmherzigkeit, Mitleid und Mitfreude.
Je tiefer man eindringt, um so klarer sieht man die Zusammenhänge. An der Oberfläche ist das schwierig und man kann es niemandem zur Last legen, wenn es nicht erkannt wird. Gott sei Dank haben wir in unserer Zeit Gelegenheit, andere Traditionen kennenzulernen. Dabei sehen wir immer wieder, wie wir alle im Tiefsten von demselben Herzen kommen und zu demselben Gott hingehen, denn es gibt nur ein Herz und eine göttliche Wirklichkeit.»
3. Der spirituelle Weg (1996): Zen-Buddhismus und Christentum im täglichen Leben: ein Dialog von Robert Aitken mit David Steindl-Rast, TEIL 2: 9 Kernfragen der Praxis: ‹Schmerz und Leiden› und ‹Das Leid der Welt›, 146f.:
«Ich war einmal in einer Audienz bei S.H. dem Dalai Lama, als man ihn fragte, welcher Unterschied im Umgang mit dem Leiden zwischen dem Buddhismus und dem Westen bestehe. Das war eine von vielen Fragen, die ihm von sehr negativ zu ihrem eigenen Kulturerbe eingestellten Westlern gestellt wurden und die darauf hinausliefen, dass der Buddhismus auf Kosten der christlichen oder im weitesten Sinnen biblischen Überlieferung überhöht wurde:
‹Ihre Heiligkeit, im Buddhismus wird eine wunderbare Überwindung des Leidens gelehrt. Was können Sie zu den westlichen Überlieferungen sagen, die zweitausend Jahre lang im Schmerz gewatet haben?›
Diese Frage konnte ich noch nachempfinden, weil ich, wie gesagt, selbst auch denke, dass Schmerz und Leiden im Christentum übermäßig betont werden, und das für einen ziemlich ungesunden Zug halte.
Wie S.H. der Dalai Lama diese Frage und andere herabsetzende Fragen beantwortete, hat mich tief berührt; er hat sorgfältig darauf geachtet, keine überlegene Stellung des Ostens zu beanspruchen. …
… Dann sagte er: ‹Im Buddhismus wird das Leiden nicht dadurch überwunden, dass man es hinter sich lässt. Das Leiden wird dadurch überwunden, dass der Schmerz um der anderen willen ertragen wird.›
Das ist das Ideal des Bodhisattvas, und meiner Meinung nach ist das auch das letzte Wort, das Christen oder sonst jemand über den Schmerz sagen könnten.
Robert Aitken: «Den Schmerz um der anderen willen ertragen. Und wie wäre den Schmerz m i t den anderen tragen?»
Bruder David: «Mit den anderen. Den anderen, die nicht einmal ‹andere› sind.»
Robert Aitken: «Eben!»
4. Eng ist der Weg (2005):
«S.H. der Dalai Lama antwortete, indem er sagte: ‹So leicht ist es nicht. Leiden wird nicht dadurch überwunden, dass man die Schmerzen einfach hinter sich lässt; Leiden wird überwunden, indem man den Schmerz für andere trägt.› Und dies ist eine von diesen Antworten, welche sowohl christlich wie buddhistisch ist. Es ist eine grundlegende Aussage, die aus der Tatsache kommt, dass die Enge der Pfad ist. »]
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[1] «Aufheben» hat für Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) einen dreifachen Sinn: negieren (tollere) ‒ emporheben (elevare) ‒ bewahren (conservare). Der Begriff ist für Bruder David ein zentraler Schlüsselbegriff für die Paradoxie des Lebens: abnehmen, sterben, loslassen und doch Reifen, Erfüllung, Integration auf einer höheren Ebene; siehe auch Rühmen, Er-innern, Aufheben: Anm. 2; Sterben und Angst: Anm. 6; Heldenmythus, Opfer, Dankbarkeit: Ergänzend: 3.
[2] Der Fließweg (2024): ‹Gedanken zum Daodejing des Laozi›, Innsbruck-Wien, Tyrolia-Verlag 2024: ‹71›, 134
[3] Credo (2015): ‹Gelitten unter Pontius Pilatus› ‒ ‹Persönliche Erwägungen›, 106f.
[4] Mitschrift der Diskussion im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens (1992), 31f.: Bruder David antwortet Dr. Franz-Josef Köb, der Fehlhaltungen im Christentum anspricht: «Ich denke mir, dass in der Religion vieles Schädliches passiert ist.»
Leiden in schwerer Krankheit
Video und Text von Br. David Steindl-Rast OSB
(Video 53:44) Bettina Buchholz: «Nach einundzwanzig mir unendlich lang erschienenen Tagen durfte ich endlich die Isolierstation verlassen. Mein Körper hatte Gottseidank eine Mindestanzahl an gesunden Zellen gebildet. Ich musste jedoch die nächsten acht Wochen zu Hause weiter in vollkommener Abgeschiedenheit leben und spezielle Hygienevorschriften einhalten.
In dieser Zeit las ich Rilke. Auch Bruder David liebt Rilke über alles. Es ist für mich als Schauspielerin jedes Mal eine Freude, ihn Gedichte von Rilke rezitieren zu hören. Du kannst spüren, wie sehr er jedes Wort durchdringt. Meiner Meinung nach ist Bruder David auch ein echter Künstler. Ich lese jetzt einfach mal jene Rilke Stelle vor, die mich in den Wochen der Isolation am meisten ansprach:
‹Wir wissen’s ja oft nicht, die wir im Schweren sind,
bis über’s Knie, bis an die Brust, bis an’s Kinn.Aber sind wir denn im Leichten froh?
Sind wir nicht fast verlegen im Leichten?Unser Herz ist tief,
aber wenn wir nicht hineingedrückt werden,
gehen wir nie bis auf den Grund.Und doch,
man muss auf dem Grund gewesen sein.
Darum handelt sich’s.›[1]
(56:16) Wenn du so viele Wochen abgetrennt bist von fast allem und jedem, dann stellst du dir die Frage, ob es für dich ein gutes Leben überhaupt noch geben kann? Und falls dies doch noch möglich wäre, wie denn so ein erfülltes Leben ausschauen könnte trotz der Isolation der Krankheit und den vielen Krisen, die es gegenwärtig auf dieser Welt gibt?»
Bruder David: «Wie kann ein erfülltes Leben ausschauen? Das ist eine sehr schöne Frage. Ich glaube, das deutsche Wort erfülltes Leben legt die Antwort schon nahe. Sehr oft im Leben haben wir das Gefühl der Leere. Da ist nichts, da fehlt etwas. Und wenn wir krank sind, dann sagen wir: Es fehlt uns etwas. Wenn nichts mehr fehlt, dann ist das Leben erfüllt. Dann ist es voll ‒ die Schale ist voll. Dann will sie überfließen. Und dieses Überfließen ist die Dankbarkeit.»
(57:35) Bettina Buchholz: «Für mich ist das ein sehr schönes Bild, das Bruder David hier in den Raum stellt. Ich wäre gerne öfter so eine volle Schale, die nichts zurückhält, sondern dankbar überfließt. Wahrscheinlich geht es vielen von uns so.
Wenn du so eine anstrengende Krebsbehandlung erlebst, dann ist die Müdigkeit dein ständiger Begleiter. Doch ich wollte Bruder David noch eine allerletzte Frage stellen, obwohl ich ahnte, dass seine Antwort länger und vielschichtiger ausfallen könnte.
Ich hatte sein neuestes Buch mit dem Titel Orientierung finden mit großem Interesse gelesen, aber ich hatte es auf Grund seiner Komplexität nicht ganz verstanden, nicht ganz erfassen können. Also stellte ich ihm zum Schluss die Frage, ob er nicht für mich in ein paar Sätzen zusammenfassen könnte, wie man heute, in dieser so widersprüchlichen Welt, doch noch so etwas wie Orientierung und Erfüllung finden könnte?»
(58:37) Bruder David: «Ich habe ein ganzes Buch schreiben müssen, um das auszudrücken. Aber wenn ich’s in einem Satz zusammenfassen soll, ist: Lebensvertrauen ‒ dem Leben vertrauen. Das Leben ist vertrauenswürdig. Wenn wir dem Leben ‒ das heißt, dem großen Du, dem wir in jedem Augenblick des Lebens gegenüberstehen ‒, wenn wir dem vertrauen, erweist es sich vertrauenswürdig.
Das kann man leicht sagen, glauben kann man es nur, wenn man es ausprobiert. Auch in den schwierigsten Situationen immer wieder dem Leben vertrauen und hinhorchen: Was will jetzt das Leben von mir? Was schenkt mir das Leben? In jedem Augenblick schenkt uns das Leben etwas. Aber diese Gabe ist zugleich Aufgabe. Und das zu üben, immer wieder zu üben, das ist worauf es ankommt im Leben, scheint mir. Man kann es natürlich auch Liebe nennen, aber Liebe ist so ein schwieriges Wort, weil es so viel missbraucht und missverstanden wird. Aber wenn man unter Liebe das gelebte Ja zur Zugehörigkeit versteht ‒
Liebe ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit. Und Liebe ist dann, worauf es im Leben ankommt. Und Liebe bezieht sich auf jeden Menschen, jedes Tier, jede Pflanze, den ganzen Kosmos und letztlich auf das Herz des Ganzen. Denn das Ganze hat ein Herz. Und das erlebt man eben auch nur, wenn man sich darauf verlässt. Aber wenn man sich darauf verlässt, fühlt man den Herzschlag des Universums in unserem eigenen Herzen.»[2]
(01:01:06) Nach dieser intensiven Stunde mit Bruder David verspürte ich trotz meiner Müdigkeit so etwas wie eine aufkeimende Zuversicht, einen wachsenden Mut und ja ‒ auch wieder Lebensfreude. Und ich spürte wirklich so etwas wie den Herzschlag des Universums in mir. Dies alles möchte ich in mir bewahren trotz der Scheißkrankheit, der voranschreitenden Klimakrise und des furchtbaren Krieges. Ich wollte mich gerade bei Bruder David herzlich und inniglich bedanken.
[Video Lebendig bleiben mit Bruder David Steindl-Rast (2023); siehe auch Transkription]
[Ergänzend:
Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Freude (2014): Interview von Andrea Huttegger mit Bruder David:
«Das Herz ist wie ein Gefäß, das sich anfüllt und überfließt vor Dankbarkeit. In Österreich ist es oft so: Gerade wenn das Gefäß überfließen will vor Freude, weil wir so viel haben, kommt die Reklame und sagt uns, dass es etwas Besseres gibt. Das Gefäß wird immer größer und fließt nie über. In Ländern, in denen Armut herrscht, fließt das Gefäß früh über, weil es sehr klein ist. Wir können unseres kleiner machen, z.B. durch Fasten. Plötzlich schmeckt das Wasser so gut. In diesem Moment fließt das Gefäß vor Dankbarkeit in Freude über. Unser Gefäß kleiner zu machen heißt nicht, die Lebensqualität zu vermindern, im Gegenteil. Eine gewisse Einschränkung erhöht die Lebensqualität, weil das Gefäß früher überfließt und Freude schenkt.»]
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[1] R. M. Rilke im Brief an den Schriftsteller Arthur Holitscher vom 13. Dezember 1905
[2] Siehe auch Erlösung ‒ Sünde und Heil: Haupttext, sowie Ergänzung: 1.4. und Anm. 3: R. M. Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, II; siehe auch die Audios in Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 2.1. und 2.6.
Leiden und das Leidige
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Andreas Salcher: «Wie soll man mit einer schwierigen Vergangenheit umgehen?»
Bruder David: «Eigentlich sollte man überhaupt nicht damit umgehen. Je weniger man sich damit identifiziert desto besser. Wenn man im gegenwärtigen Augenblick lebt, dann identifiziert man sich nicht mit der Vergangenheit, das ist das Entscheidende.
Menschen, die sehr unter ihrer Vergangenheit leiden sind oft Menschen, die unter keinen Umständen dieses Leiden aufgeben wollen, sie sind besessen davon, es ist ihre Identität. Was wären sie denn, wenn sie plötzlich nicht mehr ein Opfer ihrer Eltern wären?
Wenn man den langen Weg gehen will, zum Beispiel mit den Methoden der Psychoanalyse darin bohren will, habe ich nichts dagegen. Es gibt aber einen kürzeren Weg, und das ist im gegenwärtigen Augenblick zu leben. Dann kommen wir leichter von unseren kleinen Egos los und zu unserm wahren Selbst.»
Andreas Salcher: «Aber gerade, wenn wir schwer verletzt wurden, dann ist im Augenblick der Schmerz besonders groß, wir können ihm nicht entfliehen, ja wir glauben dem Schmerz nicht entkommen zu können.»
Bruder David: «Natürlich kann man einem Menschen im Augenblick des größten Leidens überhaupt nichts sagen, man kann nur bei ihm sein. Im Buch Hiob gehen dem leidenden gottesfürchtigen und gerechten Mann auch irgendwann alle Freunde, die ihm gute Ratschläge geben, nur mehr fürchterlich auf die Nerven. Aber man muss diesen Freunden zugutehalten, dass sie ganz am Anfang eine Woche lang im Schweigen bei ihm sitzen.
Und das ist das Entscheidende: Gegenwärtig sein, die Hand halten, Mitgefühl zeigen, das hilft. Das ist viel besser als alle Ratschläge, denn Ratschläge sind oft vor allem Schläge. Wenn man etwas sagen könnte, dann müsste es lauten:
‹Was du jetzt im Augenblick an großen Schmerzen erlebst, ist offensichtlich auszuhalten. Und daher denke nicht daran, dass das Leiden in der Zukunft immer noch ärger werden wird, dass Du das nicht wirst aushalten können. Lass die Zukunft in Frieden und bleibe im Augenblick.›
Wir leiden meistens an der Zukunft und nicht in der Gegenwart. Jetzt gerade ist es zwar schmerzhaft aber erträglich. All is always now.[1] Pain is inevitable. Suffering is optional. Schmerz ist unvermeidlich. Leiden ist optional.»
Andreas Salcher: «Wie geht man um mit dem Gefühl, alles was ich weiß, alles was ich anderen beigebracht habe, hilft mir nichts.?
Bruder David erzählt mir von einer eigenen großen Verletzung, die er erlitten hat. Es ging um den Verrat eines Versprechens, das man ihm gegeben hatte, eine Aufgabe zu bekommen, auf die er sich schon sehr gefreut hat und auf die er sich schon sehr eingestellt hatte. Er kann es bis heute nicht verstehen, warum man ihm dann diese Aufgabe doch nicht gab.»
«Natürlich habe ich mich ständig gefragt, warum tun die das. Monatelang habe ich mich damit gequält und mich daran geklammert, dass ich ein Opfer bin. Es hat lange gedauert, bis ich in der Lage war, einfach loszulassen.»
Gespräche mit Freunden haben ihm sehr geholfen: «Es hilft am meisten, wenn der Freund nicht wertet, wie ‹Das ist doch nicht so arg› oder Ratschläge gibt, sondern einfach zuhört.
Heute kommt das deshalb bei mir nicht mehr hoch, weil ich tagtäglich übe, die Vergangenheit zu lassen. Wenn ich zum Beispiel chronische rheumatische Schmerzen habe und mir dann sage: ‹Das wird jetzt immer ärger, das kann ja nicht besser werden›, dann habe ich schon verloren.
Mir hilft, wenn ich erkenne, dass es im Augenblick zwar sicher unangenehm, aber erträglich ist, sonst wäre ich ja nicht mehr da. Und dann wird es sofort besser.»
Andreas Salcher: «Voraussetzung dafür ist aber zweifellos das hohe Urvertrauen, das Bruder David auszeichnet. Dieses kann man zwar für sich selbst nicht mehr steigern, aber es ist das Wichtigste, das man seinen Kindern von Geburt an mitgeben kann.»
«Was können Eltern ihren Kindern sagen, die gerade großes Leid erfahren mussten?»
Bruder David: «Es geht eben überhaupt nicht um das Sagen. Es geht um das Umarmen, vielleicht spazieren gehen, genau hinhören jedenfalls mitfühlen.
Erst im Nachhinein verstehen wir oft, dass unsere Verletzungen zu Wachstum geführt haben, daher sollten wir zutiefst dankbar dafür sein. Der Augenblick des größten Leidens ist natürlich nicht der beste Augenblick um Dankbarkeit zu lernen, das ist, wie wenn man mit Chopin beginnen würde Klavierspielen zu lernen. Wir können aber dankbar dafür sein, dass uns jeder Augenblick Gelegenheit dafür gibt, dankbar zu sein. Das eröffnet dann ungeheure Möglichkeiten der Kreativität. Wenn ich mich dagegen nur als Opfer sehe, dann ist alles abgeschlossen.»[2]
Das Abenteuer besteht darin, dass wir ausziehen, uns auf Abenteuer einlassen und ein ganzes Leben damit verbringen, wieder heimzufinden. Das ist schon in dem Paradoxon angelegt, das auch Augustinus ausspricht:
«Gott ist mir näher, als ich mir selber bin.»
Aber zugleich:
«Unruhig ist unser Herz, bis es in mir ruht als Sinnquelle».
Wenn Gott mir in meinem Herzen näher ist als ich mir selber bin, warum soll dann mein Herz unruhig sein? Es ruht in Gott. Warum?
Wir wissen, dass es so ist, wissen, dass wir von zuhause fort müssen und unser ganzes Leben damit verbringen, dorthin zurückzukehren – am Ende aller unserer Abenteuerfahrten ‒ wo wir ausgegangen sind und den Ort zum ersten Mal wirklich erkennen.
Wir kehren heim durch die unbekannte Pforte, an die wir uns doch so gut erinnern können. Diese Pforte ist das Herz, zu dem wir heimkehren, wie wir von ihm ausgegangen sind.[3]
Das Leben in diesem Sinn ist dann das Sinnfinden des abenteuerlichen Herzens auf der Lebensreise.
Die Lebensreise ist das Leiden.
Das überrascht uns vielleicht, besonders, wenn wir noch jung sind.
Es ist aber auch in der Philosophie, die in unserer Sprache enthalten ist, völlig klar angelegt. Leiden heißt ursprünglich gehen, fahren, reisen.
Leiden hatte nichts mit erleiden zu tun.
Das Leiden, das ursprünglich fahren, reisen, gehen bedeutete, kommt von einer Wurzel her, und das Leid (das Leidige) ist ein anderes Wort, das ursprünglich das Widerwärtige bedeutete. Langsam vermischen sich die beiden Wörter.
Erst, wenn wir wieder sehen, dass Leiden gar nicht unbedingt etwas Leidiges sein muss, beginnen wir darüber nachzudenken, was denn das Leiden leidig macht.
Das Wort «leidig» bedeutet ursprünglich hässlich, ungut, unangenehm, hauptsächlich aber widerwärtig. Wenn wir «leider» sagen, ist das wohl nur eine Steigerungsstufe.
Das Widerwärtige ‒ «wider» heißt gegen und «wärtig» die Richtung ‒ ist das, was «gegen den Strich geht». Wir können im Leben entweder mit der Maserung oder gegen sie hobeln, mit dem Strich gehen oder gegen ihn gehen, mit dem Strom schwimmen oder versuchen, gegen den Strom des Lebens zu schwimmen.
Hier kommt es zu dem großen Paradoxon, dass alle, die mit dem Strom des natürlichen Lebens schwimmen, heutzutage gegen den Strom schwimmen müssen. Und darum schwimmen so wenige mit dem Strom des Lebens.
Zu dem Wort «Leid», «leidig», gehört die Widerwärtigkeit.
Zu dem Wort leiden, Leben, Erfahren, Fahren gehört das Veranlassungswort leiten und Lotse. Leiten ist gehen-machen.
Wenn wir sehen, dass uns etwas im Leiden leiten kann, dann müssen wir uns fragen, was ist denn dann die leitende Kraft?
Es ist das Leben selbst. Wenn wir uns wirklich dem Leben hingeben, dem Lebensstrom, der Quelle des Herzens, dann werden wir durch das Leben geleitet. Das Leben selbst leitet uns, wenn wir uns nicht diesem Lebensstrom verschließen, abkapseln, stehenbleiben, steckenbleiben, unser Herz verschließen.[4]
Was geschieht denn mit dem Leid, wenn wir es uns zu Herzen nehmen?
Es «bricht uns das Herz». Aber nicht in einem zerstörerischen Sinn, sondern es bricht das Herz auf. Auf das einzige Herz hin, das wir alle gemeinsam haben.
Unser Herz ist kein Privatplatz. Unser Herz ist der Punkt, wo wir miteinander zusammenhängen.
Wenn wir den rechten Fleck des Herzens wirklich finden, dann haben wir das eine Herz gefunden, das wir alle gemeinsam haben ‒ in der christlichen Tradition heißt es «das allerheiligste Herz Jesu».
Das ist ein Begriff, der sicher vielen fremd ist, aber menschlich vollkommen zugänglich sein soll: Dass eben das Universum ein Herz hat ‒ ein leidendes Herz ‒ denn das Herz ist Lebenszentrum. Und Leben heißt Leiden. Das ist aber ein anderes Leiden als jenes, dem alles leidig ist.
Wirklich leiden heißt also, so zu leben, dass uns nichts leidig wird. Mit dem Strich leben! Das Leid wird in den Lebensstrom hineingenommen zum weiteren Anlass dieses Lebens.
Wir erfahren Leid, wir erleiden Leid, aber es ist uns nicht leidig.
Diese Erfahrung muss ganz vorsichtig und behutsam in die medizinische Praxis übertragen werden: Was hier über Schmerz und Schmerzlinderung gesagt wurde, erscheint mir ausserordentlich wichtig. Gerade deshalb, weil es die Lebensqualität verbessert und uns hilft, das Leidige auf vernünftige Weise auch abzuschwächen.
Wir wissen aber zugleich, dass Menschen, die Sinn finden, sogar die größten Schmerzen viel weniger schmerzlich empfinden.
Wenn wir uns etwas zu Herzen nehmen, dann bricht es uns das Herz auf, auf diese Sinnmitte hin, von der aus wir alles sinnvoll finden können.
Da müssen wir uns entscheiden: Wollen wir uns das Leiden des Lebens zu Herzen nehmen oder wollen wir es auf Armeslänge von uns halten?[5]
Die Zukunft, nach der wir uns sehnen, die nicht Untergang und Zerstörung ist, sondern die ein ganz neuer Aufbruch der Lebendigkeit sein kann, wird nur dann zustande kommen, wenn wir bereit sind ‒, wenn es uns nicht leid ist, auch Schwieriges zu erfahren und zu erleiden um dieser Zukunft willen.
Das einzige Bild, das in der gesamten christlichen Tradition immer wieder hinter Leiden steht, ist das Bild der Geburtswehen. Sie werden in der ganzen Bibel kein andres Bild finden. Das ist so typisch für das Durch-Leiden-Müssen, damit neues Leben entsteht.[6]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-6]
[Ergänzend:
1.1. Audio Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökologie: Pater Johannes und Bruder David im Dialog
(27:55) Kein Leid zufügen, Mitfühlen, Sympathie, Mitleiden und sich Mitfreuen ‒ das Leiden der Tiere
(36:14) Das Bild der Schwangerschaft: geteilter Raum, der Kosmos als Mutterleib und wir in einem ununterbrochenen Geburtsvorgang ‒ auch Freunde müssen einander bemuttern, Geburt wie Sterben, Sterben wie Geburt
1.2. Audio Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökologie: Zwei Ergänzungen und Fragerunde:
(00:00) Keine Geburt ohne Schmerz ‒ auch Wachstum und Reifen ist mit Schmerzen verbunden ‒ die Freunde von Hiob sitzen eine Woche lang schweigend bei ihm, bevor sie reden
2.1. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); siehe auch die Mitschrift des Vortrags im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens (1992), 22-27 , 31f.
Eröffnungsreferat Vortrag:
(15:08) Hungern nach Weisheit und Sinn – Unruhig ist unser Herz (Augustinus) – Wir lassen niemals vom Entdecken / Und am Ende allen Entdeckens / Langen wir, wo wir losliefen, an / Und kennen den Ort zum ersten Mal. / Durchs unbekannte, erinnerte Tor (T.S. Eliot)
(24:59) ‹leiden› und das ‹Leid(ige)› unterscheiden: Mit oder gegen den Strich gehen / (29:12) leiden, leiten, Lotse: Die leitende Kraft ist das Leben selbst / (30:39) ‹Es wandelt, was wir schauen› (Joseph von Eichendorff)[7] / (34:25) Offen zum Himmel und zu den Nachbarn: Die Laubhütten am jüdischen Laubhüttenfest / (36:34) Es bricht das Herz auf ‒ Das Herz ist kein Privatplatz – Das allerheiligste Herz Jesu / (37:59) So leben, dass uns nichts leidig ist – Unsere große Entscheidung – Das Leben in Fülle (Joh 10,10)
2.2. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); siehe auch die Mitschrift der Diskussion im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens (1992), 31f.
Diskussion:
(12:25) Fehlgeleitete religiöse Überzeugungen korrigieren / (16:20) Das Bild der Geburtswehen:
Bruder David: «Mein Bemühen geht natürlich dahin, vieles, was offensichtlich in unserer christlichen Tradition fehlgelaufen ist, von innen her und aus der Kraft des Guten wieder zu korrigieren. Es zeigt sich zum Beispiel dabei, dass die Vermischung der beiden Wortbereiche von ‹leidig› und ‹leiden› genau zu der Zeit der Christianisierung unserer Sprache und unserer Kultur entstanden. Wir bemühen uns, das heute wieder klarzustellen.» (31f.)
2.3. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
Teil 2:
(06:24) Schwerkranke und Sterbende begleiten – Die Freunde Hiobs saßen bei ihm sieben Tage und Nächte (Hiob 2,13): Einfach da sein, Zeit schenken / (13:06) Einander behandeln: Die Hand massieren, den Puls greifen – Totenwache daheim und bei den Maori – Belastendes will noch ausgesprochen werden – Nicht an der Hand, sondern in der Hand von jemandem sterben
3. Der spirituelle Weg (1996): Zen-Buddhismus und Christentum im täglichen Leben, ein Dialog von Robert Aitken mit David Steindl-Rast, TEIL 2: 9 Kernfragen der Praxis: ‹Schmerz und Leiden›,143, und ‹Das Leid der Welt›, 146:
Bruder David: «In der Bibel ist das Bild, das man allgemein mit Schmerz assoziiert, das Bild der Geburtswehen: Es ist ein Sackgassen- und gleichzeitig ein Durchbruchserlebnis.»
Robert Aitken: «Wir wissen ja, dass die gesamte Schöpfung bis zur Stunde seufzt und in Wehen liegt. (Röm 8,22).»
Bruder David: «Genau. Das ist eine von vielen Stellen, wo dieses Bild aufgegriffen wird. Meine Antwort darauf wäre, dass jeder Schmerz, den wir verspüren, das Signal für eine Herausforderung und eine Gefahr ist. Handelt es sich um einen ernstzunehmenden Schmerz, dann ist es die Aufforderung zur Einsicht, dass uns eine neue Geburt abverlangt wird. Das macht den Schmerz zu einem Wachstumsschmerz, der Reife fördert. Ich denke doch, dass das ein sehr positiver Aspekt des Schmerzes ist.» (143)
Robert Aitken: «Schauen wir uns doch einmal das Wort ‹leiden› an. Heute wird es meistens in der Bedeutung ‹Schmerzen erleiden› verwendet. Aber es bedeutet auch ‹zulassen›. An einer Krankheit leiden bedeutet also eigentlich, eine Krankheit zuzulassen, sie zu leiden. Das wird umgedreht, weil niemand krank sein will. Die Krankheit wird abgewehrt, und dadurch geht es einem möglicherweise nur noch schlechter. Leiden ist eigentlich Leben an sich. Wir lassen zu, dass das Leben stattfindet. Wir erlauben es.»
Bruder David: «Das ist sehr schön. Anders ausgedrückt, gibt es zwei Arten, zu leiden: mit dem Strom des Lebens und gegen den Strom.
Mit dem Strom des Lebens ist auch Leiden, ist auch schmerzhaft, aber es ist ein Schmerz, der zum Wachstum beiträgt und somit lebensspendend.
Sich gegen den Strom des Lebens zu stellen heißt, gegen den Strom zu leiden, und ist fruchtlos. Es ist wichtig, diesen Unterschied wahrzunehmen und uns aufzumachen, um mit dem Leben zu leiden. Im Lateinischen heißt leiden ‹sufferre› das wiederum von ‹sub-ferre› kommt und unter anderem ‹darunter halten, emportragen› bedeutet, also im Sinn von unterstützen und tragen.» (146)]
_____________________
[1] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V, siehe auch Jetzt in diesem Augenblick: Ergänzend: 2.2.
[2] Der verletzte Mensch (2008): Interview von Andreas Salcher mit Bruder David
[3] Mitschrift des Vortrags im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens (1992), 21f.; siehe auch Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und die Transkription des Videos mit Anm. 9:
(47:34) «Am Ende unserer Reise, am Ende unseres großen Abenteuers, am Ende dieser unentlohnbaren Fahrt kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, und kennen den Ort zum ersten Mal.
Dieses Ankommen am stillen Punkt, ist das Einzige, worauf es letztlich ankommt. Dieser stille Punkt des großen Tanzes ist das einzig Wesentliche.
Wenn wir in diesem stillen Punkt, in diesem Ruhepunkt wurzeln, dann werden wir die Einheit alles Seienden entdecken. Und eine solche Entdeckung ist immer ein großes Geschenk, ein ganz unerwartetes Geschenk, ein Windfall, ein Fischfang, so groß, dass es sich nicht zählen lässt.»
«We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.
Through the unknown, remembered gate
When the last of earth left to discover
Is that which was the beginning.»
«Wir lassen niemals vom Entdecken
Und am Ende allen Entdeckens
Langen wir, wo wir losliefen, an
Und kennen den Ort zum ersten Mal.
Durchs unbekannte, erinnerte Tor
Wenn der letzte unentdeckte Flecken
Der ist, der am Anfang war.»
T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V, in der Übersetzung von Norbert Hummelt, in: T. S. Eliot: Vier Quartette. Four Quartets. Englisch und deutsch, Berlin, Suhrkamp Verlag 2015, 80f.; siehe auch Sinnorgan Herz: Haupttext und Anm. 3
[4] Ebd. 23f.
[5] Ebd. 26f.
[6] Mitschrift der Diskussion im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens (1992): Bruder David antwortet Dr. Franz-Josef Köb: «Ich denke mir, dass in der Religion vieles Schädliches passiert ist.», 31f.
[7] Joseph von Eichendorff: ‹Der Umkehrende›, 4, siehe auch Fragen des Lebens: Haupttext und Ergänzend: 3.; Kreuz ‒ Zeichen der Hoffnung: Ergänzend: 1.
Leidenschaft für das Mögliche
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Der Dichter Rilke blickt in den weit geöffneten Blütenstern einer Anemone und staunt über den Blumenmuskel, der den Blütenkelch nach und nach dem Morgenlicht erschließt.
Jener Muskel des unendlichen Empfangs, in den stillen Blütenstern gespannt, ist manchmal so von der Fülle des Lichts übermannt, das er kaum vermag, die weitgeöffneten Blüten bei Sonnenuntergang wieder zu schließen.
Und wir, so fragt der Dichter ‒ «wann sind wir endlich offen und Empfänger?»[1]
Erinnert uns das nicht wieder an jene Augenblicke, in denen wir selbst von des Lebens Fülle überwältigt waren?
Da waren wir von Freude überrascht.
Wie flüchtig diese Erfahrung auch war, jetzt kennen wir die Freude, für Überraschungen offen zu sein.
Einen Moment lang fühlten wir uns uneingeschränkt willkommen, und das erlaubt uns seither, das Leben ohne Einschränkungen willkommen zu heißen.
Der Geschmack jener Augenblicke erweckt in uns eine Leidenschaft für das Leben mit seinen schier grenzenlosen Möglichkeiten.
Jene Leidenschaft ist Hoffnung: «Leidenschaft für das Mögliche.»
Die Formulierung «Leidenschaft für das Mögliche» wurde von einem zeitgenössischen Propheten der Hoffnung geprägt.
Es sind die letzten Worte auf der letzten Seite von William Sloane Coffins Autobiographie, «Once to Every Man» («Einmal für jeden Menschen»).
Dieses Buch hat mich tief bewegt. Meine Liebe und meine Bewunderung für den Autor hat sicherlich dabei eine Rolle gespielt. Aber objektiv betrachtet, war ich betroffen von der Art und Weise, in der er sich mit den entscheidenden Anliegen unserer Zeit auseinandersetzt.
Mutig nimmt er sich diese Anliegen zu Herzen, mit all dem Leiden, das ihn das kostet und erlaubt jener Leidenschaft (das Leiden schwingt ja in dem Worte mit), seine Hoffnung zu läutern.
Das Leben selbst wird unsere Hoffnung Schritt für Schritt läutern, wenn wir mit Leidenschaft für das Mögliche leben.
Indem wir voranschreiten, werden die Grenzen des Möglichen weiter und weiter, bis in den Bereich des scheinbar Unmöglichen hinausgeschoben.
Früher oder später erkennen wir, dass das Mögliche keine festen Grenzen kennt.
Was wir für eine Grenze hielten, stellt sich als Horizont heraus.
Und wie jeder Horizont weicht er zurück, während wir uns ins volle Leben hineinbegeben.
Diese Entdeckungsfahrt, die ihren Ursprung in der Leidenschaft für das Mögliche hat, ist unsere religiöse Suche, angetrieben von der Ruhelosigkeit unseres menschlichen Herzens.
Jedes «noch nicht» lässt unsere Suche ruhelos bleiben. Jedes «schon jetzt» hält jene Ruhelosigkeit gesammelt.
[FN 1) 107-109; 2-5) 109-111; 6) 110f.]
Hoffnung kann sehen, was kein Spiegel der Welt zeigen kann.
Und so,
Happy fault, the flaw, which offending,
lets us see we have eyes for the perfect …[2]
Glückliches Versehen, der Fehler, dessen Missfallen
uns erkennen lässt, dass wir Augen für das Vollendete besitzen.
Unsere Augen für das Vollkommene sind die Augen der Hoffnung.
Hoffnung betrachtet alles so, wie eine Mutter ihr Kind anschaut, mit einer Leidenschaft für das Mögliche.
Diese Art zu sehen ist schöpferisch.
Sie erschafft den Raum, in dem sich Vollkommenheit entfalten kann.
Mehr noch, die Augen der Hoffnung schauen durch alles Unvollkommene hindurch in das Herz aller Dinge und finden dort Vollkommenheit. [FN 1) 122; 2-5) 124f.; 6) 125]
Hoffnung als Leidenschaft für das Mögliche schärft unsere Sinne für praktische Möglichkeiten.
Sie gibt uns eine Jugendlichkeit, die das Mögliche nur durch einen immer weiter zurücktretenden Horizont begrenzt sieht.
Der adelige Geist der Hoffnung verlangt und bestimmt unseren moralischen Einsatz.
Denn Hoffnung wurzelt in unserem Herzen, wo wir mit allen verbunden ‒ und damit für alle verantwortlich sind.
[FN 1) 123; 2-5) 126; 6) 126]
Hoffnung ist eine Leidenschaft für das Mögliche.
Das «Leiden» gibt dem Wort «Leidenschaft» im Licht des Kreuzes Jesu eine neue Bedeutung.
Hoffnung, als Leidenschaft für das Mögliche, fordert leidenschaftliche Hingabe an das Mögliche ebenso, wie das Leiden für seine Verwirklichung.
Nur Geduld kann diese Doppelaufgabe leisten.
Mütterliche Geduld ist die Leidenschaft der Hoffnung.
Und da Geduld ebenso ansteckend ist wie Ungeduld, gibt sie uns die Möglichkeit, einander in der Hoffnung zu stärken.
Geduld verlangt Leidenschaft für unsere Ziele, ja, Leidenschaft selbst für unsere Hoffnungen, für die wir bereit sein müssen zu leiden, ohne uns in sie zu verkrampfen.
Im stillen Zentrum unseres Herzens begegnen wir der Fülle des Lebens als einer großen Leere.
Es muss so sein.
Denn diese Fülle ist größer als alles, was das Auge gesehen und das Ohr gehört hat.
Nur Dankbarkeit in der Form einer grenzenlosen Offenheit für Überraschung kann die Fülle des Lebens in Hoffnung erahnen.
[FN 1) 136-138; 2-5) 139-14; 6) 140f.]
______________________
[1] Blumenmuskel, der der Anemone
Wiesenmorgen nach und nach erschließt,
bis in ihren Schoß das polyphone
Licht der lauten Himmel sich ergießt,
in den stillen Blütenstern gespannter
Muskel des unendlichen Empfangs,
manchmal so von Fülle übermannter,
dass der Ruhewink des Untergangs
kaum vermag die weitzurückgeschnellten
Blätterränder dir zurückzugeben:
du, Entschluss und Kraft von wieviel Welten!
Wir, Gewaltsamen, wir währen länger.
Aber wann, in welchem aller Leben,
sind wir endlich offen und Empfänger?
R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, V, siehe auch: Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft / CH:
Die den Kurs begleitenden Gedichte (2014), 8]
[2] Dorothy Donnelly in «Trio in a mirror»
Licht
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Der Satz Jesu: «Ihr seid das Licht der Welt» wird oft in einem zu engen Sinn verstanden. Er bedeutet mehr als das Weitergeben einer Lehre, wie erhellend die Botschaft auch sein mag. Für mich heißt er: «Hört zu, dies ist eine dunkle Welt. Wenn ihr leuchtet, erhellt ihr sie ein wenig. Ihr könnt diese Welt ein wenig heller machen. Leuchtet!»
Das mönchische Erlebnis, den Sonnenaufgang mit Dankbarkeit zu begrüßen, wäre für uns alle zugänglich. Wenn die tiefe Dunkelheit des Nachthimmels sich nach und nach erhellt und die Sonne über dem Horizont aufstrahlt, steigt Staunen in uns auf und erfüllt uns mit Bewunderung. Für die meisten von uns ist das allerdings ein seltenes Erlebnis. Wenn wir nicht gerade früh zum Bergsteigen aufstehen oder aus dem Nachtleben heimkommen, oder an einer Osterfeier teilnehmen oder einen ganz frühen Flug erreichen müssen, dann versäumen wir meist dieses Wunder. Warum aber sollen wir uns ein solches Erlebnis entgehen lassen?
Sogar in der künstlichsten Umgebung können wir uns auf vielerlei Arten auf den natürlichen Rhythmus des Tages einstimmen. Für die Mönche ist das freilich nicht schwer, denn im Kloster stehen alle früh auf. Man kann sich sogar daran gewöhnen, früh aufzustehen ‒ und die Freude daran ist ein solcher Ansporn! Aber es gibt auch Menschen, die in Familien leben, die morgens gerne früh genug aufstehen, um sich bei Anbruch der Dämmerung ein wenig Zeit zum Meditieren oder zum Beten zu gönnen. Auch wenn es nur wenige Minuten sind, bevor der ganze Trubel beginnt, ist es die Mühe wert. Wenn wir das erst einmal versucht haben, dann merken wir, wie es unseren Tag bereichert, Manchmal geht es nicht einmal darum, früher aufzustehen, sondern nur darum, aufmerksam zu sein.
Wenn du morgens den Bus nimmst oder dich ins Auto setzt, während es noch dunkel ist, dann beginn gar nicht erst damit, dir Sorgen über den kommenden Tag zu machen, achte nur auf den Augenblick, wenn das Licht aus der Dunkelheit steigt: «Mir wird ein neuer Tag gegeben. Welche Haltung sollte ich diesem Tag entgegenbringen? Wofür ist es Zeit? Zeit, sich zu erheben und zu leuchten.» [ST 83f., Quelle: MS 5) 61f.]
Liebe
Text, Audios und Video von Br. David Steindl-Rast OSB
Liebe ist ein häufig missverstandenes Wort.
Wir müssen also damit beginnen, klarzustellen, was wir hier unter Liebe verstehen: kein Gefühl, sondern eine Haltung, nämlich das gelebte «Ja!» zur Zugehörigkeit.
Freilich ist damit ein weites Spektrum von Gefühlen verbunden: romantische Liebe, Tierliebe, Mutterliebe, Liebe zur Kunst, Vaterlandsliebe, bis hin zur Feindesliebe.
Es gibt viele Grade und Arten der Zugehörigkeit, die ausgelösten Gefühle sind also höchst vielfältig. Auf jede der erwähnten Formen aber trifft unsere Definition zu: Liebe ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit.
Viele Menschen meinen, das Gegenteil von Liebe sei Hass. Dass das ein Irrtum ist, lehrt uns die Erfahrung: In stürmischen Liebesbeziehungen können wir hin und her gerissen werden zwischen Wohlwollen und Hass, zwei Polen der einen Zugehörigkeit, von der wir nicht loskommen.
Hass und Wohlwollen sind Gegenpole innerhalb von Liebe, das Gegenteil von beiden aber ist Gleichgültigkeit. Was mir gleichgültig ist, geht mich nichts an – so meinen Gleichgültige. Das ist aber ein Irrtum, denn alles geht mich an, weil alles mit allem zusammenhängt. Mein Ich ist ein Knotenpunkt in einem grenzenlosen Netzwerk von Beziehungen.
Gleichgültigkeit dagegen ist blind für Zugehörigkeit und verfällt daher in die Illusion von Unabhängigkeit und Vereinzelung. Diese Entfremdung führt dann zu Verunsicherung und Furcht vor dem Leben, denn nur durch Zugehörigkeit zu meiner Mitwelt kann ich mich sicher, geborgen und zuhause fühlen. Gleichgültigkeit führt also durch Entfremdung zu Furcht; Liebe führt zu jenem Daheimsein in der Welt, das alle Menschen ersehnen.
Das Ja zu grenzenloser Zugehörigkeit können wir nur lebendig verwirklichen, wenn wir dem Leben vertrauen. Liebe wurzelt also im Lebensvertrauen.
Was uns das Vertrauen in das Leben so schwer macht, sind die Engpässe unseres Lebenslaufes, die uns immer wieder Angst machen.
Furchtloses Vertrauen aufs Leben – trotz unserer Ängste – lässt sich erlernen.
Im Idealfall lehren Eltern es Kindern, indem sie sich vertrauenswürdig erweisen – also da sind, wenn die Kinder sie brauchen – und den Kindern Vertrauen schenken, anstatt sie beständig zu überwachen.
Auch Erwachsene können Lebensvertrauen noch erlernen, wenn andere ihnen auf diese zweifache Weise beistehen:
Als Freunde müssen wir verfügbar sein, wenn sie uns brauchen, zugleich aber ihr Selbstvertrauen unterstützen.
Und wenn wir dem Leben vertrauen, können wir das bedingungslose Ja zur Zugehörigkeit verwirklichen, das Ja zu unserer Vernetzung mit allem Leben, das Ja der Liebe.
Der Kreis der Zugehörigkeit wurde oft zu eng gezogen. Heute muss er nicht nur alle Menschen umfassen, sondern alle Tiere, Pflanzen, unsere Erde und das ganze Universum. In beiden, Ethik und Religion, geht es also letztlich um Liebe als das grenzenlose Ja zur Zugehörigkeit.
Die Antwort ist offensichtlich: Ja. Grenzenlose Zugehörigkeit grenzt ja auch Feinde nicht aus.
Von Feindesliebe kann aber nur die Rede sein, wenn sie Feinde bleiben.
Wer ernstlich für etwas eintritt, etwa für Umweltschutz, wird dadurch zum Feind derer, die sich dem entgegenstellen.
Feindschaft wird aber durch Liebe völlig verwandelt.
Klare und scharfe Opposition schließt persönliches Wohlwollen nicht aus; das Ja der Liebe, das Ja zur Zugehörigkeit ist ein wohlwollendes Ja.
Es fordert, dass wir uns bemühen, unsere Gegner mit ihren Anliegen, Befürchtungen und Hoffnungen zu verstehen; dass wir Gemeinsamkeiten suchen und auf ihnen aufbauen; dass wir trennende Meinungen weniger wichtig nehmen als das verbindende Bemühen, gemeinsame Probleme zu lösen; und dass wir noch so entschiedenen Widerstand mit persönlichem Wohlwollen verbinden.
Selbstmörderische Gewalttätigkeit, mitleidlose Rivalität, Habsucht, Geiz und Neid kennzeichnen daher die 6.000 Jahre alte Furchtpyramide, die heute vor unseren Augen ins Wanken gerät.
Aber wo immer sich Zeitgenossen von Furcht zu Lebensvertrauen bekehren, da wird aus Gewalttätigkeit Gewaltfreiheit,
aus Rivalität Zusammenarbeit
und aus Habsucht freudiges Teilen;
Pyramiden verwandeln sich in Netzwerke.
Zu dieser Geisteshaltung mögen folgende Zeilen des Dichters Christian Morgensterns anregen:
«Liebet das Böse gut, lehren tiefe Seelen,
lernt am Hasse stählen Liebesmut.»
Alle Krisen unserer Zeit sind Vertrauenskrisen, die letztlich aus Mangel an Lebensvertrauen entspringen. Nur wer sich dem Leben anvertraut, kann – nach allem, was wir hier erwogen haben, das Ja der Liebe sprechen. Aber das Ja der Liebe will nicht nur gesprochen, sondern gelebt werden – es muss sich im Alltag ganz konkret in unserem Tun bewähren.
[Liebe - die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017)]
[Ergänzend:
1. LIEBE, in: Orientierung finden (2021): Das ABC der Schlüsselworte, 147:
«Liebe ist mehr als ein Gefühl. Sie ist eine Haltung, die alle Bereiche unseres Wesens zum Mitschwingen bringt. Wenn unsere Emotionen stark mitschwingen wie bei Verliebten, so wird Liebe zu einem Hochgefühl der Lebendigkeit. Bei Feindesliebe ist das Gefühlsmoment keineswegs bedeutsam.»
2. LIEBE, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Kapitel «Liebe: Ein ‹Ja› zur Zugehörigkeit» und Schlüsselbegriffe am Ende des Buches: «Liebe» und «Zusammengehören»:
«‹Wenn du mit deinem ärgsten Feind im selben Boot sitzt, wirst du dann ein Loch in seine Seite des Bootes bohren?» (Elissa Melamed)
3. Unsere Feinde lieben? Vielleicht ist dies unser einziger Ausweg (2017):
«Als ich aus der Zelle durch die Tür in Richtung Freiheit ging, wusste ich, dass ich meine Verbitterung und meinen Hass zurücklassen müsste, oder ich würde mein Leben lang gefangen bleiben.» (Nelson Mandela)
4. Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017):
«Aber diese Achtung und dieses ‹Ja› zur Zugehörigkeit muss ich auch einem Menschen gegenüber erweisen, der mein Feind ist und dessen Feind ich bleibe. Das nimmt den Stachel aus der Feindschaft heraus.»
5. Immer tiefere Wurzeln in der Liebe: ein Gebet (1995)
6. Audio: So leben wir und nehmen immer Abschied (2009):
(46:13) Alle unsere Schmerzen werden Wachstumsschmerzen ‒ ‚Oh, dass es auch du erkannt hättest‘ (Lk 19,42) ‒ Alles wird durchsichtig fürs Paradies ‒ ‚Der reine Bezug‘ ist die Liebe: ‚Die Liebe hemmet nichts; / Sie kennt nicht Tür noch Riegel‘ (Matthias Claudius)
7. Audio: Wie uns «dankbar leben» heil und gesund macht (2011) und Mitschrift (S. 2) des Vortrags:
(00:00) Freudig lebendig, gesund und heil in Beziehungen. Liebe: Das gelebte Ja zur Zugehörigkeit
8. Ausschnitt aus dem Video: Was am Ende wirklich zählt (2022) und Transkription (S. 8f.):
(23:41) David Steindl-Rast: «Das Stop ‒Look ‒ Go ist auch ein Aufwachen, ist ein Prozess des Aufwachens und des wachen Tuns. Und du hast auch völlig recht, dass das alles mit Liebe zu tun hat. Nur verwende ich das Wort Liebe sehr vorsichtig, weil es so viele Missverständnisse darüber gibt.
Wenn ich Liebe sage, meine ich das gelebte Ja zur Zugehörigkeit und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass sich das eigentlich ‒ so wie eine Definition ‒ auf alle Formen der Liebe anwenden lässt.
Es ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit.
Wenn wir das üben ‒ das ist natürlich das Entscheidende am ganzen Leben ‒ die Liebe ist das Entscheidende.
Ein großer Denker ‒ Otto Maurer, ein Wiener Priester, Mitte des 20. Jh., hat das wunderschön ausgedrückt:
‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe›.
Also das ist die Aufgabe des ganzen Lebens: die Liebe ausreifen zu lassen.
Alle Beziehungen, Zugehörigkeit, ausreifen zu lassen.»
Isha Johanna Schury: «Bruder David, wenn du sagst, die Liebe ist das Ja zur Zugehörigkeit, existiert Liebe dann ausschließlich im Wir ‒ wohnt Liebe in der Gemeinsamkeit … oder kann ich sie trennen? Wahrscheinlich nicht.»
David Steindl-Rast: «Zur Liebe gehören mindestens zwei, aber wenn es wirklich Liebe ist, dann ist es niemals begrenzt.
Oder es grenzt nicht aus.
Die Form und auch die Intensität des Gefühls usw., das ist natürlich ganz verschieden, ob ich jetzt meinen Hund liebe, oder meine Braut oder mein Vaterland. Das sind schon recht verschiedene Formen der Liebe.
Aber in allen Teilen ‒ und das ließe sich auf jede Form anwenden ‒, geht es darum, ein gelebtes Ja zu sagen, es nicht mit dem Mund zu sagen, sondern mit dem Leben zu sagen, ein Ja: Wir gehören zusammen und wir sind letztlich eins.
Also, jede Liebe zielt letztlich auf die größte Gemeinschaft und das ist nicht einmal nur die menschliche Familie, die Menschheit, sondern die Tiere gehören dazu, die Pflanzen gehören dazu, es ist eine kosmische Gemeinschaft.
Die ist, wo immer wir Liebe wirklich üben ‒ ich wollte sagen: fühlen, aber fühlen ist viel zu wenig ‒, es ist ein Üben, ein Tun, das Leben, das Ja sagt zur Zugehörigkeit.
Wenn wir Liebe leben, dann sind wir immer auch durch die kleine Pforte, auf die sich unsere gerade bezieht, sind wir durch diese kleine Pforte auf das ganze Universum bezogen und auf das große Geheimnis, das hinter allem steht oder in allem zum Ausdruck kommt.»]
Liebe gläubig leben
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Ich glaube an Gott, den Vater, DEN ALLMÄCHTIGEN»
Was heißt das eigentlich?
Zuerst bekennen wir unseren Glauben an Gott, den Jesus uns als liebenden Vater kennen lehrte, und dann erst nennen wir Gott den ALLMÄCHTIGEN. Diese Abfolge ist für den Sinngehalt wichtig. Wir beginnen nicht mit dem Begriff von Allmacht, sondern mit dem Bild eines liebenden Vaters. Was allmächtig bedeutet, ist in diesem Zusammenhang vom philosophischen Begriff göttlicher Allmacht unterschieden. Nur als liebendem Vater spricht das Credo Gott Allmacht zu. Nichts ist allmächtig, außer Liebe.
Lebenserfahrung lehrt uns, dass Liebe die Macht hat, selbst die verfahrensten Situationen in Ordnung zu bringen, indem sie ihnen einen neuen, tieferen Sinn gibt.
Wir dürfen die Einsicht des hl. Augustinus «Ordo est amoris», so verstehen, dass die Weltordnung ‒ die uns oft so chaotisch, ja absurd anmutet ‒ durch die Allmacht der Liebe doch letztlich Sinn hat.
Wer mit Überzeugung bekennen kann, «Ich glaube an Gott, den Vater», der drückt damit auch schon letztes Vertrauen aus auf die Allmacht von Gottes väterlicher Liebe.
Woher wissen wir das?
Es muss zunächst als offensichtlicher Widerspruch erscheinen, dass Gott zugleich liebend und ALLMÄCHTIG sei. Muss uns angesichts des Leidens, das wir in uns und um uns herum erfahren, Gottes Liebe nicht als aller Macht beraubt erscheinen? Oder noch ärger: Wäre ein allmächtiger Gott, der solches zulässt, nicht ein maßlos grausames Ungeheuer?
Diese Unvereinbarkeit kann niemals aus unpersönlicher Hubschrauberperspektive gelöst werden. Aus persönlicher Erfahrung aber wissen wir genug, um über den Widersinn hinauszukommen.
Was lehrt dich deine eigene Lebenserfahrung? Wonach sehnst du dich mehr, nach einer leidlosen Existenz oder nach einer sinnvollen? Ist nicht das ärgste Leid die Sinnlosigkeit?
Wir können härtere Entbehrungen überleben, als wir uns je zugetraut hätten, wenn aber das Leben für uns seinen Sinn verliert, geben wir auf und kommen um.
Was ist es aber, das dem Leben letztlich Sinn gibt?
Die Antwort lautet: Liebe.
Gillt das nicht ganz persönlich auch für Dich? Darüber müssen wir weiter nachdenken.
Liebe, die ihren Namen verdient, ist immer freies Geschenk; sie kann weder erkauft noch erzwungen werden. Das ist der springende Punkt. Nur Liebe gibt unserem Leben Sinn; Liebe aber setzt Freiheit voraus. Unsere Menschenwürde wurzelt in unserer Freiheit.
Wir können leider diese Freiheit missbrauchen und so Leid verursachen. Aber können wir Leid vermeiden, indem wir unsere Freiheit aufgeben?
Ohne Freiheit keine Liebe;
ohne Liebe kein Sinn im Leben;
ohne Sinn im Leben,
das größtmögliche Leid:
Sinnlosigkeit.
Der einzige Ausweg aus dieser Sackgasse führt in die entgegengesetzte Richtung: Unsere Freiheit so zu gebrauchen, dass wir durch Liebe dem Leid Sinn geben ‒ und es so überwinden.
Es gibt ein lebensbejahendes Leiden
und ein lebensverneinendes.
Wir können sozusagen «gegen den Strich» leiden ‒ widerwillig;
oder mit dem Strich ‒ aus Liebe willig.
Was können wir aber denen sagen, die nicht im Stande sind, ihrem Leid durch Liebe Sinn zu geben?
Sagen können wir meist nichts, denn das wäre ehrfurchtslos angesichts solchen Leidens. Wir können ihnen nur schweigend zur Seite stehen und wissen: Wenn ein Kind leidet, so leiden Mutter und Vater noch mehr.
Die philosophische Konstruktion eines leidensunfähigen Gottes bricht da offensichtlich zusammen, sie löst sich schon in einer einzigen Kinderträne auf.
Im Bild des ALLMÄCHTIGEN Vaters ist inbegriffen,
dass immer und überall,
wo Leid ‒ und nicht nur menschliches Leid ‒ erlitten wird,
Gott selbst leidet.
Diese Einsicht schafft das Leiden nicht aus der Welt, aber sie nimmt ihm den Stachel, denn sie gibt ihm Sinn.
Warum ist das so wichtig?
Indem wir Gott unseren Vater nannten, begannen wir uns selbst und die ganze Welt als Gottes Haushalt in einem neuen Licht zu sehen: im Licht der Liebe.
Indem wir nun diese Liebe allmächtig nennen, bekennen wir gläubig, dass ihr Licht nicht nur in die Finsternis hinein, sondern «i n Finsternis leuchtet» (Joh 1,5) ‒ im Leiden, im Widersprüchlichen, im letztlich Unverständlichen.
Liebe ist ALLMÄCHTIG, weil sie
die Finsternis zum Licht machen kann,
indem sie ihr Sinn gibt.
Ein solcher Glaube erschließt ganz neue Möglichkeiten, mit der Schattenseite der Wirklichkeit schöpferisch umzugehen.
All das hier Gesagte bleibt billiger Trost, solange wir Denken nicht umsetzen in Tun ‒ in unseren eigenen dunkelsten Stunden und den Dunkelstunden der Menschheit.
Da kommen uns vielleicht Namen in den Sinn von Menschen die uns als Pioniere diesen Weg vorangegangen sind ‒ Hildegard von Bingen, Elisabeth von Thüringen, Vincenz von Paul Florence Nightingale, Albert Schweitzer, Dietrich Bonhoeffer, Mutter Teresa ...
Diese Frauen und Männer ‒ und gar erst ihr Vorbild Jesus Christus ‒ waren auf der geschichtlichen Ebene am Ende doch die Unterlegenen.
Dadurch warnen sie uns auch: Wir dürfen die ALLMACHT Gottes nicht als höchste Steigerungsstufe der Macht der Mächtigen missverstehen. Das Machtsystem der Welt ist ja eine Hauptursache der Leiden. Sie standen auf der Seite der von diesem System Unterdrückten und Ausgebeuteten, und sie unterlagen.
Trotzdem sind sie strahlende Zeugen dafür, dass die ALLMACHT Gottes, die das Credo meint, nämlich die ALLMACHT der Liebe, das Leid überwindet, indem es dem Leben Sinn gibt.
Liebe ist allmächtig, selbst in der Niederlage.
Persönliche Erwägungen
Das Wort ALLMACHTIG kann leicht irreführen, weil es uns dazu verleitet, die Macht der Mächtigen in der Weltgeschichte zum Maßstab dafür zu nehmen, was wir Macht nennen.
Alle spirituellen Traditionen der Welt kennen aber einen anderen Maßstab. Paulus drückt ihn so aus:
«Die göttliche Schwachheit ist stärker als die Menschen sind» (1 Kor 1,25).
«Wenn ich schwach bin, bin ich stark», sagt er (2 Kor 12,10).
Diese Wahrheit zeigt sich meist erst nach und nach als letztgültig.
Vielleicht sollten wir Gott daher lieber
«letztmächtig» nennen als ALLMÄCHTIG.
Vor 2500 Jahren schon schrieb Laotse im Tao Te King:[1]
«Auf der ganzen Welt
gibt es nichts Weicheres und Schwächeres als das Wasser.
Und doch in der Art wie es dem Harten zusetzt,
kommt nichts ihm gleich.
Es kann durch nichts verändert werden.Dass Schwaches das Starke besiegt
und Weiches das Harte besiegt,
weiß jedermann auf Erden,
aber niemand vermag danach zu handeln.»(Übersetzung von Richard Wilhelm; Abschnitt 78)
Warum vermögen wir nicht danach zu handeln?
Weil das viel von uns verlangt. Und was es verlangt, das sagt Jesus im Lukasevangelium (22,25f): «Die weltlichen Könige üben Gewalt aus, und die Machthaber nennt man gnädige Herren. Bei Euch aber soll das nicht so sein! Der Größte unter euch soll sein wie der Geringste, und der Vornehmste wie ein Diener».
Das entscheidende Merkmal göttlicher Macht
ist es, dass sie nicht ü b e r mächtigt,
sondern e r mächtigt.
Wir alle haben mehr Macht, als wir meinen.
Wo hast du persönlich Ermächtigung erfahren oder gespendet? In deiner Familie? Wie würde dein Arbeitsplatz aussehen, wenn jeder Übergeordnete sich als Diener der Untergeordneten verstünde? Und warum ist das nicht wirklich so? Erinnerst du dich an ein Erlebnis, in dem etwas Schwaches dich mit Macht bewegte?
Dichtung kann das, worum es hier geht, eindrücklich sagen, ohne es ausdrücklich sagen zu müssen: In einem Gebet, in dem er Gott als «Du grenzenlose Gegenwart» anspricht ‒ unbegrenzt also auch an Mächtigkeit ‒ beschreibt Rainer Maria Rilke wie er Gott als den Mächtigen, ja Übermächtigen feiern und darstellen würde: als großes Fest, als prunkendes Juwel, als Berg, als Brand, als Sandsturm in der Wüste. Aber das sind alles begrenzte menschliche Machtvorstellungen.
Die wahre Macht grenzenloser Gegenwart offenbart sich ihm am Ende des Gedichtes ‒ in Schwachheit.
«Wenn ich gewachsen wäre irgendwo,
wo leichtere Tage sind und schlanke Stunden,
ich hätte dir ein großes Fest erfunden,
und meine Hände hielten dich nicht so,
wie sie dich manchmal halten, bang und hart.
Dort hätte ich gewagt, dich zu vergeuden,
du grenzenlose Gegenwart.
Wie einen Ball
hätt ich dich in alle wogenden Freuden
hineingeschleudert, dass einer dich finge
und deinem Fall
mit hohen Händen entgegenspringe,
du Ding der Dinge.
Ich hätte dich wie eine Klinge
blitzen lassen.
Vom goldensten Ringe
ließ ich dein Feuer umfassen,
und er müsste mirs halten
über die weißeste Hand.
Gemalt hätt ich dich: nicht an die Wand,
an den Himmel selber von Rand zu Rand,
und hätt dich gebildet, wie ein Gigant
dich bilden würde: als Berg, als Brand,
als Samum, wachsend aus Wüstensand –
oder
es kann auch sein: ich fand
dich einmal ...
Meine Freunde sind weit,
ich höre kaum noch ihr Lachen schallen;
und du: du bist aus dem Nest gefallen,
bist ein junger Vogel mit gelben Krallen
und großen Augen und tust mir leid.
(Meine Hand ist dir viel zu breit.)
Und ich heb mit dem Finger vom Quell einen Tropfen
und lausche, ob du ihn lechzend langst,
und ich fühle dein Herz und meines klopfen
und beide aus Angst.»
[Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2010): ‹Ich glaube an Gott, den Vater, DEN ALLMÄCHTIGEN›, 46-51]
[Ergänzend:
1. Audios
‹Wenn ich gewachsen wäre irgendwo …› (Rilke: Das Stunden-Buch)
1.1. Lebendige Spiritualität (2015) mit Texten von Rainer Maria Rilke
Wort:
(01:01:13) Dass unsere Hände wären, wie unsere Augen sind (Schmargendorfer Tagebuch) – Gedenkt euch der Hände (Die zweite Elegie) – Meine Hand ist dir viel zu breit (Wenn ich gewachsen wäre irgendwo, Das Stunden-Buch) – Ich habe dich bei deiner Hand gefasst (Jes 42,6)
Der Doppelbereich:
(22:56) ‹Und ich fühle dein Herz und meines klopfen und beide aus Angst› (‹Wenn ich gewachsen wäre irgendwo›, Das Stunden-Buch) / (26:31) Meine Kraft kommt in Schwachheit zur Vollendung (2 Kor 12,9 und 12,10 /1 Kor 1,25) / (27:11) Im Gespräch mit P. Johannes: Ich bin bei ihm in seiner Not (Psalm 91,15) – Furcht und Angst
1.2. Spiritualität im Alltag in Dienten (1994)
Gespräch:
(14:49) Wo immer man ernstlich auf dem Weg ist, muss man sich plagen: ‹Über die Freude, dass es nicht der Weg ist, der eng ist, sondern die Enge, die der Weg ist› (Sören Kierkegaard) / (16:26) Die Allmacht Gottes verstehen als Allmacht der Liebe und die Liebe macht sich schwach und macht sich verwundbar: Die Liebe kann noch aus dem größten Elend etwas Besseres hervorbringen als wenn das Elend nicht geschehen wäre / (19:54) ‹Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark› (2 Kor 12,10) ‒ ‹Und ich fühle dein Herz und meines klopfen und beide aus Angst› (Rilke: Das Stunden-Buch: ‹Wenn ich gewachsen wäre irgendwo›
1.3. Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›:
(21:06) ‹Wenn ich gewachsen wäre irgendwo› (Rilke, Das Stunden-Buch): Gott, der Verwundbare
‹Am Abend unseres Lebens werden wir gemäß der Liebe gerichtet werden.› (Johannes vom Kreuz)
1.4. In der Liebe gedeihen – Eine Begegnung mit David Steindl-Rast (2025): Maria Harmer trifft Bruder David kurz vor seinem 99. Geburtstag in Wien:
(00:20) Gott ein strenger Richter: Diese Vorstellung hat viele Menschen verletzt: Gemeint ist ‹richten› im Sinn von: ‹Er richtet, was zerbrochen ist, wie Kinder sagen: Der Papa wird’s schon richten› (09:21) Auf seine eigene Endlichkeit angesprochen, antwortet Bruder David mit einem Wort des hl. Johannes vom Kreuz (1542-1591): ‹Am Ende unseres Lebens werden wir von der Liebe gerichtet werden. Die Liebe wird uns zurechtrichten: alles, was noch nicht richtig da war, was uns nicht ganz gelungen ist im Leben. Also wir erwarten nicht einen strengen Richter, sondern einen liebenden Zurechtrichter.›
2. Texte
2.1. Im Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2010): ‹Von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten›, 181:
«Kannst du selber dich an Ereignisse erinnern; die dir halfen, dein Leben nach einer ihm innewohnenden göttlichen Ordnung aus-
zu r i c h t e n ?
Hat dich eine solche Erfahrung wie ein Hammerschlag getroffen, oder eher wie Tauwetter innerlich zum Schmelzen gebracht?
Wie wirkt auf dich dieses Wort des hl. Johannes vom Kreuz (1542-1591), neben Theresa von Avila (1515-1582) der größte spanische Mystiker:
‹Am Abend unseres Lebens werden wir
gemäß der Liebe gerichtet werden.» ‒
«En el atardecer de nuestras vidas
seremos juzgados en el amor.›»
2.2. Und im Credo: ‹Hinabgestiegen in das Reich des Todes›, 151f.; siehe auch Reich Gottes ‒ ‹auferstanden›:
«Zu wissen, wofür Jesus lebte und sein Leben hingab, bedeutet, Gottes Weisheit und Macht darin zu erkennen.
Diese Weisheit ist aber nach weltlichem Ermessen Torheit, diese Macht Schwachheit. In der Sprache Martin Luthers:
‹Die göttliche Torheit ist weiser,
als die Menschen sind;
und die göttliche Schwachheit ist stärker,
als die Menschen sind› (1 Kor 1,25).
Gottes Autorität lässt sich aber nicht auf immer ignorieren. Es ist ja die Autorität der Liebe, um die es hier geht, und wir wissen im Innersten, dass dies die letztgültige Autorität ist.
Früher oder später ‒ am dritten Tag ‒ muss es sich erweisen:
Liebe ist stärker als der Tod.
Wir wissen das in unserem Herzen, schon bevor das Zeugnis der Jünger von der Auferstehung es uns von außen her bestätigt.
Wie weit die Auferstehungstexte der Evangelien geschichtliche Berichte sein mögen, wie weit Bildersprache für etwas Unbegreifliches, ist diskutabel. Eines wissen wir jedenfalls:
Die Jünger erlebten das, was sie seine Auferstehung nannten als ein Ereignis, das ihr Leben von Grund auf veränderte.
Durch den Tod Jesu zerschmettert und mutlos gemacht, setzen sie sich kurze Zeit später (vielleicht nicht genau ‹am dritten Tag›) unbeirrt für die Ideale Jesu ein. Sie stehen vor den Obrigkeiten, die ihn zum Tod verurteilt hatten und sagen unerschrocken, ja, fast tolldreist:
‹Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Der Gott unserer Väter hat Jesus, den ihr ans Kreuz gehängt und umgebracht habt, auferweckt. ... Und wir sind Zeugen dieser Ereignisse› (vgl. Apg 5,29-32).»]
_________________________
[1] Der Fließweg: Gedanken zum Daodejing des Laozi (2024)
Lobpreis des Lebens
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Wer eine Autobiografie aufschlägt, lässt sich darauf ein, auch über das Sterben nachzudenken. Das gilt ebenso für Helmut von Loebells Buch Der Stehaufmann (2016).
Ist nicht das ganze Leben ein Sterbenlernen? Ist nicht jedes Umgestoßenwerden des Stehaufmanns ein Sterben, jedes Wiederaufstehen eine Art «Auferstehung»? Ich bin einer, der gelernt hat, aufzustehen, wenn er fällt, schreibt der Autor, und jede Seite dieses Buches liefert den Beweis dafür.
Auch jeder Abschied ist ein Sterben. «Beständiges Abschiednehmen gehört zu den einschneidendsten und schlimmsten Momenten meines Lebens», lesen wir und werden vielleicht an den Vers erinnert, mit dem Rainer Maria Rilke lapidar unser ganzes menschliches Leben beschreibt: «so leben wir und nehmen immer Abschied.»[1]
Jede Trennung ist ein Sterben für uns, besonders die letzte Trennung durch den Tod von uns nahestehenden Menschen. Über den Tod seiner Mutter schreibt Helmut von Loebell: «Sie zog damit die Zugbrücke endgültig ein, die den Graben zwischen uns zeit ihres Lebens nie hatte überbrücken können.» Wir hören das Rasseln dieser Brückenketten und spüren erschüttert, dass hier nicht nur die Mutter starb, sondern er selber.
Scheitern und Enttäuschung können ebenso ein Sterben sein. Bittere Todeserfahrung spricht aus Sätzen wie diesen: «Damit war uns die Grundlage für die Fortsetzung unserer Arbeit entzogen. Wir mussten das Projekt aufgeben.» Oder: «Die Schule als Einrichtung des Freien Geisteslebens ist auf Schenkgeld angewiesen. ... Schließlich führte an der Einführung fester Schulbeiträge kein Weg mehr vorbei. Für mich war das ein Scheitern ...»
Nicht nur über sein eigenes Sterben durch Abschiednehmen, Trennung und Scheitern berichtet der Autor mit entwaffnender Aufrichtigkeit, auch in seinem Umfeld hat er Tag für Tag den Tod vor Augen. «In diesem Slumgebiet wird täglich ein Mensch ermordet», berichtet er lakonisch. Ärgeres noch: «Kinder, ... [die] einfach am Leben kein Interesse mehr haben.» Er lebt mit «Erpressungen oder Drohungen gegen Leib und Leben, bei denen ich mich nur mit meinem gepanzerten Toyota-Jeep, dem Chauffeur und einem 38er-Revolver schützen kann». ‒ «Ich hatte schreckliche Ängste durchlebt, Todesängste.»
Aber mitten in einer Welt von Gewalttätigkeit, Tod und unvorstellbarem Elend weiß dieser erfolgreiche Geschäftsmann Mithelfer zu finden und zu begeistern und schafft mit ihnen ‒ weitgehend aus seinen eigenen Mitteln ‒ «eine Atmosphäre der Liebe und eines tiefen Friedens, … einen Hort der menschlichen Wärme».
Und das gelingt ihm nicht nur einmal, sondern immer wieder von Neuem ‒ neuen Notständen angepasst ‒, an einem Ort nach dem anderen.
Als seine «ureigenste Motivation» erkennt er: «Das ehemals traumatisierte Kind hilft anderen traumatisierten Kindern» ‒ steht ihnen bei, «ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und aus dem Kreislauf von Gewalt und Tod auszuscheren». Das heißt tapfer und beherzt zu leben!
«Querdenken wollte ich, um die Not zu wenden, und vertrauen.»
Dieses Lebensvertrauen bewährt sich immer wieder. «Um mit Hölderlin zu sprechen: ‹Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch›!»[2] ‒
«Während der Untersuchungshaft war ich an meine eigenen Grenzen gestoßen und hatte erfahren, dass es eine höhere Kraft in mir gab, die mich diese Zeit hatte überleben lassen.»
Überleben! Nicht um ein geschwächtes Überdauern geht es dabei, sondern um eine Lebendigkeit, die ‒ inmitten von Gefahr ‒ durch Mut zum Wagnis geradezu überschäumt.
Rühmen nennt Rilke diese Lebendigkeit. Rühmen ist für ihn nicht ein zahmes Besingen, sondern der Inbegriff gewagten Lebens. Auf die Frage, worum es denn eigentlich gehe im Leben, antwortet der Dichter:
«Rühmen, das ist's!»[3]
Aber «Nur wer die Leier schon hob
auch unter Schatten,
darf das unendliche Lob
ahnend erstatten.»[4]
Unter Todesschatten und Schicksalsschlägen lebt Helmut von Loebell, dieser Stehaufmann, ein randvolles Menschenleben. Durch seinen Lebensmut liefert er den Beweis für die leidgeprüften und doch triumphierenden Worte Rilkes:
«Zwischen den Hämmern besteht
unser Herz, wie die Zunge
zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch, die preisende bleibt.»[5]
Diese Autobiografie ist ein Rühmen, ein Lobpreis des Lebens ‒ allem Tod zum Trotz. Dadurch wird sie zur Herausforderung und Lebensschule für uns alle. Auch wir leben ja unter dem Schatten des Todes ‒ unseres eigenen Todes zumindest ‒, dem Höhepunkt jeder Biografie. Höhepunkt, denn
«der Mensch stirbt nicht am Tode, sondern an ausgereifter Liebe.» (Otto Mauer)[6]
«Denn wir sind nur die Schale und das Blatt.
Der große Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht.»[7]
Auch für Helmut von Loebell bleibt das Ausreifen selbstverständlich noch Aufgabe.
«Ich war immer ein Mensch, der sich nicht auf Erreichtem ausgeruht hat, sondern, wenn etwas abgeschlossen war, sich auf den Weg zu neuen Zielen gemacht hat. Was bleibt mir also für die Zukunft zu wünschen?» ‒
Was bleibt uns, den Lesern, zu wünschen? Die große amerikanische Dichterin Mary Oliver gibt eine Antwort auf diese Frage, der ich von Herzen zustimmen kann:
«Wenn‘s aus ist, möchte ich sagen, mein Leben lang
war ich als Braut dem Staunen angetraut,
nahm ich als Bräutigam die Welt in meine Arme.»[8]
Und dann stellt sie uns die Frage, die auch dieses Buch uns letztlich stellt, eine unumgängliche Frage, der wir uns verantwortlich stellen müssen:
«Stirbt nicht alles zuletzt und zu bald?
Sag' mir, was planst denn du zu tun mit deinem
einen abenteuerlichen und so kostbaren Leben?»[9]
[Obiger Text unter dem Titel: ‹Lobpreis des Lebens› ist das Vorwort von Bruder David im Buch Der Stehaufmann (2016); siehe auch den Video Würde ‒ was wären wir ohne sie? (2018), Übersicht über die Themen des Gesprächs und Auszüge]
[Ergänzend:
1. Abschied, der Klang des Lebens
2. Audio Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 1 ‒ Vormittag: Drei Grundfragen Warum? Was? Wie? (Bruder David):
(32:10) Unsere Aufgabe: ‹Rühmen, das ists› (Rilke: Sonette an Orpheus ‒ ‹Ich geh doch immer auf dich zu› (Rilke: ‹Du wirst nur durch die Tat erfasst›) ‒ Kann man denn alles rühmen? ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus) ‒ ‹Zwischen den Hämmern besteht unser Herz› (Rilke: Die Neunte Elegie) ‒ Die Dunkelheit, der Schatten des Geheimnisses und unser eigener Schatten gehören zum Ganzen dazu ‒ ‹Du Dunkelheit aus der ich stamme› (Rilke: Das Stunden-Buch)
(58:30) Gibt es falsche Antworten? Mit Situationen umgehen, in denen wir versagten oder die Gelegenheit versäumten: Sich erinnern, den Fehler eingestehen, aber keine Energie verschwenden mit Schuldgefühlen
3. Audio Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun:
Rühmen und die Gestalt des Orpheus, bei Rilke und den Kirchenvätern eine Christus-Figur – ‹Rühmen, das ists› (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII) – Gott verherrlichen / ‹O trotz Schicksal: die herrlichen Überflüsse› (Die Sonette 2. Teil, XXII) – Wir sind die Treibenden (Die Sonette 1. Teil, XXII) / (31:05) ‹Singe die Gärten, mein Herz, die du nicht kennst› (Die Sonette 2. Teil, XXI) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (hl. Augustinus) / (35:04) Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn (Die Sonette 1. Teil, VIII) – Zwischen den Hämmern besteht unser Herz (Die neunte Elegie) / (39:35) ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Brief an Witold Hulewicz, 13. Nov. 1925) – ‹Preise dem Engel die Welt› – ‹Aber weil Hiersein viel ist› (Die neunte Elegie)
Schweigen
(28:01) Denn wir sind nur die Schale und das Blatt (Das Stundenbuch); siehe auch Anm. 7]
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[1] Rilke, der letzte Vers in der achten Duineser Elegie: ‹So leben wir und nehmen immer Abschied›; siehe das Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
[2] Friedrich Hölderlin: ‹Patmos›; Bruder David in seinem Buch Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 1996-2006, 168f.; ebd. in Reich Gottes ‒ die Vision leben: Ergänzend: 3.:
«Die einzige Antwort, die ich für mich persönlich [auf das Scheitern der ursprünglich gelebten franziskanischen Bewegung] finde, sind Hölderlins Verse:
‹Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.›‹An Zimmern›
Ich glaube an eine Vollendung aller positiven Bemühungen jenseits der Zeit. Dafür kann ich keine Beweise liefern, aber das Gute, das Schöne, das Wahre hat Bestand und unterliegt zu einem gewissen Grad nicht der Zeit. Alle Aufopferung, die wir dem Guten, Schönen und Wahren widmen, vor allem die Mühe, die wir dafür einsetzen, kann nicht verloren gehen. Mehr kann ich nicht sagen. Diese Überzeugung brauchen wir, sonst müssen wir verzagen.»
[3] Rilke: Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII; siehe auch Rühmen, Er-innern, Aufheben und Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 132-134
[4] R. M. Rilke: Die Sonette an Orpheus 1. Teil, IX; siehe auch Doppelbereich Ich-Selbst und Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 99-101
[5] Rilke: Die neunte Duineser Elegie; siehe auch Singen: Haupttext und Anm. 2
[6] Das Wort von Otto Mauer ist ein Leitwort für Bruder David, das wir immer wieder von ihm lesen und hören. Eindrücklich am Schluss des Videos Der Sinn des Lebens und die Dankbarkeit (2024)
[7] Rilke: Das Stunden-Buch: Das Buch von der Armut und vom Tode; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 118
[8] aus: Mary Oliver: When Death Comes:
«When it’s over, I want to say: all my life
I was a bride married to amazement.
I was the bridegroom, taking the world into my arms.»
[9] aus: Mary Oliver: The Summer Day:
«Doesn't everything die at last, and too soon?
TeIl me, what is it you plan to do
With your one wild and precious life?»
Losgelöstheit
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Wenn wir nicht unterscheiden zwischen dem, was wir wollen, und dem, was wir wirklich brauchen, so verlieren wir unser Ziel aus den Augen. Dann werden unsere Bedürfnisse (viele von ihnen nur eingebildet) immer mehr und unsere Dankbarkeit schwindet, damit aber auch unsere wahre Freude. Mönchisches Training kehrt diesen Prozess um. Der Mönch strebt danach, immer weniger zu wollen und so immer dankbarer zu werden für das, was er hat.
Losgelöstheit macht uns bedürfnisloser. Je weniger wir haben, umso leichter ist das, was wir haben, zu würdigen.
Stille schafft eine Atmosphäre, die Losgelöstheit begünstigt. Wie der Lärm das Leben außerhalb des Klosters durchdringt, so ist das Leben des Mönches von Stille durchdrungen. Stille schafft Raum um Dinge, Menschen und Ereignisse … Stille hebt ihre Einzigartigkeit hervor und erlaubt uns, sie eins nach dem andern dankbar zu betrachten. Unsere Übung, dafür Zeit zu finden, ist das Geheimnis der Muße. Muße ist Ausdruck von Losgelöstheit im Hinblick auf die Zeit. Die Muße der Mönche ist ja nicht das Privileg derer, die es sich leisten können, sich Zeit zunehmen, sondern die Tugend derer, die allem, was sie tun, so viel Zeit widmen, wie ihm gebührt. [ST 91, Quelle: AH 1-2) 18; 3-5) 17f.]
Vor langer Zeit suchte mich eine christliche Nonne auf, die intensiv Zen übte. Ein Meister hatte ihr gesagt, sie solle alles loslassen, und jetzt war sie in einem Dilemma. Wie konnte sie denn Christus jemals loslassen? Was ich ihr sagte, brachte mir einige Schwierigkeiten ein. Ich sagte, selbstverständlich müsse sie Christus loslassen, und sie brauche sich überhaupt keine Sorgen darum zu machen, weil ihr alles, was in Bezug auf Christus überhaupt wichtig sei, aufgehen würde, wenn sie erst einmal losgelassen habe.
Danach habe ich sie aus den Augen verloren, ich weiß also nicht, ob sie das getan hat. Aber davon bin ich überzeugt: Wir müssen alles, was wir äußerlich als Christus verstehen, loslassen, müssen alles loslassen, woran wir überhaupt hängen. Nur dann wird sich das auftun, an dem wir nicht zu hängen brauchen, das, was da ist, ohne dass wir daran hängen. Das ist es, worauf sich der hl. Paulus meiner Meinung nach bezieht, wenn er sagt: «Ich lebe, doch nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir.» Und das kann man erst dann erkennen, wenn man alles losgelassen hat, was man überhaupt loslassen kann. [ST 91f., Quelle: SW 50]
Machtpyramide und Netzwerke
Videos, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Mehr als früher hatte ich in meinen 70er-Jahren auch Gelegenheit, Menschen kennenzulernen, die in den USA und anderswo an führenden Stellen unserer Gesellschaft standen und von denen ich daher auch annehmen durfte, dass sie gut informiert waren. Immer wieder hörte ich gerade von Wohlinformierten das Sätzchen:
«So kann es nicht weitergehen! ‒ nicht in Politik, nicht in der Wirtschaft und auch in keinem anderen wichtigen Bereich.»
«Und warum nicht?», fragte ich.
«Weil wir im Begriff sind, uns selbst zu zerstören.»
(Dabei gab es damals noch viele, die Natur und Umwelt bedenkenlos ausbeuteten, den Klimawandel ein grünes Hirngespinst nannten und sich doch für sachkundig hielten.)
Durch Gewalt, Rivalität und Habgier standen wir nun vor der Selbstvernichtung. Und der sind wir in den 30 Jahren seither noch bedeutend näher gekommen. Zugleich sind in derselben Zeitspanne aber auch mehr und mehr Menschen aufgewacht zu der Erkenntnis, dass in Gewaltfreiheit, Zusammenarbeit und Teilen alle Hoffnung für die Zukunft liegt.
Pyramide und Netzwerk erwiesen sich auch als hilfreiche Modelle für das Verständnis meiner persönlichen Erlebnisse in diesem Lebensabschnitt.[1]
Johannes Kaup: «Bei ihrem Begriffspaar Kontemplation und Revolution haben Sie Revolution neu definiert, nämlich als Ende der Machtpyramide und als Aufstieg von Gemeinschaften, die sich netzwerkartig organisieren. Das klingt auf den ersten Blick sehr sympathisch. Ich glaube auch zu verstehen, welche Netzwerke Ihnen da vor Augen stehen. Aber ich werde zur Klärung ein kritisches Gegenargument bringen und missinterpretiere Sie jetzt als ‹Advocatus diaboli› bewusst: Auch eine subversive Nichtregierungsorganisation wie die Mafia organisiert sich neuerdings netzwerkartig. Selbst eine Terrororganisation wie der sogenannte Islamische Staat ist mit schlanken, autonom agierenden Zellen und Netzwerkstrukturen bei Attentaten in Belgien, Frankreich und der Türkei höchst erfolgreich. Wenn in einem Netzwerk Vertrauen nach innen herrscht, sagt das noch nichts über die Ethik der Netzwerkorganisation aus, sondern mehr über ihre Effektivität. Also an der Organisationsform alleine, fürchte ich, ist der neue Geist, den Sie im Sinn haben, nicht festzumachen?»
Bruder David: «Nein, nicht an der Form der Organisation, sondern am Gebrauch der Macht. Die Frage ist: Wird die Macht zur Ermächtigung aller in ihrer Eigenständigkeit verwendet? Das ist wichtig. Es muss für alle gelten, also grundsätzlich alle Menschen einschließen, nicht nur eine bestimmte Gruppe.»
Johannes Kaup: «Das heißt, die Netzwerke, die Ihnen vorschweben, sind universalistisch ausgerichtet.»
Bruder David: «Universalistisch und von Respekt für jeden einzelnen Menschen getragen. Aber Respekt ist vielleicht ein zu blasser Begriff. Es geht um tiefe Achtung vor dem Nächsten, vor allen anderen Menschen und vor dem Leben in all seinen Formen. Diese große Achtung, diese Ehrfurcht vor dem Leben muss zentral sein.»
Johannes Kaup: «Also das, was Albert Schweitzer einmal gesagt hat:
«Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.»
Bruder David: «Genau so. Das wäre die Spiritualität der Netzwerke, von denen ich spreche, und das unterscheidet sie fundamental von den Netzwerken der Mafia oder von Terroristen.»
Johannes Kaup: «Sie beschreiben, wie Sie in den 90er-Jahren als Lehrender[2] am legendären Esalen Institute in Big Sur diese unterschiedlichen Organisationsformen ‒ also Pyramide versus Netzwerk ‒ selbst gut beobachten konnten, samt den Konsequenzen, die das nach sich zog. Die Gemeinschaft, die sich in und um Esalen herum gebildet hatte[3], wollte genau dieses innovative, unterstützende, ermächtigende Netzwerk leben. Letzten Endes hat sich aber dann ein traditionelles Modell durchgesetzt mit einem Aufsichtsrat für den Wirtschaftsbetrieb. Wirken da vielleicht allzu menschliche Motive stärker als der altruistisch kooperative Geist? Brauchen diese Netzwerke, die Sie vorhin charakterisiert haben, nicht auch einen reformierten Menschen im weitesten Sinn oder Voraussetzungen für das menschliche Zusammenleben, die man nicht von vornherein in unserem Gesellschaftssystem mitbringt?»
Bruder David: «Ich glaube, wir brauchen ein neues Bewusstsein, um die notwendigen Veränderungen zu verwirklichen. Der Druck des Alten, der Machtdruck des Alten ist sehr groß. Es bedarf großer Anstrengung, uns gegen diesen Druck zu wehren. Und in Esalen ist das leider nicht geglückt.»
Johannes Kaup: «Warum?»
Bruder David: «Es gelingt leider nicht immer. Mut und Kraft reichen nicht immer aus.» [4]
(Video): Ein Teilnehmer: «Br. David: In den vielen Ausführungen, die ich von Dir gelesen und gehört habe, ist immer wieder ein Begriff vorgekommen, der mich sehr berührt hat und zwar, dass Dankbarkeit eine Revolution ist, die so revolutionär ist, dass sie selbst das Konzept der Revolution revolutioniert. Also dieses Wortspiel schon allein hat mich sehr berührt. In diesem Zusammenhang sprichst Du von einem Netzwerkt von kleinen Netzwerken. Kannst Du uns vielleicht zu diesen Netzwerken etwas mitteilen?»
Bruder David: «Ich versuche nur die Verbindung zu finden … Die Verbindung besteht eigentlich darin, dass das Leben eine Vernetzung ist. Leben ist ein Netzwerk aus Netzwerken. Das ist sowohl das Leben als dieses große Geheimnis, als auch unser Lebenslauf. Man wird als Individuum geboren und wird zur Person, indem man Verbindungen aufnimmt, Beziehungen. Je länger man lebt und je intensiver man lebt, umso mehr Beziehungen, also das Netzwerk von Beziehungen.
(26:53) Wir haben aber seit ungefähr 6000 Jahren Zivilisation dem Leben sozusagen übergestülpt. Zivilisation ist auf einem ganz anderen Prinzip aufgebaut als ein Netzwerk von Netzwerken. Leider, leider ist die Zivilisation, die wir kennen ‒ die einzige Zivilisation, die wir aus Erfahrung kennen ‒, eine Pyramide, eine Machtpyramide.
Das Netzwerk von Netzwerken wird durch Vertrauen aktiviert. Die Pyramide durch Furcht:
Das haben wir schon gesehen, das ist genau das Gegenteil von ‹Netzwerk›:
Die an der Spitze sitzen fürchten alle, weil ja sonst jeder eine Gefahr ist, selber an die Spitze zu kommen, und müssen sich daher durch Gewalt verteidigen. Diese Gewalt kann verschiedene Formen annehmen, aber es ist immer Gewalt.
Die etwas weniger hoch oben sind, die wollen hinaufkommen, sie müssen also die Ellbogen verwenden und mit den Füßen nach unten treten und nach oben buckeln, wie ein Radfahrer, und das ist Rivalität.
Also auf der Mittelschicht ist Rivalität.
Für alle besteht die Furcht, dass nicht genug da ist. Da kommt Habsucht herein. Wenn nicht für Alle genug da ist, dann muss ich so viel wie möglich an mich reißen.
(29:09) Also: Furcht von oben bis unten charakterisiert die Machtpyramide. Wir stehen leider an einem Punkt, an dem wir die Machtpyramide so weit ausgebildet haben, wo alles die ganze Zivilisation in Anspruch nimmt, dass wir uns selber zerstören. Furcht zerstört sich selbst, Furcht bringt immer das herbei, was wir fürchten, löst das aus, was wir fürchten.
Und in allen Bereichen haben wir leider ‒ das ist die große Schwierigkeit unserer gegenwärtigen Situation ‒ den Punkt erreicht, wo es so nicht weitergehen kann.
Daraus ziehe ich den Schluss, dass eben eine Revolution notwendig ist, die diese Pyramide umbaut in ein Netzwerk von Netzwerken. Aber natürlich nicht die Art von Revolution, die wir aus der Geschichte kennen, denn da handelt es sich ja immer nur darum, dass die, die an der untersten Schicht dieser Pyramide sind, jetzt an die Spitze kommen und dort dasselbe machen, was die andern früher gemacht haben. Es ändert sich nichts. Aber wir wagen die ganz andere Revolution. Es gibt schon viele, viele Netzwerke, ungezählte Netzwerke, aber sie sind noch nicht vernetzt. Das ist das Entscheidende.»[5]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 4f.)
[Ergänzend:
1. Konkurrenz, Wettbewerb, Rivalität
2. Video Impuls zur Selbstfindung (2017); siehe auch Transkription:
(23:29) Wir leben in einer Gesellschaft, die eben durch das Ego geprägt ist, und die daher eine Art Pyramide ist. Der Stärkste ‒ zugleich auch wahrscheinlich der, der am meisten Furcht hat, das macht ihn so aggressiv ‒, ich sage i h n, das ist eine sehr männliche Haltung, aber es kann auch Frauen passieren:
Wer am meisten Angst hat, der kommt am höchsten hinauf, weil er die Andern am stärksten tritt. Und da baut sich diese Pyramide auf und jeder ‒ auf jeder Schicht ‒, buckelt nach oben und tritt nach unten, wie ein Radfahrer.
So baut sich diese Machtpyramide auf.
Das Gegenteil ist eine Welt, nicht der Pyramide, sondern der Vernetzung.
Eine Vernetzung, etwas Horizontales, eine vernetzte Gemeinschaft: Idealerweise kennt jeder jeden, das muss ein kleines Netz sein. Und eine Welt, die ein Netzwerk aus kleinen Netzwerken ist, das ist auch das Ideal, dem wir nachstreben dürfen für die Zukunft.
Die Machtpyramide ist ja in unserer Zeit ‒ und das charakterisiert unsere Zeit ‒ im Zusammenbrechen.
Besonders die, die an der Spitze stehen, sagen: ‹So kann’s nicht weitergehen.›
Wir haben einen Endpunkt erreicht.
Ob das jetzt in der Wirtschaft ist oder in der Politik: Auf vielen Gebieten, wo diese Machtpyramide so betont wird: sie bricht vor unsern Augen zusammen.
Und Raimon Panikkar, ein ganz großer Denker des 20. Jahrhunderts, hat gesagt:
‹Wir sollen die Zukunft nicht in einem neuen Turm von Babel suchen, wieder so einen Turm bauen und bis zum Himmel kommen, sondern in wohlausgetretenen Pfaden von Haus zu Haus.›
Das ist die Zukunft, das ersehnen wir uns: ‹wohlausgetretene Pfade von Haus zu Haus.›
Und das ist die Welt des Selbst, wo wir alle zusammengehören, obwohl wir ‒ und gerade darum ‒ unsere individuelle Selbständigkeit und Einzigartigkeit betonen dürfen und können. Und die Andern unsere Begabungen schätzen.›
3. Audios
3.1. Das glauben wir (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
(01:32) ‹Der verleugne sich selbst› ‒ das Kreuz:
‹Das Kreuz war zur Zeit Jesu die Todesstrafe für Menschen, die die Gesellschaftsordnung unterminiert haben. Und das waren davongelaufene Sklaven und Revolutionäre. ‹Wer mir nachfolgen will, muss das Kreuz auf sich nehmen› heißt im Klartext: ‹Wir sind daran, die Gesellschaftsordnung von Grund auf zu unterminieren, und daher gehen wir auf das Kreuz zu›. Laut den Weissagungen in den Evangelien war vorauszusehen, dass Jesus gekreuzigt wird, weil er der gesellschaftlichen Machtpyramide, aufgebaut auf Furcht, Gewalttätigkeit, Rivalität, Habsucht, nicht eine andere Pyramide entgegenstellt, sondern ein Netzwerk ‒ ‹in IHM leben, weben und sind wir› (Apg 17,28) ‒, ein Netzwerk der Furchtlosigkeit, der Gewaltfreiheit, der Zusammenarbeit und des Teilens. Immer wieder in der Geschichte, wenn Menschen diese Lebensform propagiert haben ‒ etwa Franziskus mit seinen Brüdern ‒ sind sie mit der Machtpyramide in Konflikt gekommen. Und leider auch mit der Machtpyramide, insofern die Kirche selbst diese Machtpyramidenstruktur angenommen hat. Der jetzige Papst Franziskus unterminiert die Pyramidenstruktur der Kirche ‒ endlich einmal ‒, so wie Jesus es gemacht hätte. Und man muss nur hoffen, dass er nicht auch gekreuzigt wird.›
3.2. Audio Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Was hindert gesundes spirituelles Wachstum?; siehe auch (Mitschrift):
(05:14) Gott als Machthaber getrennt von uns: ‹Durch diese Vergiftung des Gottesbildes werden wir daran gehindert, das MEHR immer tiefer zu verstehen, immer williger zu verwirklichen, immer freudiger und schöpferischer zu feiern. Und das verbindet sich dann noch mit religionspolitischer Machtpolitik. Denn es schafft dann eine Pyramide: oben ist dieser Machthaber und diese Pyramide geht herunter und weiter und weiter herunter, und jeder bemüht sich, ziemlich hoch auf dieser Pyramide oben zu sein ‒ je höher, umso besser ‒ und wir fühlen uns dann ein bisschen höher als die andern, die da weiter unten sind.
Das ist etwas außerordentlich Gefährliches. Auf der Ein-Dollar-Note finden Sie diese Pyramide oben geschnitten und über ihr das Auge Gottes: Das ist dieser himmlische Polizist, der uns überall sieht und uns bestraft. Das ist giftig und vergiftend.›
4. Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:
«Revolution ist für Sie ein wichtiger Begriff, der allerdings aus Ihrer Sicht revolutioniert werden müsste. Bisher wurde die jeweilige Machtpyramide immer einfach auf den Kopf gestellt. Die ehemaligen Revolutionäre stiegen von unten nach oben, ansonsten blieb alles wie bisher. Ihnen schwebt stattdessen ein Netzwerk vor. Was verstehen Sie darunter?»
«Die Idee ist, die Hierarchie der Macht abzubauen, also die Pyramide der Ausbeutung und Unterdrückung, und sie in ein Netzwerk umzuwandeln. Auch ein Netzwerk kommt keineswegs ohne Autorität aus, aber Autorität ist nicht Machtbefugnis. Das ist ein völliges Missverständnis, aber das ist oft die erste Bedeutung, die man heutzutage diesbezüglich im Wörterbuch findet. Autorität ist ursprünglich Grundlage für rechtes Wissen und Handeln. Und da gibt es Menschen, die auf einer höheren Bewusstseinsebene stehen und deswegen verlässlicher sind, wenn es darum geht zu klären, was man tun soll und wie. Es wäre wichtig, diesen Menschen auch in einem Netzwerk die Autorität einzuräumen. Was wir brauchen, ist eine Vernetzung von Netzwerken. Denn gewisse Probleme sollten nur auf der untersten Ebene gelöst werden. Und nur, wenn dort keine Lösung gefunden werden kann, sollte das Problem auf der nächsten Ebene behandelt werden. Hinter der Idee von einem Netzwerk von Netzwerken stehe ich, aber es muss mit Autorität höheren Bewusstseins verbunden sein.»
5. Kirche als Machtpyramide
5.1. Brücken statt Mauern: Bruder David zu Ostern 2017:
«Furcht baut Mauern,
Vertrauen baut Brücken.
Beides ‒ und das ist die Tragik der Kirchengeschichte ‒ finden wir innerhalb der einen Kirche. Sie wurzelt in der Predigt Jesus vom Reich Gottes, verweltlicht aber zur Machtpyramide und baut Mauern von Furcht, Ausgrenzung und Habsucht.»
5.2. Osterbrief 2023:
«Eine katastrophale Entwicklung war es, dass die Kirche schon bald von der Netzwerkstruktur des ‹Reiches Gottes› auf die der Machtpyramide Roms zurückfiel. In ihr aber sprangen immer wieder Gruppen auf, die das ursprüngliche Ideal verwirklichten.»
5.3. Dankbarkeit ist ein Erfolgsprinzip (2018): Interview von Antje Luz mit Bruder David:
«Die Geschichte der WM begann mit der päpstlichen Enzyklika von 1891. Sie besagte, dass soziale Themen keine wirtschaftlichen, sondern moralische seien. Sie prägte den WM-Gründer Jules Rimet, der um die Jahrhundertwende den Fußball für soziale Gerechtigkeit nützte. Menschen aus allen sozialen Schichten sollten spielen und Geld verdienen können. Können Sie uns mehr zu dieser Enzyklika sagen?»
«Das war die ‹Rerum Novarum› von Papst Leo XIII. Sie ist für mich eine der allerwichtigsten Enzykliken der Neuzeit, vielleicht die wichtigste, weil sie sich als erste ausdrücklich mit sozialen Themen befasst hat. Und das wichtigste Thema darin ist für mich das Prinzip der Subsidiarität als Mittel für soziale Veränderung. Papst Leo XIII. hat es da zuerst formuliert und Papst Pius XI. hat es in der darauffolgenden Enzyklika, das war die ‹Quadragesimo Anno›, aufgenommen und verfeinert.»
«Was besagt das Prinzip der Subsidiarität?»
«Jede Entscheidung soll auf der niedrigsten Ebene getroffen werden, die dazu fähig ist. Also eine Strukturierung der Organisation von unten nach oben. Das erlaubt Selbstbestimmung und war wirklich ein ganz wichtiger Impuls, den Papst Leo XIII. da gesetzt hat. Die Tragik ist, dass es weder in der Kirche noch in der Gesellschaft richtig aufgegriffen wurde. Also wenn die Kirche das seit 1891, seit über hundert Jahren, verwirklicht hätte, dann wären wir in der Entwicklung weit voraus.»
«Inwiefern?»
«Unsere Zivilisation hat von Anfang an eine Machtpyramide aufgebaut, die sich derzeit im Zusammenbrechen befindet. … Das Prinzip der Subsidiarität ist die Lösung, denn es ersetzt die Machtpyramide durch ein Netzwerk. Die Zukunft unserer Welt ist entweder ein Netzwerk von Netzwerken oder wir haben überhaupt keine Zukunft. Der große Denker Raimon Panikkar hat das sehr schön ausgedrückt. Er hat gesagt: «Unsere Zukunft ist kein neuer Turm, ganz gleich wie hoch, sondern unsere Zukunft liegt in wohl ausgetretenen Pfaden von Haus zu Haus.» Das ist das Netzwerk. Und in dem Sinn könnte natürlich auch Sport ein Netzwerk von Netzwerken sein. Es ist ja jetzt schon mehr darauf angelegt als der Rest unserer Gesellschaft. Es gibt keinen Sportpapst…»
5.4. Bruder David berichtet von seiner Romreise 2018:
«Nach Jahrhunderten von immer mehr ins einzelne gehender Gleichschaltung – die zwischen Christianisierung und Europäisierung nicht unterscheiden konnte – zeigt sich heute, dass das bei einer Weltkirche überhaupt nicht mehr möglich ist. Dem Papst setzt aber bei jedem Versuch die Machtpyramide in ein Netzwerk zu verwandeln der vatikanische Machtapparat Widerstand entgegen. Da könnte es ihm eben helfen, sich auf das Subsidiaritätsprinzip zu berufen, dem schon seine Vorgänger Ansehen und Gewicht verliehen haben.
Ich habe also in kürzester Form – in nur vier Zeilen auf Spanisch – mein Anliegen aufgeschrieben: die Bitte an Papst Franziskus, darüber zu sprechen, wie das Subsidiaritätsprinzip praktisch in der Kirche angewendet werden könnte.»
5.5. Weihnachten geht nicht nur uns Christen an (2016): Interview von Josef Wallner mit Bruder David:
«Als Benediktiner sind Sie ein Mann der Kirche. Warum tun sich viele Menschen mit der Kirche so schwer? Schmerzt Sie das?»
«Ja, es tut mir weh, aber ich tu mir ja selber mit der Kirche schwer. Die Krise der Kirche – das ist wiederum so ein Engpass, durch den wir mit Gottvertrauen durchgehen müssen. Der Engpass lässt sich kurz so umreißen: Jesus hat zu seinen Lebzeiten das Reich Gottes auf Erden damit angebahnt, dass er arme Menschen inspiriert hat, noch ärmeren zu helfen. Das kann man historisch ganz überzeugend rekonstruieren. Kirche hat ursprünglich mit kleinen Gemeinden begonnen. Paulus spricht von der Kirche im Haus von Nympha oder von Priscilla and Aquila. Die Kirche war eine konkrete kleine Gemeinschaft. Nur abstrakt konnte man von der Kirche im Allgemeinen sprechen, von der Vernetzung der kleinen selbständigen Netzwerke zum Zweck gegenseitiger Hilfe. Durch Kaiser Konstantin wurde aus dem Hilfsnetz eine Machtpyramide. Das ist die Katastrophe.
Mit der Kirche als Machtpyramide haben viele von uns große Schwierigkeiten. Aber diese Form von Kirche ist am Zusammenbrechen. Ob wir es wollen oder nicht. Man braucht schon gar nicht mehr daran rütteln. Wir müssen uns vielmehr bemühen wieder Netzwerke zu schaffen, damit die Botschaft vom Reich Gottes nicht verstummt, wenn die Machtpyramiden-Kirche verschwindet. Gott sei Dank haben wir in Franziskus einen Papst, der um eine neue Form von Kirche bemüht ist – um die ursprüngliche, soweit das in seinen Händen liegt. Er setzt auch ganz klare Zeichen, die zeigen, dass er nicht an der Spitze einer Machtpyramide stehen will. Papst Franziskus ruft vielmehr zur Zusammenarbeit und zum Miteinander auf. Ich bin sehr dankbar für unseren Papst.»]
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[1] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Kontemplation und Revolution, 1996-2006, 157f.
[2] Wie «gratefulness» nach Europa kam (2020)
[3] Ebd. 158-160 geht Bruder David auf die Geschichte von Esalen ein und fasst zusammen:
«Rückblickend scheint mir, dass sich hier der Gegensatz von Netzwerk und Pyramide in Kleinformat darstellte. Im Bereich von Programmen für Unternehmer hat Esalen sich zwar verdient gemacht und ich durfte selbst an Konferenzen teilnehmen, bei denen Geschäftsleute und bahnbrechende Vordenker aus dem Bereich der Ökonomie neue, humanere Modelle der Betriebsführung vorstellten. Verwaltungsmässig aber folgt Esalen dem herkömmlichen Modell und die Hoffnungen von Dick Price [der 1961 mit Mike Murphy das heutige Esalen gründete] und dem Netzwerk der ursprünglichen Kommune gehören der Vergangenheit an.»
[4] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 166-168
[5] Video Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019), siehe auch Mitschrift des Vortrages, 6f.
Mich-Verlieren ‒ Finden
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Versuchen Sie es einfach, erinnern Sie sich ganz konkret an eine Erfahrung, in der Sie etwas sehr tief berührt hat, eine Erfahrung, in der Sie auf irgendeine Weise über die normale Ebene erhoben wurden.
Ich sagte, dass der Inhalt dieser Erfahrungen schwer zu fassen sei. Sie könnten sogar sagen: «Mensch, da ist ja überhaupt nichts Richtiges passiert!» Nun, das ist ein tiefer Einblick, denn wenn Sie es nicht zulassen, dass etwas geschieht, dann ist das die größte mystische Erfahrung.
Wenn Sie weiter versuchen, darüber zu reden, werden Sie auf Redewendungen kommen wie: «Ich habe mich einfach ganz verloren. Ich habe mich verloren, als ich dieses Stück Musik hörte.» Oder: «Ich habe mich verloren, als ich diesem Strandläufer zuschaute; sobald die Wellen kommen, läuft er zurück, und dann läuft er wieder den Wellen nach.»
Sie verlieren sich in einer solchen Erfahrung, und wenn Sie sich für eine Weile verloren haben, sind Sie nie mehr ganz sicher, ob die Wellen den Strandläufer jagen, oder ob der Strandläufer die Wellen jagt, oder ob überhaupt irgendjemand irgendjemanden jagt. Aber es ist dort etwas geschehen, und Sie haben sich wirklich darin verloren.
Und dann, seltsamerweise, paradoxerweise ‒ und genau darauf wollen wir hinaus; auf die Paradoxa, die in jeder mystischen Erfahrung vorhanden sein müssen ‒, stellen Sie auch fest, dass Sie in dieser Erfahrung, in der Sie sich verloren haben, wirklich Sie selbst gewesen sind.
«Das war ein Augenblick, in dem ich wirklich ich selbst war, mehr als sonst. Es hat mich einfach fortgetragen.»
Das ist ein poetischer Ausdruck. Manche Dinge im Leben kann man nur dichterisch ausdrücken, und so geraten diese Ausdrücke auch in unser Alltagsleben.
Aber auch hier finden wir wieder das Paradoxon, denn über dieselbe Erfahrung, von der wir gesagt haben: «Es hat mich fortgetragen», müssen wir auch sagen: «Ja, aber in dem Augenblick, in dem ich am stärksten fortgetragen wurde, war ich viel stärker in der Gegenwart, als ich es sonst jemals bin.»
Wie die meisten von uns, so muss auch ich zugeben, dass ich nicht voll dort gegenwärtig bin, wo ich jetzt bin. Statt dessen bin ich mir selbst zu neunundvierzig Prozent voraus und werde schon von dem angezogen, was noch kommt, und zu neunundvierzig Prozent bin ich hinter mir, hänge noch an dem, was schon vorbei ist. Es ist kaum etwas von mir übrig, um wirklich in der Gegenwart zu sein.
Dann passiert etwas, das gar nicht fassbar ist, jener Strandläufer etwa, oder Regen auf dem Dach, das trifft mich plötzlich und für den Bruchteil einer Sekunde bin ich wirklich da, wo ich bin. Es trägt mich fort und ich bin dort, wo ich mich befinde. Ich habe mich verloren, und ich habe mich gefunden, mein wirkliches Selbst. allein. [Der Mönch in uns (1978)]
[Ergänzend:
1. Die Achtsamkeit des Herzens (2021):
«Das Gipfelerlebnis ist deshalb so befreiend, weil wir endlich einmal nicht fühlen, dass wir fühlen, und nicht wissen, dass wir wissen, sondern einfach nur fühlen und wissen, weiter nichts. Erst später können wir darüber nachdenken und so davon sprechen. Unsere Beschreibung könnte sich dann etwa so anhören: ‹Es hat mich einfach überwältigt› oder ‹Ich war völlig weg.› Auch wenn es nur für den Bruchteil einer Sekunde der Fall war: ‹Ich hatte mich ganz vergessen.› Das war alles; aber doch nicht ganz, denn in der Rückschau wird mir auch bewusst, dass ich während des Gipfelerlebnisses mehr ich selbst war als jemals sonst. Und so finde ich mich mit dem merkwürdigsten Widerspruch konfrontiert, dass ich am wahrhaftigsten ich selbst bin, wenn ich mich vergesse. Wenn ich mich verliere, finde ich mich selbst.» [ST 54f.; AH 1-2 107; 3-5) 104]
2. In Der Mönch in uns (1978) untersucht Bruder David, wie wir jedes Gipfelerlebnis ‒ jede mystische Erfahrung ‒ paradox wahrnehmen und ausdrücken:
«Ich habe mich verloren und zugleich gefunden.»
«Wenn ich am meisten bin, bin ich mit allem eins»: Allein ‒ All-Eins
«Um die Antwort zu finden, musst du die Frage aufgeben»: Ja-sagen
Hinweis: Der Mönch in uns (1978) ist eine Übersetzung des amerikanischen Originaltextes aus dem Jahr 1974. Kapitel 3 «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 44-63, enthält den Originaltext in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger; siehe auch die Übersetzung von Eve Landis in Der Mönch in uns (1981)
3. Retreat-Woche in Assisi (1989):
Audio: Paradoxien und Meilensteine auf dem Weg vom Gottahnen zum Gottesbewusstsein bis zum Bekennen: ‚Ich glaube an Gott‘:
(00:00) Paradoxe Gottesbegegnung: Da war ich einfach weg und zugleich wirklich da]
Mitgefühl
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Es stimmt, dass die gesamten Charaktereigenschaften, die wir entwickeln, indem wir auf die jeweiligen Anforderungen des Augenblicks eingehen oder nicht, eine Art karmisches Selbst oder unseren Seelenzustand darstellen. Diese recht unerbittliche Tatsache findet allerdings ein Gegengewicht in der Einsicht, dass jedwedes Karma, das sich angesammelt haben mag, vollständig aufgelöst werden kann durch mitfühlende, von Herzen kommende Vergebung. Auch wenn es in unserer Alltagswirklichkeit noch etwas durchzuarbeiten gibt, dann ist dem doch der Stachel genommen. Es wirkt nicht mehr destruktiv und lebensverneinend. Leiden, das zu Mitgefühl führt, ist schöpferisch und lebensermutigend. [ST 93, Quelle: MS 5) 113f.]
Muße
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Vielleicht kann es für uns eine Hilfe sein, wenn wir uns klarmachen, dass Arbeit im engsten Sinn eng mit dem Zweck zusammenhängt: Arbeit ist die Art von Tätigkeit, die auf einen bestimmten Zweck abzielt, und wenn dieser bestimmte Zweck erfüllt ist, hört die Arbeit als solche auf.
Spielen dagegen ist etwas ganz anderes. Das Spielen zielt nicht auf irgendeinen bestimmten Zweck. Aber das Spielen hat Sinn; das Spielen lässt Sinn aufblühen.
Man arbeitet, bis man seinen Zweck erfüllt hat. Man wischt den Boden, bis er ganz gewischt ist. Aber man singt nicht, um ein Lied abzusingen, sondern man singt ganz einfach, um zu singen.
Und, wie der Religionsphilosoph Alan Watts gesagt hat, man tanzt auch nicht, um irgendwohin zu kommen, sondern man tanzt, um zu tanzen. Das hat seinen Sinn ganz in sich selbst.
Nun neigen wir aber zu der Vorstellung, das Gegenteil von Arbeit sei die Muße. Aber die Muße ist nicht das Gegenteil von Arbeit.
Wenn man schon eine Polarität aufstellen will, dann kann man sagen, das Gegenteil von Arbeit sei das Spiel.
Die Muße aber ist genau die Brücke über diese Kluft zwischen beidem.
Das heißt, man bringt in seine Arbeit das hinein, was das Wichtigste beim Spielen ist, nämlich, dass man sie um ihrer selbst willen tut und nicht dazu, um mit ihr einen bestimmten Zweck zu erfüllen.
Das heißt aber, dass man ihr Zeit lassen muss.
Muße ist kein Privileg für solche, die sich für die Muße Zeit nehmen können. Muße ist eine Tugend, nämlich die Tugend derjenigen, die allem Zeit lassen, was immer Zeit braucht, und ihm so viel Zeit widmen, wie es verdient, und deswegen in Muße arbeiten und in ihrer Arbeit Sinn finden und ihr Leben voll entfalten.
Wenn wir eine strikte Arbeitsmentalität haben, leben wir nur halb. Wir sind dann wie Menschen, die bloß einatmen und deswegen ersticken. Es macht auch gar keinen Unterschied aus, ob man bloß einatmet oder bloß ausatmet; in beiden Fällen erstickt man.
Damit lässt sich recht gut die Tatsache vor Augen führen, dass wir die Arbeit nicht gegen das Spielen ausspielen sollten und auch nicht den Zweck gegen den Sinn. Beides muss Hand in Hand gehen. Wir müssen einatmen und ausatmen, und so erhalten wir uns am Leben. Darum geht es ja in Wirklichkeit bei allem, worauf wir aus sind, und darum muss es auch der ganzen Religion gehen: um das Lebendigsein. [Auf dem Weg der Stille (2016), 61f.]
Diese Art von Erfahrung benötigen wir, um unsere Weltsicht zu korrigieren. Gar zu leicht neigen wir zu der Vorstellung, dass Gott diese Welt aus einem bestimmten Zweck erschuf. Wir sind dermaßen im Zweckdenken verfangen, dass wir uns sogar Gott als zweckgebunden vorstellen. Gott aber spielt. Die Vögel eines einzigen Baumes sind Beweis genug, dass Gott sich nicht mit einer göttlichen No-Nonsense-Haltung daran machte, eine Kreatur zu schaffen, die auf perfekte Weise den Zweck eines Vogels erfüllt. Was könnte dieser Zweck auch sein, frage ich mich. Es gibt Kohlmeisen, Schneefinken und Amseln, Spechte, Rotkehlchen, Stare und Krähen. Der einzige Vogel, den Gott nie geschaffen hat, ist der No-Nonsense-Vogel.
Öffnen wir unsere Augen und Herzen für Gottes Schöpfung, dann sehen wir schnell, dass Gott ein spielerischer Gott ist, ein Gott der Muße.
Menschen, die ihre Arbeitszeit mit nichts als ihrem Ziel vor Augen verbringen, wissen kaum mehr, was spielen heißt, wenn ihre Freizeit schließlich anfängt. Entweder fallen sie erschöpft mit einem Glas in der Hand in das Sofa vor dem Fernsehschirm, weil diese Art von Arbeit einen völlig verschleißt. Oder aber sie sind so sehr der Gewohnheit bloßem Zielstreben verfallen, dass sie auch jetzt weiterarbeiten. Unfähig zu spielen, machen sie entweder Überstunden, oder arbeiten mit ihren Golf- oder Tennisschlägern in den Händen weiter.
Wir sind einfach solange unfähig, spielerisch zu spielen, wie wir nicht gelernt haben, spielerisch zu arbeiten.
Spielerisch arbeiten?
Hört sich das nicht beinahe frivol an, wenn man die Haltung zur Arbeit bedenkt, die vielen von uns eingebläut wurde? Spielerisch arbeiten, das klingt wie Herumspielerei. Und doch führt eigentlich nur jene Arbeit, die wir mit Muße tun, zum Ziel. Das Ziel ist ja nicht der Zweck, sondern ein sinnerfülltes Leben.
Mit Muße arbeiten heißt, die Sinnbetonung, die wir vom Spiel her kennen, auch in unserer Arbeit zu verwirklichen. Muße lässt inmitten einer zielgerichteten Aktivität Raum für Sinn.
Das chinesische Schriftzeichen für Muße besteht aus zwei Elementen, die für sich genommen offenen Raum und Sonnenschein bedeuten: Muße schafft Raum, um die Sonne hineinscheinen zu lassen. Eines späten Morgens sah ich einmal ein Bündel Sonnenstrahlen im steilen Winkel in die von Menschen geschaffene Schlucht der Wall Street fallen und verstand, was jenes alte chinesische Ideogramm für Muße beschäftigten New Yorkern zu sagen hätte.
Wenn unsere zweckgerichtete Arbeit obendrein sinnvoll ist, dann werden wir uns inmitten all der Arbeit wohlfühlen. Dann werden wir nicht so darauf versessen sein, sie hinter uns zu bringen. Wenn du nur einige Minuten täglich damit verbringst, etwas hinter dich zu bringen, dann könntest du im Verlauf eines ganzen Lebens Tage, Wochen und Jahre vergeuden. Sinnlose Arbeit ist eine Art, Zeit totzuschlagen. Muße aber lässt die Zeit lebendig werden.
Das chinesische Schriftzeichen für Geschäftigkeit ist ebenfalls aus zwei Elementen zusammengesetzt: aus Herz und Töten. Eine zeitgemäße Warnung. Selbst unser Herz ist nur dann gesund, wenn es mit Muße schlägt.
Das Herz ist ein Muskel mit Muße
Er unterscheidet sich von allen anderen Muskeln. Wie viele Liegestütze schaffst du, bevor deine Muskeln an Armen und Bauch so müde werden, dass du anhalten musst? Dein Herzmuskel aber arbeitet, solange du lebst. Er wird nicht müde, denn eingebaut in jeden Herzschlag ist eine Ruhephase. Für unser körperliches Herz ist es wesentlich, dass es in aller Ruhe arbeitet. Wenn wir unsere innerste Wirklichkeit «Herz» nennen, dann bedeutet das, dass jene lebensspendende Ruhe und Muße unserem tiefsten Wesen entspricht. [FN 1) 65f.; 2-5) 67-69; 6) 68-70]
[Ergänzend:
Muße ist Ausdruck von Losgelöstheit im Hinblick auf die Zeit.
«Muße ist mit den äußeren Fakten von Arbeitspause, Freizeit, Wochenende, Urlaub nicht schon gegeben. Muße ist ein Zustand der Seele!» Das schrieb Josef Pieper (1904–1997), der in der Muße die Voraussetzung aller Kultur erblickte. Nur durch Muße finden wir den rechten Rhythmus für Arbeit und Entspannung, fürs Allein- und Beisammensein, fürs Schlafen und Wachen und für alles, was wir tun. Wir stimmen uns ein auf den Rhythmus im großen Tanz.]
Mystik – Mystiker
Text und Video von Br. David Steindl-Rast OSB
Im mystischen Erleben Gottes erfahren wir uns nicht als Wesen, die von Gott getrennt sind, sondern als Wesen, die mit dem Göttlichen eins sind. Das wird von allen Menschen ‒ ganz gleich, wie sie religiös eingestellt sind ‒ in einer innigen Weise erlebt. Da gibt es keine Glaubenssätze mehr, und der Mensch erlebt, dass sein innerstes Geheimnis eine göttliche Wirklichkeit ist: Ich kann mein Tiefstes nicht ausloten, denn diese tiefste Wirklichkeit ist meine göttliche Wirklichkeit. Das ist schon in der Bibel gut ausgedrückt: Der Mensch ist Gottes Ebenbild ‒ Gott ist es, der durch uns hindurch atmet, wir sind durch Gottes eigenes Leben lebendig und genauso auslotbar wie er. Dann erleben wir, wie das der amerikanische Dichter Edward Estlin Cummings treffend ausgedrückt hat: «I am through you so I» («Durch dich bin ich so Ich») ‒ in Deutschland haben diesen Gedanken Martin Buber und Ferdinand Ebner weitläufig ausgeführt. Zuerst bin nicht Ich, sondern du. Ich bin nur deshalb so sehr Ich, weil es dieses DU gibt, das mir gegenübersteht und auf das ich mich beziehe. Dieses DU nennen wir in der christlichen Tradition «Vater», aber wir könnten auch genauso gut «Mutter» sagen.
Dieses Göttliche also kann jeder Mensch in sich auffinden ‒ und dann staunt er, ist überwältigt und empfindet Ehrfurcht und Dankbarkeit. Es tritt jedem als Geheimnis entgegen ‒ trotzdem umgibt es uns von allen Seiten. Es überragt alles ‒ trotzdem können wir es als DU persönlich fassen und erleben, ob wir nun Buddhisten oder Christen sind. Und wenn wir uns fragen: Was erleben wir eigentlich zutiefst? So ist die Antwort: Wir erleben unsere eigene Lebendigkeit, die aus der Beziehung zu diesem DU entsteht. Wir spüren das Leben in uns durch die Beziehung, in der die Liebe vom DU zum Ich fließt und vom Ich zum DU zurückfließt. Und diesen Fluss nennen wir in der christlichen Tradition den Heiligen Geist. [ST 95f., Quelle: Gelebte Dankbarkeit]
Gibt es überhaupt religiöses Wissen, das diesen Namen verdient und nicht aus Erfahrung stammt? Wenn religiöse Traditionen vom göttlichen Leben in uns sprechen, dann setzen sie zumindest implizit unsere Höhepunkte wacher Bewusstheit voraus, unsere mystischen Erfahrungen. Wir sind alle Mystiker. Wenn Mystik definitionsgemäß die Erfahrung der Kommunion mit der letzten Wirklichkeit ist (mit Gott, wenn du dich mit dem Begriff wohlfühlst), wer könnte dann abstreiten, ein Mystiker zu sein? Ohne irgendwelche Erfahrungen einer letzten Wirklichkeit wüssten wir nicht einmal, was mit Wirklichkeit im alltäglichsten Sinn gemeint ist. Wir wüssten nicht einmal, was «ist» bedeutet oder «jetzt». Wir wissen es aber.
Ebenso wie wir Kontemplation nicht den Kontemplativen überlassen dürfen, so können wir die Mystik nicht den Mystikern überlassen. Das hieße, die Wurzeln menschlichen Lebens abzuschneiden. Setzen wir die Mystiker in unseren Gedanken auf ein Podest, hoch oben und außerhalb unserer Reichweite, dann werden wir weder ihnen noch uns selbst gerecht. Ähnlich dem, was Ruskin über das Künstlersein äußerte, könnten wir sagen: Ein Mystiker ist keine besondere Art Mensch; vielmehr ist jeder Mensch eine besondere Art Mystiker. Warum sollte ich mich der Herausforderung nicht stellen und jener einzigartige, unersetzliche Mystiker werden, der nur ich werden kann? Niemals hat es jemanden gegeben, und niemals wird es jemanden geben, der mir völlig ähnlich ist. Wenn ich es versäume, Gott in der nur mir eigenen Weise zu erfahren, dann wird jene Erfahrung für immer und ewig im Schattenland der Möglichkeiten bleiben. Mache ich jedoch diese Erfahrung, dann lerne ich das Leben in Fülle durch das göttliche Leben in mir selbst kennen. [ST 96f., Quelle: FN 1) 76f.; 2-5) 78f.; 6) 79f.]
[Grundlegend: Steindl-Rast, David: Mystik als Grenze der Bewusstseinsrevolution: Eine Betrachtung, in: Stanislav Grof (Hrsg.): Die Chance der Menschheit: Bewusstseinsentwicklung ‒ der Ausweg aus der globalen Krise (1988), 168-194]
[Grundlegend: David Steindl-Rast: Die Religion religiös machen in: Erhard Doubrawa (Hrsg.): Verbunden trotz Abstand: Von Gipfelerlebnissen und mystischen Erfahrungen (2021), 43-67, sowie: Einführung von David Steindl-Rast in: Abraham Maslow: Jeder Mensch ist ein Mystiker: Impulse für die seelische Ganzwerdung (2014), 7-13]
[Ergänzend:
Folgende Interviews: Mystiker sind wie Hechte im Karpfenteich: Interview mit Br. David Steindl-Rast im Kirchenbote, Zürich) (2005). ‒ Wir können alle Mystiker sein: Interview mit David Steindl-Rast von Gisela Remler (2009). ‒ Jeder Mensch ist ein Mystiker: Interview mit Br. David Steindl-Rast in den «Salzburger Nachrichten» (2010). ‒ Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt, Mystiker zu sein: Interview mit David Steindl-Rast von Evelin Gander) (2020)]
Mitschrift des Videos «Der Atem der Stille: Mystik heute» (2006) vom Gespräch mit Willigis Jäger und Br. David Steindl-Rast.
Video auf YouTube: Mystik für alle ‒ ist jeder Mensch ein Mystiker (2017)]
Quellenangaben
Mystische Erfahrung
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Vergegenwärtigen Sie sich einen Augenblick, in dem Sie, wie sonst kaum, das Leben als sinnvoll empfanden, einen Augenblick, von dem Sie sagen würden:
«Für diese Erfahrung lohnt es sich zu leben.»
Das wäre eine Art kleinster gemeinsamer Nenner. Sie müssten sich sagen können:
«In diesem Augenblick hatte das Leben einen Sinn.»
Selbst wenn Sie sich sagen sollten: «Die meiste Zeit kommt mir das Leben sinnlos vor», so gab es sicherlich einen Augenblick, in dem es Ihnen sinnvoll erschien. Das ist der Augenblick, an den wir anknüpfen wollen.
Für manche ist ein solcher Augenblick etwas sehr Seltenes. Ein anderer bzw. eine andere wird sich vielleicht sagen: «Ich weiß gar nicht, welchen Augenblick ich mir aussuchen soll, ich habe diese Art von Erfahrung sehr häufig, ja ich werde von solchen Erfahrungen geradezu überschüttet, vielleicht fünfzehnmal am Tag.»
Nun, das ist für unsere weitere Betrachtung egal. Wichtig ist, dass Sie sich an einen Augenblick erinnern, in dem Ihnen das Leben sinnvoll erschienen ist. Dieser Augenblick soll uns als Ausgangspunkt dienen.
Um den Erinnerungsprozess anzukurbeln, werde ich Ihnen jetzt eine kurze Textstelle vorlesen, mit der viele von Ihnen vertraut sein dürften. Sie stammt aus Eugene O'Neills bekanntem Theaterstück «Eines langen Tages Reise in die Nacht.»
Man braucht das Stück oder die Handlung nicht zu kennen, um diese Stelle richtig zu verstehen. Einer der Hauptakteure, Edmund Tyrone, erzählt seinem Vater James von einem Erlebnis, das die oben angesprochene Erfahrung veranschaulicht. Edmund ist zu diesem Zeitpunkt leicht angetrunken, was ihm das Reden darüber erleichtert.
Stellen Sie fest, ob das, was Edmund sagt, nicht etwas in Ihnen wachruft.
«Du hast mir da ein paar Höhepunkte aus deinen Memoiren erzählt. Willst du meine hören? Sie haben alle mit dem Meer zu tun. Ich will dir erzählen. Von damals, als ich auf der Squarehead, die nach Buenos Aires auslief, Matrose war.
Vollmond! Der alte Kahn macht vierzehn Knoten. Ich liege vorne am Bugspriet, schau achtern aus, das Wasser schäumt unter mir, und die Maste über mir türmen sich hoch auf mit ihren weißen Segeln im Mondlicht. Ich war wie trunken von all der Schönheit und dem singenden Rhythmus des Ganzen.
Für einen kurzen Augenblick verlor ich mich selbst ‒ wirklich, ich verlor mein Leben. Ich war befreit, war frei! Ich löste mich auf in Meer, wurde weißes Segel und fliegende Gischt, wurde Schönheit und Rhythmus, Mondlicht und das Schiff und der hohe mit Sternen übersäte, verschwimmende Himmel. Ich gehörte, ohne Gegenwart und ohne Zukunft, mit hinein in den Frieden und die Einheit und in eine wilde Freude, in etwas, das größer war als mein eigenes Leben, größer als das Menschenleben überhaupt, ich gehörte zum Leben selbst! Zu Gott, wenn du willst ...
Und dann noch ein paarmal sonst in meinem Leben, wenn ich weit ins Meer hinausgeschwommen war oder allein an einem Strand lag, habe ich dasselbe Erlebnis gehabt.
Ich wurde die Sonne, wurde der heiße Sand, der grüne Seetang am Fels verankert, auf- und abschwingend mit Ebbe und Flut. Wie die Vision eines Heiligen vom Glück kam es über mich. Wie wenn eine unsichtbare Hand den Schleier weggezogen hätte von den Dingen. Für eine Sekunde sieht man ‒ und wenn man das Geheimnis erkennt, ist man selbst das Geheimnis.
Für einen Moment ist Sinn! Dann lässt die Hand den Schleier fallen, und man ist wieder allein, verloren im Nebel und stolpert weiter, irgendwohin, ohne zu wissen warum.»
Bei manchen Worten müsste es in unserem Inneren klingeln.
Das ist das Großartige daran, wenn ein Dichter spricht:
Die Schlüsselworte sind alle da: «Ich verlor mich selbst.»
Vielleicht ist dies die einzige Stelle, bei der Sie sagen können: «Ich weiß, wovon er spricht. In diesem Augenblick verlor ich mich selbst.»
Oder, wie es T. S. Eliot ausdrückt:
«Verloren in einem Strahl von Sonnenlicht.»[1]
Sie sehen diesen Strahl von Sonnenlicht hinter einer Wolke hervorkommen, und während Sie dies sehen, verlieren Sie sich selbst.
Sie blicken in die Augen einen anderen Menschen, und Sie versinken darin, verlieren sich in ihnen.
«Ich verlor mich selbst.»
Oder eine andere Stelle: «Ich war befreit.»
Für einen Augenblick war ich befreit. Es war, als käme ich aus einem Käfig. Die meiste Zeit befinde ich mich in einem Käfig, in meinem eigenen Käfig. Ich selber bin es, der mich einsperrt. Aber einen Augenblick lang trete ich aus diesem Käfig heraus, bin ich frei. Aus irgendeinem unbekannten Grund gehe ich wieder in den Käfig hinein. Vielleicht fühle ich mich darin sicherer.
Wir alle aber haben Augenblicke, in denen wir aus dem Käfig heraustreten. «Ich war befreit.»
Oder nehmen wir eine andere Schlüsselstelle: «Ich löste mich auf in Meer, wurde weißes Segel.»
Ich löste mich auf in das, was ich sah. Ich wurde eins mit allem, was ich sah. Dies ist ein häufiger Aspekt unserer mystischen Erfahrung.
«Ich gehörte zu dem Ganzen dazu.»
Dies mag für das Beschreiben einer mystischen Erfahrung mit am bedeutendsten sein.
Die meiste Zeit haben wir das Gefühl, irgendwie nicht dazuzugehören, außerhalb zu sein. Da ist diese wunderbare Welt, dieses wunderbare Leben, und wir sind dem allen irgendwie entfremdet, sozusagen Außenstehende.
Doch einen Augenblick lang gehören wir dazu. Wir sind Teil dieses großen Tanzes. Jeder, alles heißt uns willkommen.
«Ich gehörte, ohne Gegenwart und ohne Zukunft, mit hinein.»
Dies ist ein weiterer Aspekt unserer mystischen Augenblicke: Die Zeit scheint nicht mehr zu existieren. Sie steht still.
Es ist das, was Eliot «einen Augenblick in und außerhalb der Zeit» nennt. Wir befinden uns in der Zeit und gleichzeitig auch außerhalb von ihr.
«Ich gehörte ... mit hinein in den Frieden und die Einheit und in eine wilde Freude, in etwas, das größer war als mein eigenes Leben, größer als das Menschenleben überhaupt ... Zu Gott, wenn du willst.»
[Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 169-171]
[Ergänzend:
1. MYSTISCHE ERFAHRUNG in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]:
Schlüsselbegriffe «Angst ‒ Zusammengehören», FN 1) 170f.; 2-5) 174; 6) 173):
«Wenn wir darunter eine Erfahrung des Einsseins mit der Höchsten Wirklichkeit verstehen, dann haben wir eine brauchbare Arbeitsdefinition von mystischer Erfahrung. Wir tun recht daran, wenn wir den Terminus ‹Gott› nicht mit einbeziehen. Nicht alle Menschen fühlen sich wohl dabei, die Höchste Wirklichkeit ‹Gott› zu nennen. Aber gleich welche Terminologie, alle von uns können Momente überwältigender, grenzenloser Zugehörigkeit, Augenblicke universellen Eins-seins erfahren. Das sind unsere eigenen mystischen Momente. Die Männer und Frauen, die wir Mystiker nennen, unterscheiden sich vom Rest von uns lediglich dadurch, dass sie jenen Erfahrungen den Raum geben, der ihnen in unser aller Leben zusteht. Was zählt, ist nicht die Häufigkeit oder Intensität mystischer Erfahrungen, sondern der Einfluss, den wir ihnen auf unser Leben einräumen. Indem wir unsere mystischen Momente mit allem, was sie bieten und verlangen, zulassen, werden wir die Mystiker, die wir sein sollen. Schließlich ist der Mystiker keine besondere Art Mensch, sondern jeder Mensch eine besondere Art Mystiker.»
2. Fortsetzung des Textes Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 171-176:
Bruder David definiert darin Mystik im weitesten Sinn als die «Erfahrung der gemeinschaftlichen Verbundenheit mit der letzten Wirklichkeit» und geht auf die Hauptbestandteile dieser Definition ein: «Erfahrung», «gemeinschaftliche Verbundenheit», «letzte Wirklichkeit». Besondere Aufmerksamkeit widmet er dem Wort «Gott» im Zusammenhang mit der «letzten Wirklichkeit».
3. In Der Mönch in uns (1978) untersucht Bruder David, wie wir jedes Gipfelerlebnis ‒ jede mystische Erfahrung ‒ paradox wahrnehmen und ausdrücken:
«Ich habe mich verloren und zugleich gefunden»: Mich-Verlieren ‒ Finden
«Wenn ich am meisten bin, bin ich mit allem eins»: Allein ‒ All-Eins
«Um die Antwort zu finden, musst du die Frage aufgeben»: Ja-sagen
Hinweis: Der Mönch in uns (1978) ist eine Übersetzung des amerikanischen Originaltextes aus dem Jahr 1974. Kapitel 3 «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 44-63, enthält den Originaltext in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger.
4. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Audio: Mystische Erfahrung ‒ Anstoß zur Praxis dankbaren Lebens und Audio: Wir alle haben diese Gipfelerlebnisse]
_______________________
[1] «For most of us, there is only the unattended
Moment, the moment in and out of time,
The distraction fit, lost in a shaft of
sunlight,
The wild thyme unseen, or the winter lightning
Or the waterfall, or music heard so deeply
That it is not heard at all, but your are the music
While the music lasts.»
«Für die meisten von uns gibt es bloß den unbeachteten
Augenblick, in der Zeit und außerhalb der Zeit,
Einen Anfall von Zerstreuung, verirrt in einem Schacht aus
Sonnenlicht,
Den wilden Thymian ungesehen, das Wintergewitter
Oder den Wasserfall, oder Musik, so tief gehört
Daß sie unhörbar wird, und Sie selbst die Musik sind
Solange sie währt.»
_______________________
T. S. Eliot: «Four Quartets»: «The Dry Salvages», V, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 60f.]
Nächstenliebe
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Im Lukasevangelium ist ein Gespräch über die Nächstenliebe. Jemand hatte die Frage gestellt:
«Wer ist denn mein Nächster?»
Jesus hatte offensichtlich den Unterton dieser Frage herausgehört: «Ich möchte doch um Gottes willen nicht aus Versehen jemandem Liebe erweisen, der dem Buchstaben des Gesetzes nach gar nicht mein Nächster ist!»
Ich meine fast zu spüren, wie Jesus das Schmunzeln unterdrücken musste, als er zu erzählen begann:
«Da geht ein Mann auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho ...»
Und nun merke: Das bist du!
Das darfst du beim Hören oder Lesen dieses Gleichnisses nicht vergessen. (Bei amüsanten Erzählungen mit einer verblüffenden Pointe muss man sich nämlich mit der Person identifizieren, die als Erste genannt wird, sonst zündet die Pointe nicht.)
Du selbst bist also jetzt zu Fuß in einer für ihre Räuber berüchtigten Gegend unterwegs. Tatsächlich wirst du ‒ überfallen und verprügelt; man raubt dich aus, reißt dir sogar die Kleider vom Leib und lässt dich halb tot liegen. Du bist zwar halb tot, aber doch noch halb lebendig. Das ist wichtig, denn du musst ja mit ansehen können, was sich weiter ereignet. Ich erzähle dir das ja nicht aus der Vogelperspektive, sondern so, wie der arme Kerl es erlebt, der dort liegt ‒ und der bist du.
Du liegst also zusammengeschlagen am Straßenrand und siehst jemanden kommen.
«So ein Glück, da kommt mein Nächster», denkst du dir und fühlst dich schon besser. Es geht ja hier um die Frage «Wer ist mein Nächster?»
Dir geht auf: Wenn ich in Not bin, ist das gar keine Frage mehr.
Nun weiß aber leider dieser andere hier nicht, dass er dein Nächster ist ‒ oder er will es nicht wissen ‒ er macht einen Bogen um dich und geht vorbei.
Du bekommst noch eine zweite Chance. Da kommt wieder jemand. «Das ist aber jetzt bestimmt mein Nächster», denkst du voller Hoffnung.
Du kennst ihn nicht, aber dein Common Sense sagt dir, dass er dein Nächster ist.
Leider macht auch dieser gute Mann einen Bogen um dich und verschwindet.
Aber gib noch nicht auf; in einer Erzählung dieser Art ereignet sich etwas immer dreimal.
Und wirklich, endlich, gerade als du den Mut verlierst, taucht dort in der Kurve ein dritter Anwärter auf den Titel «Nächster» auf.
Diesmal ist es kein Einheimischer, sondern ein Samariter. Widerwärtig! Für einen Juden ‒ und der bist du hier ja ‒ ist es unvorstellbar, in einem Samariter seinen Nächsten zu sehen.
Aber jetzt hat der Lauf der Erzählung dich schon so weit gebracht, dass du bereit bist, sogar so einen «stinkenden Ausländer» freudig als deinen Nächsten anzuerkennen, wenn er nur auch in dir seinen Nächsten sieht und dir hilft. Und tatsächlich: Das tut er.
Common sense, Gemeinsinn, prallt hier mit öffentlicher Meinung zusammen und siegt.
Mit einem Schmunzeln fragt Jesus:
«Welcher von diesen Dreien war also dem der Nächste, der unter die Räuber fiel?»
«Jener, der ihm Barmherzigkeit erwies», antwortet der Mann, der gefragt hatte, wer eigentlich sein Nächster sei.
Dass es ausgerechnet der Samariter war, sagt er lieber nicht.
Die Gleichnisse sind also keineswegs zahme Erbauungsgeschichten, sondern enthalten solche nicht ungefährliche Pointen, mit denen Jesus sich über die öffentliche Meinung lustig machte: Willst du wirklich wissen, wer dein Nächster ist? Warte nur, bis du in Not kommst, dann sagt es dir ganz unerwartet dein Common Sense!
Dann kannst du ganz selbstverständlich sogar in einem verachteten Ausländer deinen Nächsten erkennen, ein Mitglied der Menschheitsfamilie.
Warum aber werden die Grenzen deines Selbstverständnisses plötzlich so eng, wenn statt deiner andere in Not sind?
Deutlich ausgeprägt sind die drei Schritte des typischen Gleichnisses: Zuerst die Frage:
«Wem von euch sagt nicht bereits sein Common Sense, wer sein Nächster ist?»
Die Situation des Raubüberfalls führt die Dringlichkeit einer Antwort vor Augen. Dann die einzig folgerichtige Antwort:
«Wir alle wissen das ‒ besonders, wenn wir in Not sind.»
Und schließlich verblüffend die Pointe: «Wenn das so selbstverständlich ist, warum handelst du Dummkopf dann nicht danach ‒ besonders, wenn ein anderer in Not ist und dich braucht?»
Wir brauchen nur den Samariter durch einen Asylbewerber zu ersetzen und schon müssen wir über uns selbst und über unsere eigene innere Enge den Kopf schütteln.
Wenn man den Samariter bereits im Titel des Gleichnisses als «barmherzig» bezeichnet, nimmt man die Pointe natürlich vorweg und sie zündet nicht mehr.[1]
Für die Zuhörer Jesu gab es so etwas wie einen «barmherzigen Samariter» überhaupt nicht. Samariter waren als solche grundsätzlich schlecht und Feinde.
Wenn wir das übersehen, bleibt vom ursprünglichen Klang der Geschichte nicht mehr viel übrig.
Betrachten wir dagegen den Verlauf der Erzählung nicht als objektive Reportage, sondern als Augenzeugenbericht des Opfers, mit dem wir uns identifizieren, dann packt uns plötzlich die Autorität des Common Sense und wir wissen, wer unser Nächster ist. [Common sense (2014): «Der ‹Common Sense› in den Gleichnissen Jesu», 47-51]
[Ergänzend:
1. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 188f.:
Bruder David: «Ich bin auf eine hübsche moderne Version dieses Gleichnisses gestoßen. Als ich einer Gruppe in Neuseeland dasselbe wie hier erzählte, meldete sich eine Ordensschwester zu Wort und sagte: ‹Genau das ist mir passiert. Ich bin vor nicht allzu langer Zeit mit dem Auto von Auckland nach Hamilton gefahren und wurde unterwegs entsetzlich müde. Plötzlich bemerkte ich, wie mein Auto auf der falschen Straßenseite fuhr. Ich hielt sofort an und rollte auf den Randstreifen (mit der Wagenfront in die falsche Richtung)›.
Ich sagte mir: ‹Jetzt werde ich erst einmal ein bisschen schlafen. In diesem Zustand zu fahren ist zu gefährlich.›
Als ich aufwachte, klopfte jemand gegen das Wagenfenster. Noch schlaftrunken und entgegen allen Vorsichtsmaßregeln kurbelte ich es hinunter. Draußen stand ein Mann mit einer Lederjacke und sagte: ‹Alles in Ordnung, meine Liebe? Rutschen Sie mal auf den Nebensitz, Sie stehen auf der falschen Straßenseite.›
In meiner Verwirrung rutschte ich hinüber. Er stieg ein, brachte das Auto auf die richtige Straßenseite und sagte: ‹Mir scheint, Sie sind in keiner guten Verfassung. Wo wollen Sie denn hin?› ‹Nach Hamilton›, sagte ich. ‹Okay, wir werden Sie begleiten.› Und so wurde ich ‒ eine Nonne in Tracht ‒ nach Hamilton eskortiert, von einer Rockerbande auf Motorrädern.»
2. Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 146f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 147f.]:
«Es ist das Konzept des Selbst, das sich ausdehnt, wenn wir schließlich verstehen, was Liebe wirklich bedeutet.
Die gegenwärtige Vorstellung von Liebe identifiziert unser Selbst mit unserem kleinen individualistischen Ich. Dieses kleine Ich übersetzt ‹Liebe deinen Nächsten wie dich selbst› in eine unglaubliche Folge geistiger Saltomortale.
Schritt eins: Stelle dir vor, du seist jemand anders.
Schritt zwei: Sieh zu, dass du leidenschaftliche Anziehung für jeden anderen zuwege bringst, der du eigentlich selber bist.
Schritt drei: Versuche für jemand, der wirklich jemand anders ist, die gleiche leidenschaftliche Anziehung zu empfinden, die du für dich selbst empfunden hast (sofern das der Fall war), als du dir vorstelltest, du seist jemand anders.
Ist das nicht ein bisschen viel verlangt?
Und doch ist das Gebot, richtig verstanden, so einfach: ‹Liebe deinen Nächsten als (wie) dich selbst.›
Es heißt: Erkenne, dass dein Selbst nicht auf dein kleines Ich begrenzt ist.
Dein wahres Selbst bezieht deinen Nachbarn mit ein. Ihr gehört zusammen ‒ und zwar radikal zusammen.
Wenn du weißt, was Selbst bedeutet, dann weißt du, was Zusammengehören bedeutet. Es ist nicht weiter anstrengend, zu dir selbst zu gehören. Ganz spontan sagst du in deinem Herzen ‹Ja› zu dir selbst.
Im Herzen aber bist du eins mit allen anderen.
Dein Herz weiß, dass dein wahres Selbst deinen Nächsten einbezieht.
Liebe bedeutet, dass du mit ganzem Herzen zu diesem wahren Selbst ‹Ja› sagst ‒ und dann entsprechend handelst.»
3. Spiritualität im Alltag in Dienten (1994):
Vortrag
(21:52) Das Gebot der Gottesliebe und‚ liebe deinen Nächsten als dich selbst‘
__________________________
[1] Das Gleichnis in Lk 10,29-37 ist allgemein bekannt als «Gleichnis vom barmherzigen Samariter».
Ordnung
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Klöster legen Wert auf Reinlichkeit und Ordentlichkeit; die meisten Besucher bemerken das sofort. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Anstrengung, die Dinge in deinem Inneren, in deinem Leben und in dem Bereich um dich herum in Ordnung zubringen. Aber Novizen finden das schwer verständlich. Sie sagen «Wir sind hierher gekommen, um spirituelle Dinge zu lernen und man sagt uns, wann wir unsere Schuhe anziehen und wann ausziehen sollen, wie wir sie hinstellen sollen mit dem rechten auf der rechten Seite und dem linken auf der linken Seite, und parallel, nicht mit den Schuhspitzen nach innen. Was hat das mit dem spirituellen Leben zu tun?» Es hat alles damit zu tun. Das ist Spiritualität; es ist nicht etwas, das du einfach als Novize tust und dann erlangst du spirituelle Reife. Aber es braucht lange Zeit zu verstehen, dass Ordnung und Sauberkeit nicht nur bedeutet, dass man den Raum reinigt, sondern dass man sein Leben in Ordnung bringt.
Also ist es das Ziel, Dinge in Ordnung zubringen. Ordnung ist die Anordnung von Dingen, in der jedes dem anderen Raum lässt, seinen eigenen gebührenden Platz. Das ist der äußere Aspekt. Der andere ist, dass Ordnung immer der Liebe entspringt: Es gibt keinen anderen Weg, Ordnung herzustellen als durch Liebe. [ST 100, Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]
«Höre» ist das erste Wort von Benedikts Klosterregel, und ein weiteres Schlüsselwort heißt im Lateinischen «considera» («bedenke»), was wörtlich heißt:
«Stimme dich auf die Sterne (sidera) ein!»
Der heilige Benedikt, der Patriarch der abendländischen Mönche, will, dass sie «apertis oculis et attonitis auribus» leben,
wörtlich: «mit offenen Augen und vom Donner gerührten Ohren»;
das Schweigen von Gottes Gegenwart soll sie also wie der Donner rühren.
Aus diesem Grund soll das Benediktinerkloster eine «schola Dominici servitii» sein, eine Schule, in der man sich auf die oberste Ordnung einstimmt.
Aber mit einer solchen Ordnung ist nichts Starres gemeint.
Das wäre die größte Gefahr, ja die Falle, in die man tappen könnte: die oberste Ordnung als statisch zu verstehen.
Sie ist im Gegenteil zutiefst dynamisch.
Das einzige Bild, das wir letztlich für diese Ordnung finden können, ist der Tanz der Sphären.
Wozu wir im Kloster eingeladen werden, was wir darin lernen sollen, und was wir als Profis darin üben sollen, ist, auf diese Melodie zu hören und uns selbst in diese Harmonie einzustimmen, nach der das ganze Universum tanzt.
Der heilige Augustinus bringt diese Dynamik der Ordnung damit zum Ausdruck, dass er sagt:
«Ordo est amoris»,
was bedeutet, dass die Ordnung einfach der Ausdruck der Liebe ist, die das Universum bewegt.
Auch Dante sagt das in der wunderschönen Zeile in seinem «Paradiso», wenn er von
«l'amor che muove il sole e l‘altre stelle»
spricht, frei übersetzt:
«der Liebe, die die Sonne und alle andern Gestirne bewegt.»
Doch Tatsache ist, dass sich zwar das ganze übrige Universum frei und anmutig in kosmischer Harmonie bewegt, aber wir Menschen nicht.
Uns kostet es große Mühe, uns auf die dynamische Ordnung der Liebe einzustimmen.
Ab einem gewissen Punkt kostet es uns sogar die allergrößte Mühe, uns paradoxerweise überhaupt keine Mühe zu geben.
Das größte Hindernis, das wir überwinden müssen, ist die Anhänglichkeit, und sogar die Anhänglichkeit an unser eigenes Bemühen.
Bei der Askese handelt es sich um das professionelle Trachten danach, die Anhänglichkeit in allen ihren Formen zu überwinden.
Unser Bild vom Tanz sollte uns das verstehen helfen.
Die Loslösung, also einfach deren Gegenteil, lässt unsere Bewegungen frei und geschickt werden.
Die positiven Aspekte der Askese sind Aufgewecktheit, Wachsamkeit, Lebendigkeit.
Wenn wir uns frei bewegen können, fangen wir an, die Tanzschritte zu lernen. Dann hören wir auf die Musik, stimmen uns auf sie ein und bewegen uns nach ihr.
[Auf dem Weg der Stille (2016), 103-105]
Unsere lateinische Tradition definiert den Frieden als «tranquillitas ordinis», «Stille der Ordnung».
Ordnung ist untrennbar mit dem Schweigen verbunden, aber das ist ein dynamisches Schweigen.
Die Stille der Ordnung ist also eine dynamische Stille, die Stille einer Flamme, die in vollkommener Ruhe brennt, oder eines Rads, das sich so schnell dreht, dass es stillzustehen scheint.
Schweigen in diesem Sinn ist nicht nur eine Eigenschaft der Umgebung, sondern in erster Linie eine Einstellung, eine Haltung des Hörens.
Das ist ein Geschenk, dass jeder von uns eingeladen ist, allen anderen zu machen: das Geschenk des Schweigens.
Lasst uns also einander Schweigen schenken.
Lasst uns damit auf der Stelle anfangen.
[Auf dem Weg der Stille (2016), 109]
[Ergänzend:
Was verlangst du von der Kunst: Vortrag von Franz Kuno Steindl-Rast (ca. 1945) und
Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011: Dem Welthaushalt freudig dienen: Pater Johannes und Bruder David im Dialog (29. April 2011): (18:54) Ordo est amoris (Augustinus): Was würde die Liebe dazu sagen?]
Orpheus und Christus
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Du aber, Göttlicher, du, bis zuletzt noch Ertöner,
da ihn der Schwarm der verschmähten Mänaden befiel,
hast ihr Geschrei übertönt mit Ordnung, du Schöner,
aus den Zerstörenden stieg dein erbauendes Spiel.Keine war da, dass sie Haupt dir und Leier zerstör.
Wie sie auch rangen und rasten, und alle die scharfen
Steine, die sie nach deinem Herzen warfen,
wurden zu Sanften an dir und begabt mit Gehör.Schließlich zerschlugen sie dich, von der Rache gehetzt,
während dein Klang noch in Löwen und Felsen verweilte
und in den Bäumen und Vögeln. Dort singst du noch jetzt.O du verlorener Gott! Du unendliche Spur!
Nur weil dich reißend zuletzt die Feindschaft verteilte,
sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur.(Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XXVI)
Orpheus ist es,
«der das Ohr den Geschöpfen gelehrt»,
wie es in den Sonetten an Orpheus 1. Teil, XX heißt. Er lehrte sie horchen.
«Und alles schwieg»,
denn Schweigen – innere Stille –
ist die Vorbedingung wahren Horchens,
so wie Horchen
die Vorbedingung wahren Hörens ist.
Weil Tiere uns Menschen, aus Rilkes Sicht, in der Haltung des schweigenden Horchens überlegen sind, können sie uns darin Vorbild und Lehrer werden.
«Tiere aus Stille»
nennt er sie im ersten Sonett (1. Teil, I) und erdichtet hier einen mythischen Bericht von Orpheus, der ihnen – und uns ‒
«Tempel im Gehör»
errichtet durch sein Singen.
Wer aber ist Orpheus eigentlich? Wer ist er für Rilke?[1]
[Video ab (19:15)]: Bruder David: «Orpheus ist im griechischen Mythos der große Sänger, dessen junge Frau von einer Schlange gebissen wurde und ganz jung stirbt. Und er ist so untröstlich, dass er nicht aufgibt, bis er den Zugang zur Unterwelt findet, bis zum Gott der Unterwelt, Hades, vorstößt und dort singt. Ich glaube es ist Milton, ein englischer Dichter, der das so schön beschreibt: Der Gott der Unterwelt war so gerührt, dass er eiserne Tränen geweint hat.[2] Und neben ihm ist seine Gattin Persephone gesessen, die ja auch von Hades geraubt wurde, sie durfte aber jedes Jahr die halbe Zeit wieder zurück auf die Erde, dann blüht alles wieder auf und dann muss sie wieder zurück in die Unterwelt. Persephone hat ihn überredet, und so hat Pluto-Hades Orpheus erlaubt, seine Eurydike wieder mitzunehmen, doch eine Bedingung war daran geknüpft: Er darf sie nicht ansehen, solange sie noch nicht im Sonnenlicht sind. Und es fällt ihm natürlich sehr schwer, sich nicht umzudrehen, denn sie dürfen nicht sprechen und er weiß ja gar nicht sicher, ob sie noch da ist. Dann endlich kommt er ins Sonnenlicht und dreht sich um, sie ist aber noch im Schatten und muss wieder in die Schattenwelt zurück.
Dieser Mythos hat die Menschen in der Antike sehr berührt und darunter waren dann auch viele, die Christen geworden sind, und für die war es ja naheliegend, diesen Orpheus, der in die Unterwelt hinabsteigt und seine Braut zurückführt, mit Christus, der in seinem Tod die Kirche heraufbringt, zu vergleichen. Damals war in der frühen Christenheit die Höllenfahrt Christi viel mehr betont als bei uns, und in der Ostkirche ist sie immer noch sehr betont. Dort gibt es gar keine Bilder von der Auferstehung wie bei uns, sondern Christus steigt in die Unterwelt und zieht Adam, an den sich Eva klammert, und alle anderen alttestamentlichen Menschen hinauf aus der Unterwelt ans Licht. Das war sehr naheliegend für die ersten Christen.
Sie haben manchmal die Orpheus-Statuen genommen und als Christusstatuen verwendet. In den Katakomben findet man sehr häufig Bilder von Orpheus als Friedensfürst mit den Tieren, die ganz zahm vor ihm liegen, und er spielt und singt. Das Bild von Jesus Christus als den großen Sänger, den großen Liebhaber seiner Braut, der Kirche, spricht uns heute viel mehr an als das immer wiederholte: ‹Er hat uns durch seinen Tod von den Sünden befreit›.[3]
Das spricht uns nicht mehr an! Das muss man zugeben. Es ist ja nur eine von den vielen Erklärungen für den Tod Jesu, die schon im Neuen Testament gegeben werden. Aber sie hat sich so durchgesetzt, weil es eben der Machtpyramide der Kirche in die Hände spielt, leider, sehr schlecht:
Christus wollte das Reich Gottes: Gleichheit, Brüderlichkeit, Friedfertigkeit ‒ es erinnert sehr an die französiche Revolution, die ja in ihren Anfängen auch von Christen begeistert begrüßt wurde und dann sehr schnell ins Gegenteil abgefallen ist. Christus wollte ganz etwas anderes, das immer Menschen anspricht.
Und so ist auch für uns heutzutage Orpheus ein wunderschönes Christusbild.
Ich weiß nicht: würde Rilke das zugeben? Ich glaube, er würde sagen: es ist, was unser Christus-Bild sein sollte. So stelle ich mir das vor. Aber überall, wo Orpheus auftaucht, kann man Christus auf eine ganz neue, viel anziehendere Weise erkennen, als wir uns bisher vorgestellt haben.
(26:55-28:30) Denken wir zum Beispiel an das ‹Blut Christi›. Da wollen die meisten Leute beim ersten Augenblick schon wegschauen. Immer wieder dieses Blut: ‹Mit seinem Blut hat er uns erlöst›.
Im ganzen Mittelalter war dahinter das Motiv ‹Christus als Keltertreter›. Er tritt in der Kelter auf die Trauben und das ‹Traubenblut› spritzt heraus als ‹der Wein, der das Menschenherz erfreut›, wie es in der Bibel schon im Alten Testament heißt (Psalm 104,15).
Und Rilke sagt von Orpheus:
‹Sein Herz, o vergängliche Kelter
eines den Menschen unendlichen Weins.›(Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII: ‹Rühmen, das ists!›)
Da ist alles drin, wovon wir jetzt gesprochen haben. Es ist eine ganz neue Interpretation, darin ganz klar die alten Bilder.»[4]
Zuletzt wird er von rasenden Anhängerinnen des Gottes Dionysos in Stücke gerissen, weil er ihren Gott berauschter Freude in seinem Schmerz nicht mehr verehrt.
Sie vermögen ihn zu töten, seinen Gesang aber können sie nicht zum Schweigen bringen. Stück für Stück an das ganze Universum verteilt, singt er immer noch in Felsen, Bäumen und wo immer «es singt».
«Wir sollen uns nicht mühn
um andre Namen. Ein für alle Male
ists Orpheus, wenn es singt»,
sagt Rilke in einem anderen der Sonette im 1. Teil, V.
Der Sänger schlechthin ist Orpheus und dadurch Urbild der Dichter. Und nicht nur der Dichter, sondern der Menschen überhaupt, denn der Mensch ist ja Dichter, das sprachbegabte Tier.
Hier berühren wir wieder das Religiöse,
denn in allen religiösen Traditionen der Menschheit
spielt das Bild des vollendeten Menschen eine zentrale Rolle.
Denken wir etwa an
I’itoi bei den Tohono-O’odham-Indianern,
Purusha im Hinduismus,
Maitreya Buddha,
den ursprünglichen Adam, Orpheus, Christus ...
Es ist kein Zufall, dass in der frühchristlichen Kunst Christus nicht selten als Orpheus dargestellt wurde. Einzelne Elemente des Orpheus-Mythos klingen an den christlichen Mythos an.
Um mehr als Anklänge christlicher Motive handelt es sich nicht, solche aber tauchen auch in Rilkes Dichtung immer wieder auf.
Zeitlebens musste der Dichter sich innerlich vom verzerrten, beengenden Verständnis der christlichen Religion, in das seine Mutter ihn als Kind hineingezogen hatte, absetzen und befreien.
«Ins reine, ins hohe, ins thorig
offene Herz träte er anders, der Gott
wirklicher Milde»,(Die Sonette an Orpheus 2. Teil, IX),
schrieb er. In der Kraft seiner tiefen Religiosität fand er neue Wege zu jener Ergriffenheit vom Großen Geheimnis des Lebens, die ja das Entscheidende an jeder Religion ist. Dabei wusste er vieles am Christentum zu schätzen. Auf allen Reisen hatte er seine Bibel mit sich und schrieb:
«Unter den alten Büchern,
die mich zu neuen kaum kommen lassen,
ist die Bibel das vorzüglichste.»[5]
Kein Wunder, dass, wohl zum Teil unbewusst, Zusammenhänge wie die zwischen Christus und Orpheus auf ihn einwirkten und zum Ausdruck kamen, so wie in vielen dieser Sonette.[6]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 4 und 6]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Audios Lebendige Spiritualität (2015) mit Bruder David und Pater Johannes Pausch in vier Gesprächsabenden mit Gedichten und Texten von Rilke
Verstehen durch TUN:
(20:22) Rühmen und die Gestalt des Orpheus, bei Rilke und den Kirchenvätern eine Christus-Figur: ‹Rühmen, das ists› (Die Sonette 1. Teil, VII)
Wort:
(32:33) ‹Höre, mein Herz, wie sonst nur Heilige hörten› (Rilke, Die erste Elegie) – Die Gestalt des Orpheus – ‹Da schufst du ihnen Tempel im Gehör› (Die Sonette 1. Teil, I)
1.2. Orpheus im Heldenmythos
Lebensorientierung (2015)
Tag 5, 14. Februar, Samstagvormittag mit 9. Impulsvortrag (Bruder David), siehe Nachschrift Tag 5:
(37:18) Die drei Phasen des Heldenmythos (Joseph Campbell) in Grenzsituationen von Liebe und Tod: immer wieder sterben in ein größeres, volleres Leben hinein im Vollzug der (42:30) ‹Rites de passage› (Arnold van Gennep), den Übergangsriten, der typischste ist das Opfer mit der Geste des Aufhebens (G. W. F. Hegel): Eucharistie in Verbindung mit dem Schicksal von Orpheus: er wurde ‹verteilt› wie die Kommunion
1.3 Orpheus, ein Name für das Selbst ‒ Orpheus, der große Sänger, der große Abschiednehmer
So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(25:52) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Die Sonette 1. Teil, XIX): Bruder David deutet das Sonett mit Blick auf die Zeit und das Jetzt, das kleine Ich und das Selbst, Orpheus und Christus
(36:46) ‹Wolle die Wandlung› (Die Sonette 2. Teil, XII)
(39:16) ‹Sei allem Abschied voran› (Die Sonette 2. Teil, XIII): Bruder David deutet das Gedicht mit Versen aus: ‹Ich lese es heraus aus deinem Wort› (Rilke, Das Stunden-Buch) und der neunten Duineser Elegie ‒ ‹All is always now› (T.S. Eliot) ‒ Jeder Augenblick ist aufgehoben (ausgelöscht, bewahrt, in das Bleibende hinaufgehoben)
(31:21) «Wir gehören uns selbst an: Selbst ist ja das, zu dem wir gehören, ob wir es wollen oder nicht. Das ist unser Selbst, unser wahres tiefstes Selbst. Und dieses Selbst haben wir alle gemeinsam. Das ist der Christus in uns (Gal 2,20). Andere Traditionen sprechen von diesem selben Selbst mit anderen Namen, aber es handelt sich immer um dasselbe: die ‹Buddha-Natur›, ‹Purusha› in Indien, ‹I’itoi› bei den Indianern. Und Rilke nennt es Orpheus.
Und das ist gar kein Zufall: Die frühesten christlichen Statuen des guten Hirten waren ursprünglich römische Statuen von Orpheus. Und dann wurden sie auf Christus umbenannt sozusagen, jetzt auf Christus hin. Das wissen wir aus unserer eigenen Geschichte.
Und Orpheus ist der große Sänger, der große Abschiednehmer.
Wir kennen ja die Geschichte: Er ist der große Liebende. Seine junge Frau wird von einer Schlange im Gras gebissen und muss zur Unterwelt hinunter. Und das ist sein erster Abschied. Und sein erster Abschied ist der untröstliche Abschied. Er ist so untröstlich, dass er sucht und sucht, bis er den Zugang zur Unterwelt findet, in die Unterwelt hinuntersteigt und vor Pluto, dem Gott der Unterwelt seine Leier spielt.
Und er spielt mit solcher Überzeugung und solcher Kraft und solcher Untröstlichkeit, dass es heißt: ‹Pluto weint eiserne Tränen›. Nur eiserne Tränen kann der Gott der Unterwelt weinen. Er hat keine richtigen Tränen.[7]
Und es wird ihm gestattet, Eurydike zurückzuführen in die Welt oben in die Sonne, nur unter der Bedingung, dass er sich nicht umdreht, sie geht hinter ihm und er darf sich nicht umdrehen, solange sie nicht das Sonnenlicht erreicht haben.
Und sie gehen und er hält es tapfer durch, aber wie er dann im Sonnenlicht ist, dreht er sich um, aber sie ist noch im Schatten und verschwindet in den Schatten zurück und er hat sie zum zweiten Mal verloren.
Und das ist jetzt der zweite Abschied. Aber diesen zweiten Abschied bewältigt er anders. Da ist jetzt nicht mehr die Untröstlichkeit, sondern die Verinnerlichung.
Sie ist jetzt nicht mehr bei ihm, aber verinnerlicht bei ihm. Und er bleibt unverheiratet, weil sie eben doch bei ihm ist, und er wird dann von den Mänaden zerrissen. Aus Rache für sein Alleinbleiben wollen.
(34:38) Und Rilke sagt: er wurde nicht zerrissen, er wurde verteilt, so wie die Kommunion verteilt wird. Und darum singen wir jetzt: Er singt in uns, in den Felsen, in den Löwen, in den Bäumen singt er noch, er wurde verteilt. Er wird zur Christus Figur. Sie konnten sein Haupt nicht zerstören, das Haupt schwimmt am Fluss hinunter und singt noch. Und die Leier wird in den Himmel gehoben und wird zum Sternbild. Er wird verteilt an die ganze Welt. Das ist der große Gott, der göttliche Sänger. Und der singt in uns. Und das steht hinter diesem Sonett: ‹Wandelt sich rasch auch die Welt wie Wolkengestalten› …
Wir müssen es nicht erreichen, wir müssen nicht das Leiden erkennen, wir müssen nicht die Liebe erlernen, wir müssen nur sein, wo wir sind in dieser ständigen Wandlung, in diesem ständigen Weitergehen, in diesem ständigen Abschiednehmen, und das Lied bleibt schön, so wie die Finger der Harfenspielerin über die Saiten gehen, alles ist Bewegung, alles ist Veränderung, alles ist Schwingung, aber das Lied ist eines und bleibt schön: das Lied überm Land.»
2. Weitere Texte
2.1. Im Buch HerzWerk (2025)
Ebd. 2. ‹Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung› (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, I): ‹Orpheus und Christus›; siehe auch Leseprobe, S. 26f.:
Alexandra: «Inwiefern spricht Rilke also von Christus, wenn er über Orpheus dichtet?»
Bruder David: «Rilke schöpft aus der Tiefe allgemein menschlicher Religiosität und drückt in seiner Dichtung seine mystische Erfahrung vom Wesen des Menschen neu aus. Dabei verwendet er aber bewusst Elemente des Orpheus-Mythos, mit dem griechische Dichter vor ihm ähnliche mystische Einsichten mythisch ausgedrückt haben.
Frühchristliche Autoren schöpften aus derselben Religiosität wie die griechischen Mythenschöpfer, um über den geschichtlichen Jesus mythisch als den Christus zu sprechen. Dabei verwendeten sie Elemente aus der ihnen vertrauten jüdischen Mythologie und nannten ihn etwa ‹Messias› (= Christus), den neuen ‹Adam› oder ‹Menschensohn›.
Von der christlichen Mythologie setzt Rilke sich bewusst ab. Das Christliche war ihm zu intolerant:
‹... Dieser Zwang zu Gott, hat keinen Platz,
wo einer mit der Entdeckung Gottes begonnen hat,
in der es kein Aufhören mehr gibt.›[8]
Wo Rilke auf das hinweist, was er von Gott und Mensch entdeckt, mischen sich aber doch immer wieder Anklänge an den Christus-Mythos ein, der sich seinem Innenleben von Kindheit an eingeprägt hat.
Dadurch kann uns auch sein Orpheus immer wieder Durchblicke auf Christus schenken, die unsere eigene Gottes-Erfahrung anregen und unser Verständnis vom Menschsein bereichern. Rilke hat eben auch das Christentum besser verstanden als seine bigotte Mutter. Denn es zu verstehen bedeutet, es mit der eigenen Religiosität in Verbindung zu bringen.»
Ebd. 3. ‹Ein Gott vermags› (Die Sonette 1. Teil, III): ‹Gesang ist Dasein›, 33:
«Rilke nennt Orpheus einen Gott. Im griechischen Mythos ist er ein Mensch. Hier zeigt sich wieder, wie bei Rilke, wohl weitgehend unbewusst, der christliche Gottmensch durch Orpheus durchschimmert.»
Ebd. 4. ‹Rühmen, das ists!› (Die Sonette 1. Teil, VII): ‹Weckruf zum Lebendigsein›, 40f.:
«Noch weit bekannter als die Symbolik des Einhorns war im Mittelalter das ikonographische Motiv ‹Christus als Keltertreter› ‒ eine symbolische Darstellung der Passion. Der Wein wurde als das in seinem Leiden vergossene Blut Christi verstanden und floss auf den Abbildungen oft in den Abendmahlskelch.
Rilke aber legt hier ein Verständnis nahe, das unsere Generation mehr anspricht, denn in der christlichen Botschaft wurde das Leid zunehmend überbetont und die Freude, die ja der Mittelpunkt der Frohbotschaft sein sollte, vernachlässigt.
Nicht für Leiden und Tod steht der Wein in diesem Sonett, sondern für Freude und Lebensfülle. Auch die Bibel spricht ja vom ‹Wein, der des Menschen Herz erfreut› (Psalm 104,15), und seine Verleumder nannten Jesus einen ‹Fresser und Weinsäufer› (Lukas 7,34), weil er freudige Tischgemeinschaft mit Armen, Ausgestoßenen und Verachteten feierte (Markus 2,16).
Ziel des Lebens war für Jesus keinesfalls das Leiden. Gott will Lebensfreude, nicht Leid. Nicht seine Leidensgeschichte war die eigentliche Passion Jesu. Seine Passion im Sinne überragender Leidenschaft war die Verherrlichung Gottes ‒ das Rühmen also.
Erlösung ‒ und das heißt Befreiung ‒ kann auch als innere Befreiung zum Rühmen verstanden werden, wie Rilke es hier nahelegt:
‹Alles wird Weinberg, alles wird Traube,
in seinem fühlenden Süden gereift.›
Die Kelter ist eine ‹vergängliche› Kelter, der Wein aber fließt unendlich, ist also unvergänglich.
Das Leiden gehört zu unserem vergänglichen Leben in der Zeit.
Es vergeht.
Die Rühmung aber nimmt schon jetzt Anteil
am Unvergänglichen.
Das will das abschließende Bild zeigen: Der Rühmende hält ‹noch weit in die Türen der Toten Schalen mit rühmlichen Früchten›.
Dieses Sonett ist selber eine solche Schale voll Trauben in Rilkes ‹fühlendem Süden gereift›, die er uns hinhält. Das reichste Geschenk, das er uns damit macht, ist dieses: Er schenkt uns Mut, aus der vergänglichen Kelter unseres Lebens in der Zeit unvergängliche Freude fließen zu lassen. Denn Rühmen ist nicht nur spontane Antwort auf große Freuden, sondern dankbares Rühmen keltert Freude auch aus den unscheinbarsten Früchten unseres Alltags.»
Ebd. 15. ‹Ist er ein Hiesiger?› (Die Sonette 1. Teil, VI): ‹Leben und sterben›, 121f.:
Alexandra: «Du erwähnst immer wieder, dass Rilke, wie übrigens auch Nietzsche, aus einer christlich geprägten Vorstellungswelt stammt. Davon klingt doch sicher auch etwas in den beiden ersten Versen unseres Sonetts an: ‹lst er ein Hiesiger? Nein, aus beiden Reichen erwuchs seine weite Natur.›
Bruder David: «Ja. Schon die Wortwahl macht das spürbar: ‹Seine zweite Natur› lässt an die christliche Lehre denken, dass Christus sowohl völlig Mensch als auch Gegenwart Gottes ist. Theologen sprechen von ‹zwei Naturen›. Und die Wendung ‹aus beiden Reichen› erinnert an Himmelreich und Reich Gottes auf Erden …»
Alexandra: «Verbindet sich für Rilke vielleicht auch der Abstieg des Orpheus in die Unterwelt mit der Vorstellung von ‹Christi Höllenfahrt› zwischen Kreuzestod und Auferstehung?
David: «Ich kenne keinen ausdrücklichen Beweis dafür, aber wir dürfen mit Sicherheit annehmen, dass unserem Dichter eine Verbindung zwischen den beiden Bildern bewusst war. Parallelen zwischen Christus und Orpheus gehen ja auf die früheste christliche Tradition zurück.
Rilke sagt, dass das Lied des Orpheus als ‹Klang noch in Löwen und Felsen verweilte› (Die Sonette 1. Teil, XXVI) ‒ in Nietzsches Steinen und Tieren also.
Schon im ersten christlichen Jahrhundert hatte Clemens von Alexandria in diesem Klang die Frohbotschaft Jesu erkannt ‒ ein ‹Lied des Lachens, der Hoffnung und der Auferstehung›.
Clemens jubelt: ‹Sieh, was das neue Lied vollbrachte: Menschen hat es aus Steinen ‒ Menschen aus Tieren gemacht. Und die sonst wie tot waren und keinen Anteil am wahren Leben hatten, sie wurden wieder lebendig, sobald sie nur Hörer des Gesanges geworden waren.[9]
Auch andere frühe Kirchenväter sahen in Orpheus eine Vorahnung und Vorausdeutung des Christus. Augustinus nannte Orpheus sogar ‹poeta theologus›: einen Dichter, der von Gott redet.»
Alexandra: «Auch in der bildenden Kunst des frühen Christentums auf Sarkophagen und Wandmalereien der Katakomben wird Orpheus oft stellvertretend für Christus abgebildet.»
2.2. Bruder David in seinem Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015)
Ebd. ‹DAS EWIGE LEBEN›, mit Bezug auf das Sonett ‹Sei allem Abschied voran› (Die Sonette 2. Teil, XIII), 226; ebenso in Abschied, der Klang des Lebens:
«Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.
Als Menschen wissen wir, wie kein anderes der vergänglichen Lebewesen um den Tod, jenen endlosen Winter. Aber gerade darum kennt unser Herz auch das Geheimnis, ihn zu überstehen: allem Abschied voran zu sein, indem wir im Jetzt leben. Wach um den Tod zu wissen, heißt ihn vorwegnehmen.
Orpheus wird hier zum Beispiel dafür. Es gelang ihm nicht ‒ so der griechische Mythos ‒, Eurydike, seine große Liebe, aus der Unterwelt zurückzubringen, aber umso klangvoller sang er ‒,
wie die Zunge
zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch, die preisende bleibt.(Rilke, 9. Duineser Elegie)
Das ist auch unsere Aufgabe, und wir erfüllen sie, indem wir die Vergänglichkeit des Augenblickes durch dankbares Leben zum Klingen bringen.
Sei immer tot in Eurydike ‒, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.
Im Buch HerzWerk (2025) ist dieses Sonett das Thema im 14. Kp. mit dem Untertitel: ‹Radikales Loslassen lernen›, 108-115. Rilke im Brief an Katharina Kippenberg vom 2. April 1922, 112:
«Kein Wunder, dass Rilke von diesem Sonett sagt, dass er es ‹besonders liebe›. Er nennt es ‹das Gültigste von allen›. ‹Es enthält alle übrigen›, schreibt er, denn in allen Sonetten an Orpheus geht es ja um Wandlung und Verwandlung.»
Auch Bruder David liebt dieses Sonett ganz besonders, siehe das Video Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017) ab (06:06) und in Festival «Die Kraft der Visionen» Berlin und Potsdam (1991) das Audio 2.1.: ‹Der Weg zu Fülle und Nichts› ‒ Vortrag und Kanon, sowie die Mitschrift.
Ebd. ‹HINABGESTIEGEN IN DAS REICH DES TODES›, 144:
«Auf der Ikone der Höllenfahrt steht Adam im Dunkel der Unterwelt, der strahlende Christus aber nimmt ihn bei der Hand und zieht ihn ‒ gemeinsam mit unzähligen anderen Verstorbenen, die sich an Adam klammern ‒ empor ans Licht.
Wenn wir aber fragen, wie die vor ihm Verstorbenen die Begegnung mit Jesus Christus im Reich des Todes erlebten, dann sind wir auf dem Holzweg. Wir nehmen dann nämlich wieder eine mythische Aussage wörtlich, und bleiben überdies im Geschichtlichen stecken, obwohl es hier doch um Überzeitliches geht.
Das Anliegen hinter dieser Frage könnte man vielleicht so fassen: Was bedeutet es für ein rechtes Verständnis des Todes, dass Jesus Christus und ungezählte andere unschuldige Opfer vor und nach ihm sterben mussten?
Auf diese Frage gibt ‹Hinabgestiegen in das Reich des Todes› eine klare Antwort: Tod ist nicht das Ende; Tod ist kein Kerker; Tod ist Durchgang, ‹Transitus›, Übergang.»
3. Wegweisendes Retreat mit Bruder David und Vanja Palmers in Flüeli Ranft (14.-18. September 2014) mit dem Thema Einsichten aus Rilkes Dichtung: ‹Gemeinsame Freude an Rilke-Gedichten›, siehe Teil I und Teil II:
Teil I, Seite 50-56 (Montagabend, siehe auch Audio 2-5: 18:10-33:32): Rilke und die Sonette an Orpheus; Orpheus und Eurydike; Orpheus, eine Christus-Figur:
(30:27) «Und im letzten Sonett des 1. Teils, XXVI:
‹Du aber Göttlicher, du, bis zuletzt noch Ertöner›
wendet Rilke sich wieder an Orpheus und bezieht sich auf dieses Zerreißen, sagt aber, dass es sich eigentlich nicht um Zerreißen handelt, sondern um Verteilen: Er wird als Kommunionbrot verteilt sozusagen. Das steht dahinter, da wird wieder aus dem Orpheus die Christus-Figur.» (55)
TeiL II, Seite 124-135 (Dienstagabend, siehe auch Audio 3-6: 07:19-57:25): Biographisches zu Rilke; das Thema der Duineser Elegien; Christus, der Keltertreter; Wie die Abschiedsreden im Johannesevangelium (Joh 13-17) im Sonett ‹Errichtet keinen Denkstein› (Die Sonette 1. Teil, V) durchschwingen.]
______________
[1] Im Buch HerzWerk (2025): ‹Freude finden mit Rainer Maria Rilkes Sonette an Orpheus›: 2. ‹Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung!› (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, I): ‹Orpheus und Christus›, 24; siehe auch Leseprobe, 24
[2] John Milton (1608-1674): ‹Il Penseroso›
[3] Bruder David zur Satisfaktionslehre von Anselm von Canterbury (1033-1109) in Kreuz und Erlösung
[4] Sinngemäße Transkription der Passage (19:15-28:30) im Video zur Buchpräsentation des Buches HerzWerk von Bruder David in Zusammenarbeit mit Alexandra Kreuzeder
[5] Ingeborg Schnack: ‹Rainer Maria Rilke: Chronik seines Lebens und seines Werkes› (= Insel-Taschenbuch, 1264), Frankfurt a.M., Insel Verlag 1990, 344f.
[6] Im Buch HerzWerk (2025), 25f.; siehe auch Leseprobe, 25f.
[7] John Milton: ‹Il Penseroso›
[8] Aus dem Brief Rilkes an Ilse Blumenthal-Weiß vom 28. Dezember 1921, Muzot:
«Glauben! ‒ Es gibt keinen, hätte ich fast gesagt. Es gibt nur ‒ die Liebe. Die Forcierung des Herzens, das und jenes für wahr zu halten, die man gewöhnlich Glauben nennt, hat keinen Sinn. Erst muss man Gott irgendwo finden, ihn erfahren, als so unendlich, so überaus, so ungeheuer vorhanden ‒, dann sei's Furcht, sei's Staunen, sei's Atemlosigkeit, sei's am Ende ‒ Liebe, was man dann zu ihm fasst, darauf kommt es kaum noch an, ‒ aber der Glaube, dieser Zwang zu Gott, hat keinen Platz, wo einer mit der Entdeckung Gottes begonnen hat, in der es dann kein Aufhören mehr gibt, mag man an welcher Stelle immer begonnen haben.»
[9] Clemens von Alexandria (um 150-215): ‹Des Clemens von Alexandria ausgewählte Schriften›, Bd 1, übers. v. Otto Stählin (= Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Band 7), Kempten/München 1934,76.; sowie Karin Berhalter, Christus ‒ der andere Orpheus. Morgengedanken. In: Kirche im SWR. https://www.kirche-im-swr.de/beitraege/?id=26218 (Zugriff: August 2025)
Pilgerfahrt
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
In seinen «Four quartets» spricht T.S. Eliot von dem Paradox,
«still sein und dennoch vorangehen» ‒
dem Paradox der Hoffnung.[1]
Als Pilger haben wir ein Ziel. Aber der Sinn unserer Pilgerfahrt hängt nicht davon ab, dass wir dieses Ziel erreichen.
Wichtig ist, dass wir in unserer Hoffnung offen bleiben, offen für die Überraschung, denn Gott kennt unseren Weg viel besser als wir selbst.
In diesem Wissen kann unser Herz Ruhe finden, auch während wir weiterwandern.
Hoffnung als die Tugend des Pilgers vereint Stille mit Bewegung.
Das «in Hoffnung ruhen» (Psalm 16,9) ist ganz gewiss nicht jenen vorbehalten, die am Ende des Weges sind. Auf einer Pilgerfahrt ist jeder Schritt das Ziel, denn das Ende geht dem Anfang voraus.
Ruhen wir in der Hoffnung, dann bewegen wir uns laut T. S. Eliot in dynamischer Stille:
... wie eine chinesische Vase
Regungslos und dennoch in sich unendlich bewegt ist.
Nicht das Schweigen der Geige, solange der Ton noch schwingt,
Nicht dies nur, sondern vielmehr ihr Zugleich-Sein,
Und, sagen wir, dass das Ende dem Anfang vorangeht,
Dass Ende und Anfang bestehen von jeher
Noch vor dem Anfang und noch nach dem Ende.
Dass alles immer jetzt ist. ...[2]
Die Spannung der Hoffnung zwischen dem schon jetzt und dem noch nicht ist die Grundlage für ein Verständnis von Pilgerschaft.
Wann immer wir auf etwas stoßen, das Sinn hat, dann ist dieser Sinn schon jetzt und doch noch nicht gegeben. Er ist da, aber er führt immer noch weiter.
Sinn findet man nicht wie Blaubeeren auf einer Waldlichtung ‒ als etwas, das man mit nachhause nehmen und im Einsiedlerglas aufbewahren kann. Sinn ist immer etwas Frisches. Er leuchtet uns plötzlich ein, so wie die Strahlen der Nachmittagssonne plötzlich auf unsere Waldlichtung fallen. So oft wir hinschauen, können wir in diesem Licht immer neue Wunder entdecken.
Was Glaube ist, kann man am besten dadurch deutlich machen, dass man gläubig lebt. Ebenso ist es mit der Hoffnung. Nichts wird uns mehr helfen, Hoffnung zu verstehen, als ein Pilgerleben, als «still sein und dennoch voran(zu)gehen», Tag für Tag.
Die Furcht vor den Gefahren, die uns auf dem Weg begegnen könnten, ist groß und berechtigt; das trifft in noch größerem Maße auf die Furcht vor dem Wagnis der Bindung zu.
Es bedarf großen Mutes, diese doppelte Furcht durch den Glauben zu überwinden.
Wir schaffen es, indem wir den Wagemut des Nomaden mit dem des Siedlers verbinden, und das gibt uns den Mut des Pilgers.
Der zwanghafte Siedler in uns wagt es, sich zu binden, fürchtet sich aber davor, unterwegs zu sein.
Der unstete Nomade in uns wagt den Weg, fürchtet sich aber vor der Bindung.
Nur der Pilger in uns kann diesen Zwiespalt überwinden.
Der Pilger weiß, dass sich jeder Schritt auf dem Weg als das Ziel herausstellen kann, andererseits kann sich das vermeintliche Ziel als doch nur ein Schritt auf dem Weg erweisen.
Dies hält den Pilger offen für Überraschungen. Hoffnung kennzeichnet den Pilger.[3]
Die Pilgerfahrt ist nicht eine Reise.
Der Unterschied ist vielen nicht klar: Die Pilgerfahrt hat unendlich viele Gipfelpunkte, die Reise hat ein Ziel.
Die Pilgerfahrt hat immer dort den Gipfelpunkt, wo ich bin. Jeder Schritt ist sozusagen das Ziel.
Wenn man eine Reise nach Rom oder Jerusalem macht und nicht in Rom ankommt, dann hat man das Ziel der Reise verfehlt, und dann war es eine verfehlte Reise. Aber wenn man eine Pilgerfahrt nach Jerusalem macht, dann kommt man unter Umständen gar nicht hin oder kommt schon mit dem ersten Schritt an sozusagen.
Leo Tolstoi erzählt die Geschichte von zwei alten russischen Bauern, die sich auf eine Pilgerfahrt nach Jerusalem machen. Wochenlang wandern Sie von Dorf zu Dorf, immer in Richtung auf das Schwarze Meer, wo Sie hoffen, ein Schiff in das Heilige Land zu finden. Aber bevor Sie den Hafen erreichen, werden Sie voneinander getrennt.
Während der eine an einem Häuschen anhält, um seinen Wasserschlauch zu füllen, geht der andere noch ein Stück weiter, lässt sich dann im Schatten nieder und ist bald eingeschlafen. Als er aufwacht, fragt er sich: «Ist mein Freund noch hinter mir? Nein, er muss mich überholt haben, als ich hier schlief.»
In der Hoffnung, seinen Freund einzuholen, geht er weiter. «Spätestens beim Warten auf das Schiff werden wir uns wiederfinden», denkt er.
Aber im Hafen findet sich keine Spur des Freundes. Tagelang wartet er, dann segelt er allein ins Heilige Land.
Erst in Jerusalem holt unser Pilger doch noch den anderen ein. Er sieht ihn ganz vorne beim Altar, aber bevor er sich einen Weg durch die Menge der Pilger bahnen kann, verliert er seinen Freund wieder aus den Augen. Er fragt nach ihm, doch niemand weiß, wo er wohnt.
Ein weiteres Mal sieht er ihn in der Menge, und noch ein drittes Mal, näher den heiligen Stätten, als er selbst herankommt. Aber niemals holt er ihn ein, und als die Zeit kommt, Jerusalem zu verlassen, da muss er sich allein auf die Heimreise machen.
Viele Monate später kehrt er heim ins Dorf. Und da ist auch sein verlorengegangener Reisebegleiter. Er war ja gar nicht in Jerusalem gewesen. In jenem Häuschen, bei dem er angehalten hatte, um etwas Wasser zu bekommen, fand er eine ganze Familie, die im Sterben lag. Sie war arm und verschuldet, krank, fast verhungert und sogar zu schwach, um sich selbst Wasser zu holen. Mitleid überwältigte ihn. Er machte sich auf und brachte ihnen Wasser, kaufte Lebensmittel und pflegte Sie gesund. Jeden Tag dachte er: «Morgen werde ich meine Pilgerfahrt fortsetzen.»
Als er ihnen aber geholfen hatte, ihre Schulden zu bezahlen, da blieb ihm gerade genug Geld, um nachhause zurückzukehren.
Der andere Alte, der ihn in Jerusalem gesehen hatte, fragte sich nun, wer von ihnen das wahre Ziel der Pilgerfahrt erreicht habe.[4]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3f.]
[Ergänzend:
1. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Demut ‒ Der Weg zum Gipfel:
(05:46) Pilgerfahrt im Unterschied zur Reise: ‹Die beiden Alten› (Leo N. Tolstoi) ‒ (11:16) ‹Das Leben ist ja Pilgerschaft, wenn man es richtig versteht, und es kommt nur darauf an, im gegebenen Augenblick das zu tun, was das Leben uns aufgibt›
2. Common Sense: Was dem Common Sense im Weg steht (2014), 94f.:
«In jedem von uns steckt einer, der sesshaft werden möchte, und einer, der suchend unterwegs bleiben will.
Hinter beiden Antrieben steckt ein Stück Angst. Der Sesshafte hat Angst vor Veränderung; der Sucher und Entdecker hat Angst vor Langeweile.
Als Abenteurer können wir derart vom Suchen besessen sein, dass wir auf keinen Fall etwas finden wollen, denn damit hätte ja unser Suchen ein Ende.
Als Sesshafte dagegen können wir so sehr auf das Finden aus sein, dass wir das Suchen vorschnell abbrechen.
In Wirklichkeit sind wir dazu bestimmt, Pilger zu sein. lm Pilgern sind der Sesshafte und der Sucher vereint.
Pilger brauchen zweierlei Art von Mut: den Mut des Abenteurers, über das Vertraute hinauszugehen, und den Mut des Sesshaften, sich in der Gegenwart daheim zu fühlen.
Auf einer Pilgerfahrt ist jeder Schritt schon ein Ziel und jedes Ziel kann sich wiederum als Schritt auf einem Weg erweisen, der immer wieder weiter führt.
Als Pilger müssen wir überall und zugleich nirgends daheim sein; genau aus diesem Grund dürfen wir uns an nichts endgültig klammern.
Dieses Anklammern ist unser eigentliches Hindernis auf der Pilgerfahrt durchs Leben. Wir klammern uns immer dann spontan an etwas, wenn wir Angst haben.
Das ist ein naturgegebener und gesunder Reflex. Wenn Sie erschreckt werden, versuchen bereits neugeborene Kinder, sich mit Armen und Beinen an die Mutter zu klammern.
Dieser Instinkt resultiert womöglich aus einer Zeit, in der es überlebenswichtig war, sich an die Mutter zu klammern, die von Ast zu Ast sprang. Diesen Instinkt behalten wir zeitlebens bei.
Sobald Gefahr droht, greifen wir nach etwas und klammern uns daran, nicht nur physisch, sondern auch mental.
Alles Neue wirkt zunächst immer gefährlich.
Wir brauchen eine gewisse Zeit, um unsere rein instinktive Reaktion überwinden zu lernen.
Wollen wir reifer und weiter werden und neues Gelände betreten, dann müssen wir zwangsläufig lernen, Altes und Vertrautes loszulassen.»
3. Audio und Texte zum Pilger-Ritual
3.1. Audio Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag und wortgetreue Mitschrift:
Die Mystische Erfahrung ist religionsschöpferisch (04 Mitschrift):
(08:56) «Und Sie selbst auch wieder in ihrer eigenen Privatreligion, wenn Sie wollen, feiern Sie Ihre mystischen Erlebnisse. Nehmen wir an, Sie haben so ein mystisches Erlebnis auf einem bestimmten Berg erfahren, ein Gipfelerlebnis:
Es ist sehr leicht möglich, dass Sie immer wieder einmal ‒ sagen wir zu einem besonders festlichen Anlass ‒ zu diesem Berg zurückwandern. Sie wollen das wiedererleben.
Sie können es vielleicht nicht einmal mehr wiedererleben, aber Sie machen eine Pilgerfahrt oder Sie erinnern sich an diesen Tag: Sie haben schon einen rituellen Kalender begonnen: Es ist nur der Beginn, aber der Beginn ist da.»
3.2. Schönheit aus: Auf dem Weg der Stille (2016), 137f.:
«Mit etwas Schönem tritt unser ganzes Wesen in Resonanz, so wie vielleicht ein kristallener Lampenschirm jedes Mal klirrt, wenn man auf dem Klavier ein Cis-Dur anschlägt.
Wenn dieses Gefühl der Resonanz (oder unter anderen Umständen der Dissonanz) unsere Interaktion mit der Welt bestimmt, sprechen wir von Emotionen.
Wie freudig treten die Emotionen mit der Schönheit unserer mystischen Erfahrung in Resonanz!
Je stärker Sie anschlagen, desto intensiver genießen wir diese Erfahrung. Es kann dann sein, dass wir uns noch nach vielen Jahren genau an den entsprechenden Tag und die Stunde erinnern.
Vielleicht gehen wir dann wieder zu der Gartenbank, auf der uns der Gesang einer Drossel ganz hingerissen hatte.
Auch wenn wir diesen Vogel womöglich nie mehr hören, kann uns das trotzdem zum Ritual werden, und damit ist dann eine Art von Pilger-Ritual an einem für uns ganz persönlichen heiligen Ort entstanden.»
3.3. Religionen ‒ drei Ausdrucksformen, in Ergänzend: 3.5., aus Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 180:
«Überprüfen Sie dies anhand Ihrer eigenen Erfahrung.
Manche Rituale da draußen, in den traditionellen historischen Religionen, mögen bizarr anmuten.
Doch vielleicht zelebrieren Sie alle Jahre wieder eine tiefe spirituelle Erfahrung. Nun, dann haben Sie einen rituellen Kalender, so wie die meisten Religionen.
Vielleicht kehren Sie ständig an den Ort zurück, an dem diese Erfahrung Sie überwältigt hat.
Nun, dies ist dann das Ritual des Pilgerns.
Angenommen, Sie haben dieses Erlebnis an einem Strand gehabt, dann ist jeder Strand auf dieser Welt nun ein heiliger Ort für Sie, weil er Sie immer an diese Erfahrung denken lässt.
Auch ein Baum kann auf diese Weise für Sie ein heiliger Baum werden. Das Ritual ‒ das lebendige Ritual ‒ ist die Zelebrierung des mystischen Erlebnisses. Es ist ein Gedenken an dieses Erlebnis.»]
__________________________
[1] T. S. Eliot: Four quartets: East Coker, V; siehe auch in Stillehalten
[2] T. S. Eliot: Four quartets: Burnt Norton, V; siehe auch in Stillehalten
[3] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114-116, 118, 112f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 114-116, 118, 112f.]
[4] Audio in Ergänzend: 1 und Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 113f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 113f.]: ‹Die beiden Alten› (Novelle von Leo Tolstoi)
Prophetischer Gehorsam
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Der prophetische Gehorsam ist uns vorgelebt worden von Jesus Christus, dessen erster Titel ja Prophet war.
«Ein großer Prophet ist unter uns aufgestanden» (Lk 7,16), sagten die Leute.
Das Verständnis der Persönlichkeit Jesu hat sich vertieft, es hat sich erweitert, man hat nach und nach besser verstanden, wer er wirklich ist.
Aber das erste Verständnis verliert seine Gültigkeit nicht: «Ein großer Prophet ist unter uns aufgestanden.»
Und was macht dieser große Prophet? Was jeder Prophet tun muss: er horcht, er ist wirklich gehorsam, er horcht auf jedes Wort, das aus dem Munde Gottes kommt, und ermutigt und ermächtigt seine Hörer, auch zu horchen.
Der tiefste Grund, warum man nicht dabei geblieben ist, Jesus Prophet zu nennen, ist, dass er sich in einem Punkt so auffallend von den Propheten unterscheidet:
Ein Prophet sagt typisch: «So spricht Gott, der Herr.»
Hinter dem Propheten steht die Autorität Gottes. Was steht hinter der Autorität Jesu? Freilich auch die Autorität Gottes, aber Jesus pocht nicht auf eine Autorität, die hinter ihm steht, sondern Jesus fordert die göttliche Autorität in den Herzen derer, die vor ihm stehen, heraus.
Er sagt nicht «So spricht Gott, der Herr», sondern er fragt: «Wer von euch weiß das nicht schon?»
Die Gleichnisse, in denen das Wort Jesu uns noch am lebendigsten erhalten und zugänglich ist, beginnen typisch mit: «Wer von euch weiß denn das nicht schon?» Und sie legen den Schluss nahe: «Ihr wisst es doch alle, ja dann handelt doch danach!»
So ermächtigt Jesus seine Hörer, und darum sagen sie:
«Dieser Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Autoritäten» (Mk 1,21).
Denn die Autoritäten, die nicht mit Autorität sprechen, müssen ja die Hörer entmächtigen, um sich oben zu halten.
Jesus aber kann es sich leisten, seine Hörer zu ermächtigen, weil er sich auf die wahre, die göttliche Autorität in ihren Herzen beruft.
Demgemäß ist der letzte Akt seines Lebens, sein letztes Tun bevor er nur passiv wird, die Fußwaschung. Die Fußwaschung stellt eine völlige Umkehrung des herkömmlichen Verständnisses von Autorität dar.
Und er sagt dazu etwas, was man so wiedergeben könnte:
«Die weltlichen Autoritäten entmächtigen die, die unter ihrer Autorität stehen. Mit euch soll es umgekehrt sein: Der Größte unter euch soll der Diener aller sein» (Lk 22,25f.).
Diener besonders in dem Sinn, sie zu ermächtigen, zu ermündigen, ihnen Mut zu machen.
Auf diesen prophetischen Gehorsam zielt die Nachfolge Christi ab.
Der prophetische Gehorsam hält fest an der Zugehörigkeit, legt aber auch Zeugnis ab für die Autorität des Heiligen Geistes.
Eines von beiden wäre schon schwer genug, aber beides ist uns aufgegeben. Die Spannung zwischen der Treue zur Gemeinschaft und der Treue zur Autorität Gottes auszuhalten, erfordert soviel Mut, dass die Versuchung des Propheten immer groß ist, diese Spannung brechen zu lassen.
Die Versuchung fängt schon damit an, reden zu wollen, bevor man wirklich hingehört hat.
Reden im Sinne von: Denen zeige ich es jetzt einmal; jetzt habe ich schon so eine Wut, jetzt sage ich es ihnen einmal. Das ist nicht prophetisch, da sind wir noch nicht einmal im Vorhof vom Bereich des Prophetischen.
Eine viel ernstere Versuchung des Propheten ist es, Zugehörigkeit zu wählen auf Kosten des Zeugnisses. Etwa: Ich höre, was hier gesagt und getan werden sollte, aber mir ist die Geborgenheit in der Gemeinschaft zu viel wert. Ich will es mir mit den anderen nicht verderben. So tauche ich schweigend in der Gemeinschaft unter.
Oder das Gegenteil: Zeugnis ablegen, aber von außen; nicht mehr als Mitglied der Gemeinschaft, sondern als Kritiker. Das wäre Zeugenschaft auf Kosten der Zugehörigkeit. Dann bin ich nicht mehr Prophet, dann bin ich Kritiker von außen her.
Die schwerste Versuchung für uns alle ‒ wir sind ja alle in unserer Taufe zu Propheten gesalbt worden ‒, die schwerste Versuchung ist diese: Ja, wir horchen hin; ja, wir haben den Mut anzuklagen, wo es sein muss, aber wir sagen es so, dass es nicht ankommen kann. Denn wir wollen im Grunde gar nicht, dass es ankommt. Wir wollen nur dieses gute Gefühl: Jetzt hab' ich's ihnen gesagt, aber getan haben sie es ja doch nicht. Ich habe mich meiner Bürde entledigt, und da sieht man jetzt, dass ich der Gute bin, und die anderen haben ja gar nicht zugehört, oder sie wollten ja gar nicht.
Wenn der prophetische Gehorsam wirklich aus dem Heiligen Geist kommt, dann kommt er aus jener tiefsten Zugehörigkeit, in der wir alle miteinander verbunden sind, in der es gar nicht uns und die anderen, oder mich und die anderen gibt. Auf dieser tiefsten Ebene gehören wir alle zusammen. Jedes Problem, auch jedes Autoritätsproblem, ist unser gemeinsames Problem und jedes Zugehörigkeitsproblem auch. Die Widersprüche in sich selber auszutragen, eben darin besteht das Kreuz des Propheten.
Wer in dieser Art von Welt, in der wir leben, das Prophetenamt eines Christen ernst nimmt, der wird am Kreuz enden, ob das Kreuz nun so aussieht oder anders; es wird ein Kreuz sein, das wir selber erkennen können.
Im Wesen des prophetischen Gehorsams liegt das Kreuz.
Sein aufrechter Balken ist unser Drinstehen in der Gemeinschaft. Zugehörigkeit verwirklicht sich ja hier, wo ich hingestellt wurde. Nur so wird die Liebe Nächstenliebe sein, sonst wäre sie ja Fernstenliebe. Hier stehe ich, hier muss ich bleiben, hier ist, meine Zugehörigkeit. Das ist der Balken des Kreuzes, der eingepflanzt ist in die Erde.
Und der zweite Balken, der Querbalken, ist das Zeugnis. Zeugnis für die maßgebliche Autorität Gottes, die uns immer ein Maß gibt, das alle unsere Maße übersteigt und übertrifft und sprengt.
Das Zeichen des Kreuzes ist das Zeichen des Widerspruches, aber auch das Zeichen des Aufwachsens, des Übersichhinauswachsens, des Auferstehens.
[«Vom Rhythmus des Lebens»: Eröffnungsvortrag der Tagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989) (43:29-51:28); der obige Text ist der Transkription des Vortrags entnommen, abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 21f.]
[Ergänzend:
1. Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 298; siehe auch Reich Gottes ‒ ‹gekreuzigt›: Ergänzend: 2.:
«Das Ideal des Gehorsams ist nicht die Marionette, die sich bewegt, wenn jemand die richtigen Schnüre zieht. Das Ideal des Gehorsams ist der prophetische Gehorsam, das heißt, ein Gehorsam, der so tief horcht, dass er etwas hört, was die vorherrschende Meinung nicht hören will, und nicht umhin kann, es klar herauszusagen.
So wie der Prophet Jeremias, der es ja gar nicht sagen will. Er schreit:
‹Ich will meinen Mund verschließen, weil es mich in solche Unannehmlichkeiten bringt, aber es verbrennt mich von innen. Ich kann nicht anders, es stößt mir von innen den Mund auf› (Jer 20.9).
Wenn wir sagen, denen geb ich es jetzt einmal, ich weiß schon, was Gott von denen will, dann sind wir höchstwahrscheinlich nicht gerade prophetisch. Wenn wir uns winden und wenden, aber nicht umhin können, es doch zu sagen, dann besteht eine gewisse Möglichkeit, Prophetisches zu äußern.
Aber es gehört noch etwas dazu. Das freie und tapfere Aussprechen genügt nicht, obwohl das schon schwer genug ist.
Wenn wir es jetzt sagen und dann schnell hinausgehen, schnell verschwinden, dann sind wir nur noch Kritiker von außen, aber der Prophet ist kein Kritiker von außen. Der Prophet steht drinnen, mitten in der Gemeinschaft.
‹Kein Prophet kann außerhalb Jerusalems sterben› (Lk 13,33),
sagt Jesus, das heißt, er muss dort sein, wo es ums Wesentliche geht.
So müssen auch wir mitten drinstehen. Dieses Drinstehen in einer Gemeinschaft ist so schwierig, dass man glauben sollte, es genüge schon. Drinnen zu bleiben, ohne sich bemerkbar zu machen, ist schwer genug.
Darin, dass beides von uns verlangt wird, in der Gemeinschaft zu stehen u n d sie zugleich herausfordern, da liegt das Kreuz des Propheten.
Das Drinnenstehen ist der senkrechte Balken und das Herausfordern ist der horizontale Balken. So endet jeder Prophet früher oder später am Kreuz.
Versuchen Sie nur einmal bei irgendeiner Gelegenheit, wirklich aus dem tiefsten inneren Horchen, aus dem Herzen zu sprechen, besonders dann, wenn sich das, was Sie sagen wollen, mit der vorherrschenden Meinung nicht ganz verträgt. Sie werden auf die eine oder die andere Weise gekreuzigt werden.»
2. Mystik als Grenze der Bewusstseinsevolution (1988), 182f.:
«Ein Bild, das ich manchmal verwendet habe, um die Beziehung zwischen der mystischen Erfahrung und der religiösen Tradition zu veranschaulichen, ist das eines Vulkanausbruchs.
Da ist das heiße Magma, das aus den Tiefen der Erde emporschießt und dann an den Seiten des Vulkans herabfließt. Je länger es fließt, desto mehr kühlt es sich ab, und je mehr es sich abkühlt, desto weniger erinnert es an den ursprünglichen feurigen Zustand. Am Fuße des Berges finden wir dann lediglich übereinandergelagerte Felsschichten. Niemand würde denken, dass diese einst weißglühend waren.
Da kommt nun aber der Mystiker. Er bohrt ein Loch durch die übereinandergelagerten Felsschichten, bis das Feuer, das ursprüngliche Feuer, wieder emporschießt.[1]
Da jeder von uns ein Mystiker ist, besteht darin unsere Aufgabe.
Doch sobald wir zu dieser Verantwortung gereift sind, prallen wir unweigerlich mit der Institution zusammen.
Die Frage lautet: ‹Besitzen wir die Gnade, die Stärke und den Mut, unsere prophetische Aufgabe auf uns zu nehmen›?
Sie sehen, der Mystiker ist auch ein Prophet, und die Stellung des Propheten wird durch zweierlei geprägt. Das Prophetentum erfordert doppelten Mut, nämlich den Mut, zu verkünden, und den Mut, zu bleiben.
Man braucht schon eine ganze Menge Mut, um etwas zu verkünden, nicht unbedingt mit Worten. Häufig ist ein stummer Zeuge ein viel besserer Zeuge.
Der Prophet verkündet mit Worten oder durch Schweigen.
Es ist schwierig genug, etwas zu verkünden und sich dann so schnell wie möglich davon zu machen, seine Sache zu sagen und wegzulaufen.
Doch die zweite Seite des Prophetentums besteht darin zu bleiben, in der Gemeinschaft zu bleiben, gegen die es seine Worte richten muss.
Es genügt aber nicht, zu bleiben und sich unauffällig zu verhalten, sich zu verstecken. Das ist nicht im Sinne des Prophetentums.
Von uns wird das Schwierigste verlangt: Zu bleiben u n d zu verkünden.
Es wäre ein Leichtes, zu bleiben, wenn wir verschwinden könnten.
Es wäre ein Leichtes zu verkünden, wenn wir weglaufen könnten.
Dann wären Sie aber kein Prophet mehr, sondern lediglich ein außenstehender Kritiker.
Dazu sind viele müde Propheten geworden. Solange sie Propheten innerhalb der Gemeinschaft waren, hatten sie Macht und Einfluss, sie waren in der Lage, Dinge zu ändern. Dann aber, außerhalb der Gemeinschaft, sagten sie zwar dieselben Dinge, aber es kümmerte sich überhaupt niemand mehr darum.
Zu bleiben u n d zu verkünden bedeutet gekreuzigt zu werden.
Zufällig passt das Kreuz sehr gut zur christlichen Tradition, doch das Kreuz des Propheten erscheint in jeder Tradition.»
3. Zum prophetischen Gehorsam in Kirche und Religion siehe den letzten Abschnitt in Mystik als Grenze der Bewusstseinsevolution (1988), 193f., und in Kreuz und Auferstehung:
«Und so haben Sie immer wieder die christusähnlichen Figuren in der Kirche, die in dieselben Schwierigkeiten geraten, die Jesus mit seinen religiösen Autoritäten bekam.»
4. Audios
4.1. Fülle und Nichts (1996):
(03:45) Der prophetische Gehorsam / (04:35) Die Krux des prophetischen Gehorsams: Sagen, was gesagt werden muss und dennoch in der Gemeinschaft bleiben / (05:33) Reden trotz inneren Widerständen, und so, dass es verstanden wird / (06:36) Résumé
4.2. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
Highlights aus dem Gespräch von 4.1 mit Lama Sogyal Rinpoche in 9 Themen zusammengestellt:
Wie Jesus die Auffassung von Autorität revolutioniert]
_________________
[1] Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 3:
(23:38) Beispiele neuer Lebendigkeit im Bild eines Vulkanausbruchs und Risse in der Lava
Quellenangaben
| Abkürzung | Quelle |
| AH 1) | Steindl-Rast, David: Die Achtsamkeit des Herzens: Ein Leben in Kontemplation, aus dem Englischen übertragen von Vanja Palmers. Einführung mit einem Wort von William Blakes. Deutsche Erstveröffentlichung, München, Goldmann Verlag 1988 |
| AH 2) | Steindl-Rast, David: Die Achtsamkeit des Herzens: Ein Leben in Kontemplation, aus dem Amerikanischen von Vanja Palmers; Einführung mit einem Wort von William Blakes. Vollständige Taschenbuchausgabe bereits erschienen als Goldmann Taschenbuch; Nr. 12398, München, Goldmann Verlag 1997 |
| AH 3) | Steindl-Rast, David: Die Achtsamkeit des Herzens [Achtsamkeit des Herzens], aus dem Englischen von Vanja Palmers; mit einem Vorwort von Anselm Grün; ergänzt mit «Leben aus der Stille» (S. 152-159) [siehe auch: Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille] und «Ein Wunsch: Weihnachtsgruß zum Jahreswechsel 2004/2005» (S. 160) (= Herder Spektrum, Bd. 5604), Freiburg / Basel / Wien, Herder 2005 (ST zitiert aus dieser Ausgabe) |
| AH 4) | Steindl-Rast, David: Die Achtsamkeit des Herzens [Achtsamkeit des Herzens], aus dem Englischen von Vanja Palmers; mit einem Vorwort von Anselm Grün; ergänzt mit «Leben aus der Stille» (S. 152-159) [siehe auch: Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille] und «Ein Wunsch: Weihnachtsgruß zum Jahreswechsel 2004/2005» (S. 160) (= Herder Spektrum, Bd. 6610), Freiburg / Basel / Wien, Herder 2013 |
| AH 5) | Steindl-Rast, David: Die Achtsamkeit des Herzens, aus dem Englischen von Vanja Palmers; mit einem Vorwort von Anselm Grün; ergänzt mit «Leben aus der Stille» (S. 152-159) [siehe auch: Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille] und «Ein Wunsch: Weihnachtsgruß zum Jahreswechsel 2004/2005» (S. 160). Taschenbuchausgabe, Freiburg / Basel / Wien, Herder 2021 |
| Steindl-Rast, David: Auf dem Weg der Stille: Das Heilige im Alltag leben; aus dem Amerikanischen von Bernardin Schellenberger, Freiburg / Basel / Wien, Herder 2016 | |
| Steindl-Rast, David: Auf dem Weg der Stille: Das Heilige im Alltag leben; aus dem Amerikanischen von Bernardin Schellenberger. Neuausgabe als Taschenbuch, Freiburg / Basel / Wien, Herder 2023 | |
| Steindl-Rast, David: Common sense: Die Weisheit, die alle verbindet: Sprichwörter der Völker; aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernardin Schellenberger, München, Claudius Verlag 2009 [22014] | |
| CG 1) | Steindl-Rast, David: Credo: Ein Glaube, der alle verbindet; mit einem Vorwort des Dalai Lama, Freiburg / Basel / Wien, Herder 2010 [42011] |
| CG 2) | Steindl-Rast, David: Credo: Ein Glaube, der alle verbindet; mit einem Vorwort des Dalai Lama. Taschenbuch (= Herder Spektrum, Bd. 7116), Freiburg / Basel / Wien, Herder 2012 [22015] |
| Dankbar leben: Ein inspirierendes Praxisbuch, basierend auf den Grundsätzen von David Steindl-Rast; zusammengestellt und hrsg. von Gary Fiedel und Karie Jacobson, in Zusammenarbeit mit grateful.org und dankbar-leben.org, Münsterschwarzach, Vier-Türme-Verlag 2018 | |
| Steindl-Rast, David: Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen, Münsterschwarzach, Vier-Türme-Verlag 2019 [22020] | |
| Steindl-Rast, David / Pausch, Johannes: Erkenntnis, Wien, edition a 2023 | |
| Steindl-Rast, David: Erwachende Worte: Meditative Gebete; illustriert mit Vignetten aus der Feder des Autors, Ostfildern, Patmos Verlag 2023 | |
| Steindl-Rast, David / Nill, Balts: Der Fließweg: Gedanken zum Daodejing des Laozi, Innsbruck / Wien, Tyrolia-Verlag 2024 | |
| FN 1) | Steindl-Rast, David: Fülle und Nichts: Die Wiedergeburt christlicher Mystik, ins Deutsche übertragen von Knut Pflughaupt und Vanja Palmers, München, Dianus-Trikont Verlag 1985 |
| FN 2) | Steindl-Rast, David: Fülle und Nichts : Die Wiedergeburt christlicher Mystik, ins Deutsche übertragen von Knut Pflughaupt und Vanja Palmers (= Goldmann-Taschenbuch, Bd. 12001), München, Goldmann, 1986 [31988] |
| FN 3) | Steindl-Rast, David: Fülle und Nichts: Von innen her zum Leben erwachen. Neuausgabe (= Herder Spektrum, Bd. 5026), Freiburg / Basel / Wien, Herder 1999. (ST zitiert aus dieser Ausgabe) |
| FN 4) | Steindl-Rast, David: Fülle und Nichts: Von innen her zum Leben erwachen. Neuausgabe mit einem Vorwort von Willigis Jäger (= Herder Spektrum, Bd. 5653), Freiburg / Basel / Wien, Herder 2005 |
| FN 5) | Steindl-Rast, David: Fülle und Nichts: Von innen her zum Leben erwachen. Neuausgabe mit einem Vorwort von Willigis Jäger, Freiburg, Kreuz Verlag 2015 |
| FN 6) | Steindl-Rast, David: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. Bisheriger Titel: Fülle und Nichts: Von innen her zum Leben erwachen. Neuausgabe mit einem Vorwort von Fernand Braun, Freiburg, Herder Verlag 2018 |
| Steindl-Rast, David, Alexandra Kreuzeder: HerzWerk: Freude finden mit «Rilkes Sonette an Orpheus». Rilke Gedichte als Wegweiser für ein geisterfülltes Leben. Zum 150. Geburtstag von Rainer M Rilke, Innsbruck / Wien, Tyrolia Verlag 2025 | |
| Steindl-Rast, David / Kaup, Johannes: Ich bin durch Dich so ich: Lebenswege. David Steindl-Rast im Gespräch mit Johannes Kaup, Münsterschwarzach, Vier-Türme-Verlag 2016 | |
| Steindl-Rast, David: Die Kraft des Staunens: Der Schönheit der Welt begegnen - 99 Blessings, Wien, Kneipp Verlag 2022 | |
| MS 1) | Steindl-Rast, David / Lebell, Sharon: Musik der Stille: Mit Gregorianischen Gesängen zu sich selbst finden, aus dem Amerikanischen von Franchita Cattani. Deutsche Erstausgabe (= Knaur-Taschenbücher, Bd. 86116), München, Droemersche Varlagsanstalt Th. Knaur Nachf. 1995 |
| MS 2) | Steindl-Rast, David / Lebell, Sharon: Musik der Stille: Die Gregorianischen Gesänge und der Rhythmus des Lebens. Von David Steindl-Rast unter Mitwirkung von Rosemarie Primault, völlig neu bearbeitete Ausgabe, Freiburg / Basel / Wien, Herder 2008. (ST zitiert aus dieser Ausgabe) |
| MS 3) | Steindl-Rast, David / Lebell, Sharon: Musik der Stille: Die Gregorianischen Gesänge und der Rhythmus des Lebens. Vollständig überarbeitete Neuausgabe; mit einem Vorwort von Anselm Grün (= Herder Spektrum, Bd. 6278), Freiburg / Basel / Wien, Herder 2010 |
| MS 4) | Steindl-Rast, David / Lebell, Sharon: Musik der Stille: Die Gregorianischen Gesänge und der Rhythmus des Lebens. Neuausgabe; mit einem Vorwort von Anselm Grün, Freiburg / Basel / Wien, Herder 2015 |
| MS 5) | Steindl-Rast, David / Lebell, Sharon: MUSIK DER STILLE: Die Gregorianischen Gesänge und der Rhythmus des Lebens. Mit QR-Code zu den Gregorianischen Gesängen. Taschenbuch; mit einem Vorwort von Anselm Grün, Darmstadt, Sprachlichter Verlag 12023 |
| Steindl-Rast, David: 99 Namen Gottes: Betrachtungen; mit Kalligraphien von Shams Anwari-Alhosseyni, Innsbruck/ Wien, Tyrolia-Verlag 2019 | |
| Steindl-Rast, David: Orientierung finden: Schlüsselworte für ein erfülltes Leben; in zwei aufeinander bezogenen Teilen: Teil 1: Orientierungsschritte ‒ anhand von 21 Schlüsselworten, 12-125; Teil 2: Orientierungspunkte: Leseprobe «Das ABC der Schlüsselworte», 128-166, Innsbruck, Wien, Tyrolia-Verlag 2021 |
|
| SD | Steindl-Rast, David, in: Werner Binder (Hg.): Staunen und Dankbarkeit: Der Weg zum spirituellen Erwachen; mit einem Eingeständnis des Autors (= Herder Spektrum, Bd. 4424), Freiburg / Basel / Wien, Herder 1996 |
| ST | Steindl-Rast, David, in: Bohn, Ulla (Hg.): Die schönsten Texte von David Steindl-Rast (= Perlen der Weisheit) (= Herder Spektrum, Bd. 6211), Freiburg / Basel / Wien, Herder 2010 (enthält 77 Texte, siehe: Inhalt, Quellen und Abkürzungen) |
| SW | Aitken, Robert / Steindl-Rast, David: Der Spirituelle Weg: Zen-Buddhismus und Christentum im täglichen Leben: Ein Dialog, München, Droemer Knaur Verlag 1996 |
| Steindl-Rast, David: Und ich mag mich nicht bewahren: Vom Älterwerden und Reifen, Innsbruck, Verlagsanstalt Tyrolia 2012 Dieses Buch ist nach einem Vortrag entstanden, den Bruder David im September 2005 in der Propstei St. Gerold im Großen Walsertal (Vorarlberg) zum Thema Fragen, die uns bewegen gehalten hat. Der Vortrag von Bruder David ist im Tyrolia-Verlag auch als CD erschienen: Und ich mag mich nicht bewahren (Audio-CD) (2012) |
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| Steindl-Rast, David / Kwizda-Gredler, Brigitte: Das Vaterunser: Ein Gebet für alle, Innsbruck / Wien, Tyrolia-Verlag 2022 | |
| Steindl-Rast, David: Vernetzungen: Eine Begegnung mit Thomas Merton. Taschenbuch; Übersetzung aus dem Amerikanischen: Eve Landis, Darmstadt, Sprachlichter Verlag 12024 | |
| WZ 1) | Capra, Fritjof / Steindl-Rast, David / Mann, Thomas: Wendezeit im Christentum: Perspektiven für eine aufgeklärte Theologie; aus dem Amerikanischen von Erwin Schuhmacher, Bern / München / Wien, Scherz Verlag 1991. (ST zitiert aus dieser Ausgabe) |
| WZ 2) | Capra, Fritjof / Steindl-Rast, David / Mann: Wendezeit im Christentum: Perspektiven für eine aufgeklärte Theologie; aus dem Amerikanischen von Erwin Schuhmacher. Taschenbuch (= dtv Sachbuch, Bd. 30371), München, Deutscher Taschenbuch Verlag 1993 |
| WZ 3) | Capra, Fritjof / Steindl-Rast, David / Mann: Wendezeit im Christentum: Perspektiven für eine aufgeklärte Theologie; aus dem Amerikanischen von Erwin Schuhmacher. Taschenbuch, (= dtv Sachbuch, Bd. 30371), München, Deutscher Taschenbuch Verlag 21994 |
| WZ 4) | Capra, Fritjof / Steindl-Rast, David / Mann: Wendezeit im Christentum: Perspektiven für eine aufgeklärte Theologie; aus dem Amerikanischen von Erwin Schuhmacher. Taschenbuch, Berlin, Verlag Fischer 2015 |
Bücher mit Beitrag von David Steindl-Rast OSB
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Steindl-Rast, David: Arbeit und Schweigen - Handeln und Kontemplation, in: Hans-Petzer Dürr, Walther Ch. Zimmerli (Hrsg.): Geist und Natur: Über den Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und philosophischer Welterfahrung, Bern / München / Wien, Scherz Verlag 31990, 289-301 |
| |
Steindl-Rast, David: Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis, in: Peter Lengsfeld (Hrsg.): Mystik - Spiritualität der Zukunft, Freiburg / Basel / Wien: Herder 2005, 76-83 |
| Steindl-Rast, David: Im Paradoxen Sinn erfahren: Vortrag und Dialog, in: Aufwachsen in Widersprüchen, Tagungsbericht der 38. Werktagung 1989, hrsg. von Franz Wust … [et al.] (= Veröffentlichung der Salzburger Internationalen Pädagogischen Werktagungen; Bd. 44), Salzburg, Otto Müller Verlag 1990, 59-71 (siehe auch den Audio-Vortrag: Aufwachsen in Widersprüchen (1989): «Im Paradoxen Sinn erfahren: Vortrag und Dialog» |
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| Steindl-Rast, David: Jesus als Wort Gottes in vergleichender religionspsychologischer Sicht, in: Ansgar Paus (Hrsg.): Die Frage nach Jesus, Graz / Wien / Köln: Verlag Styria 1973, 9-67 | |
| Steindl-Rast, David: Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille: Geleitwort und Epilog, in: Michael Fischer (Hg.): Buch der Ruhe und der Stille: Inspirationen aus dem Geist der Klöster, Freiburg / Basel / Wien, Herder 2003, 179-184 | |
| Steindl-Rast, David: Der Mönch in uns, in: Richard Baker-roshi (Hg.): Antwort der Erde: Wegweiser zu einer planetaren Kultur. Mit Beiträgen von: Russell Schweickart u.a.; Übersetzung: Richard Illig u.a., München, Verlag Ahorn 1978, 22-38 | |
| Steindl-Rast, David: Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution: Eine Betrachtung; Vortrag anlässlich des von Christina und Stanislav Grof koordinierten einmonatigen Seminars über das Thema Grenzen der Bewusstseinsforschung, abgehalten im Esalen-Institut im Mai 1985, in: Stanislav Grof (Hg.): Die Chance der Menschheit: Bewusstseinsentwicklung ‒ der Ausweg aus der globalen Krise. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Wolfgang Stifter, München: Kösel-Verlag 1988, 168-194 | |
| Steindl-Rast, David: Vom Rhythmus des Lebens: Eröffnungsvortrag, in: Aufwachsen in Widersprüchen, Tagungsbericht der 38. Werktagung 1989, hrsg. von Franz Wust … [et al.] (= Veröffentlichung der Salzburger Internationalen Pädagogischen Werktagungen; Bd. 44), Salzburg, Otto Müller Verlag 1990, 13-22 (siehe auch den Audio-Vortrag: Aufwachsen in Widersprüchen (1989): «Vom Rhythmus des Lebens: Eröffnungsreferat und Dialog») |
|
| Enomiya-Lassalle, Hugo Makabi: «Wohin geht der Mensch?» Taschenbuch; mit einem von David Steindl-Rast ursprünglich für die englische Ausgabe des Buches [Living in the New Consciousness, Shambhala, Boston 1988] verfassten und für diese Neuausgabe überarbeiteten und von Eve Landis übersetzten Vorwort, Sprachlichter Verlag, Darmstadt 2022, 7-12 |
Texte in grateful.org
| GR |
ausgewählt, aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Ulla Bohn in |
| ST |
unter dem Titel: |
| Titel in ST | Titel in www.gratefulness.org |
| Depression | Practicing Gratitude |
| Furcht | Overcoming Fear |
| Gelegenheit | Listening for Opportunity |
| Gott | Praying the Great Dance |
| Jesus-Gebet | Heroic Virtue |
| Ordnung | Become what You Are |
| Reich Gottes | The Treasure Within (gelöscht) |
| Rosenkranz | Rosary Prayer as Christian Mantra |
| Sexualität | Heroic Virtue |
| Wege | The Heart of Prayer |
| Wiedergeburt | Learning to Die |
xxx
Reich Gottes
Texte und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Dein Reich komme»
«D e i n R e i c h und was damit gemeint ist, können wir wohl nur dann recht verstehen, wenn wir die geschichtliche Lage beachten, in der dieses Gebet entstanden ist.
Jesus und seine Jünger waren Juden, gewalttätig unterdrückt und ausgebeutet von der römischen Besatzungsmacht. Erst im Gegensatz zum gewalttätigen Weltreich der Römer gewinnt die Bitte um dein Reich seine volle Wucht.
Dein Reich auf Erden gewaltfrei zu verwirklichen, das war die große Leidenschaft Jesu. Dafür lebte er und dafür musste er sterben.
Da stand Gottesreich gegen Römerreich.
Politische Machthaber spüren so etwas sofort. Sie erkannten die Konkurrenz und schlugen zu. Für unpolitische Nächstenliebe ist noch nie jemand ans Kreuz geschlagen worden.
Je aufrichtiger ich dein Reich erbete, umso tatkräftiger muss ich auch bereit sein, dafür einzutreten ‒ auch politisch. Gib du mir Mut dazu und nimm mir die Angst vor den Folgen. Amen.»
«D e i n R e i c h ist ‹nicht von dieser Welt› ‒ eben nicht von der Art der Weltreiche. Sondern es ist das von jedem Menschenherzen ersehnte Friedensreich.
In der Natur steht es uns als dein Welthaushalt schon vor Augen. In der Gesellschaft muss es als Gotteshaushalt erst noch verwirklicht werden durch das freie Ja der Liebe. Denn du zwingst uns deine Ordnung nicht auf. Du bist ja Vater, nicht Gewaltherrscher.
Und doch wirst du immer wieder ‹am höchsten Thron› einer Machtpyramide dargestellt.
Das ist zwar ein aufrichtiges Bemühen, dich zu ehren, aber auch eine herzzerreissende Blasphemie.
Genau als Gegenpol zur Machtpyramide hat Jesus ja dein Reich verstanden: nicht auf Eroberung gegründet, sondern auf Umdenken: nicht auf Angstmacherei gestützt, sondern auf gegenseitiges Vertrauen; nicht durch Gewalt verwirklicht, sondern gewaltfrei. Nicht von dieser Welt, aber mitten in ihr. Amen.»
«D e i n R e i c h, wie Jesus es verstanden hat, ist kein abgegrenzter Herrschaftsbereich ‹hier oder dort›, sondern ‹mitten unter› uns, als die uns von dir geschenkte Möglichkeit, die wir verwirklichen können, wenn wir nur wollen.
Deine ‹Herrschaft›, also die Wirkkraft deiner Liebe, steht uns jederzeit zur Verfügung. Und auch eine Gelegenheit, das Ja gegenseitiger Zugehörigkeit zu sprechen, ist stets zur Hand.
Dein Reich ist das freudige Zusammenleben, das sich ereignet, wenn eine Gemeinschaft nach deiner Musik zu tanzen beginnt.
Schon ‹zwei oder drei› genügen, um damit zu beginnen: zwei Liebende, die miteinander eine Familie gründen, oder drei Freunde, die den Keim einer Gemeinschaft bilden.
Und woran können wir dein Reich erkennen?
An gelebter Liebe. Daran, dass Menschen sich bedingungslos zuhause fühlen dürfen und sich geachtet wissen in ihrer Eigenständigkeit ‒ an Menschenwürde also.
Wecke in mir die wache Bereitschaft, mich dafür einzusetzen. Amen»
«D e i n R e i c h meint nicht erst die himmlische Herrlichkeit, die wir erhoffen, wenn wir beten: ‹Lass uns eingehen in dein Reich›.
Der indische Mystiker Kabir sagt es ganz unverblümt:
‹Dass deine Seele Seligkeit finden soll, nur weil dein Leichnam verwest, ist ein Hirngespinst. Wenn du hier nichts findest, kannst du dort auch nur eine Wohnung im Totenreich erwarten.›
Ein Reich der Lebendigen ist dein Reich, und Lebendigkeit muss deshalb sein Hauptmerkmal sein, schon hier auf Erden.
Freilich bleibt im Diesseits alles Stückwerk ‒ auch dein Reich.
Die Richtschnur unsres Bauens muss ins Jenseits auslaufen.
Wir wissen ja: ‹Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen.›[1]
Jetzt und immer bist und bleibst du der Schnittpunkt aller Beziehungen und der Mittelpunkt deines Reiches.
Das Dichterwort gilt:
‹Jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt uns den Zirkel aus der Zeit.›[2]
Amen.»
«‹Dein Reich k o m m e›, beten wir, und das klingt recht passiv. Wo immer wir aber aktiv unser Zusammenleben gestaltet haben, ist in der ganzen Menschheitsgeschichte kaum jemals ein Aufdämmern deines Friedensreiches erkennbar geworden. So sehr wir alle es auch ersehnen, scheinen wir uns doch völlig verirrt zu haben. Der ganze Karren ist verfahren. Ist es zu spät, umzukehren?
Ein Geschenk muss dein Reich jedenfalls sein. Du schenkst uns ja auch sonst alles, was es gibt. Aber, wie alles andre auch, bleibt es nur ein Angebot. Es wird wahrhaft zum Geschenk, wenn wir uns dankbar erweisen, indem wir aus dem Angebotenen etwas machen.
Und das tun ja doch unzählige Menschen, die sich ehrlich und aufopfernd bemühen, Ansatzpunkte für ganze neue Formen geschwisterlichen Zusammenlebens zu finden.
Lass auch mich Ansatzpunkte für Neues als dein Geschenk erkennen und sie mutig und dankbar nutzen. Amen.»
«‹Dein Reich k o m m e› ‒ so bitten wir und wissen doch, dass es schon da ist, mitten unter uns ‒ als stete Möglichkeit.
Wenn du zwei oder drei von uns zusammenführst, dann liegt darin auch schon dein Angebot, ‹in deinem Namen› beisammen zu sein.
Dein Name ist ja ‹Liebe›, und jede Begegnung ist eine neue Gelegenheit, das Ja der Liebe zum Ausdruck zu bringen.
Mit diesem Ja ‹heiligen› wir deinen Namen und empfangen mit weit offenen Armen einander und so dein Reich.
Dein Name und dein Reich sind also keimhaft gegenwärtig, wann und wo immer wir Menschen gemeinsam unser Leben gestalten.
Mach du uns wach und achtsam für dieses uns anvertraute Aufkeimen und lass uns mit Geduld auch die zartesten Pflanzen der Liebe so geduldig pflegen, dass aus ihnen dein Reich aufblühen kann. Amen.»
«‹Dein Reich k o m m e› als gesellschaftliche Wirklichkeit! In der Ordnung des Kosmos wirkst du als ihre innerste Lebendigkeit, ‹du sanftestes Gesetz›.
Im Erd-Haushalt stellt uns die Natur ein lebendiges Bild jenes harmonischen Zusammenlebens vor Augen, das dein Reich ‒ der Gottes-Haushalt ‒ uns schenken will.
Die Natur baut keine Machtpyramiden, sondern vernetzt Netzwerk mit Netzwerk, so wie in der Musik sich Motiv mit Motiv verwebt.
Wo immer wir ehrfürchtig auf die Natur achten, zeigst du uns Leitbilder für die Gestaltung deines Reiches.
Lehre uns, ihnen zu folgen, bei allem, was wir bauen.
Dann dürfen wir wohl auch der schier unerschöpflichen Erneuerungskraft der Natur vertrauen, dass sie nicht nur die Verwundungen heilt, die wir ihr zugefügt haben, sondern auch unsrer Kultur den Weg zu heilem Sein weist. Amen.»
«‹Dein Reich k o m m e› ‒ das ersehnen wir. Und wir wissen auch, dass letztlich nur du diese Sehnsucht erfüllen kannst.
Und doch dürfen wir dein Reich nicht völlig ohne unser Zutun als dein Geschenk erwarten. Was aber ist unsererseits notwendig, damit dein Reich sich unter uns ereignen kann?
Was kann ich in meinem winzigen Umkreis dazu beitragen?
Mein Einflussbereich reicht allerdings weiter, als mir oft bewusst ist. Alles hängt ja mit allem zusammen! Und jeder Anstoß setzt sich grenzenlos fort.
Sooft wir einander Gutes tun aus dem Bewusstsein, dass wir füreinander da sind, setzen wir ein unaufhaltbares Ja der Liebe in Bewegung.
Sooft wir einander gegenseitig Achtung erweisen, springt ein Fünkchen vom Glanz dieses Reiches über, das weiter und weiter leuchtet.
So beizutragen zum Kommen deines Reiches, dazu schenke mir Kraft und Entschlossenheit. Amen.»
Brigitte Kwizda-Gredler: «Wenn du von den ‹Kreisen freudigen Lebens› sprichst, höre ich die Freude als das entscheidende Wort heraus. Und Freude ist ansteckend. Darum gefällt mir das Bild für freudiges Zusammenleben, das du gerne verwendest: eine Gemeinschaft, die nach der Musik Gottes zu tanzen beginnt.»
Bruder David: «Der Name Gottes ist Musik, der Tanz der Liebe ist sein Reich. Und obwohl unser Bemühen stets Stückwerk bleibt, bleibt die Hoffnung lebendig, dass das Reich Gottes wenigstens jenseits von Zeit und Raum Vollendung findet.
Paulus sagt: ‹Was Gott will, ist allen Menschen offenbar, Gott hat es uns offenbart. Schon seit Erschaffung der Welt drücken die Werke der Schöpfung seine unsichtbare Wirklichkeit aus› (frei nach Röm 1,19f.). An den Werken der Schöpfung kann unsre menschliche Vernunft also wahrnehmen, was Gott will. Das ist mir eine große Ermutigung.
So viele, die vom Christentum nichts wissen oder gar nichts wissen wollen, bauen dennoch tatkräftig mit an dem Friedensreich, das wir Christen das Reich Gottes nennen.»
«Das Lernen von der Natur ist dabei ein wesentlicher Bereich, in dem sich jederzeit Neues ereignet. Es geht um eine Forschungshaltung, die in der Fachsprache ‹Bionik› genannt wird oder auch ‹Biomimetik› ‒ die Befragung und Nachahmung der Natur, um schwierige technische, gesellschaftliche oder organisatorische Probleme zu lösen.»
«Die Natur heiligt den Namen Gottes, indem sie uns zeigt, wofür Gott eintritt.
Wenn wir vorurteilslos bereit sind, von der Natur zu lernen, dann finden wir in ihr schon samenhaft das Modell für das Reich Gottes angelegt.
Dante nennt ja die Liebe das innerste Geheimnis des Universums:
‹Liebe, die die Sonne rollt und andere Sterne›,[3]
lautet ein berühmter Ausspruch von ihm.
Vielleicht können wir die Evolution als die allmähliche Entfaltung dieses innersten Wesens verstehen ‒ als das Offenbarwerden des Reiches der Liebe, nach dem sich alles sehnt.»
Brigitte Kwizda Gredler: «So verstehe ich auch Pierre Teilhard de Chardins berühmten Ausspruch:
‹Eines Tages, nachdem wir Herr der Winde, der Wellen, der Gezeiten und der Schwerkraft geworden sind, werden wir uns in Gottes Auftrag die Kräfte der Liebe nutzbar machen. Dann wird die Menschheit zum zweiten Mal in der Weltgeschichte das Feuer entdeckt haben.›»
Bruder David: «Dann wird die Vaterunserbitte um das Kommen des Gottesreiches in Erfüllung gegangen sein.»[4]
(Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 4)
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Bruder David im Gespräch:
(57:20) ‹Die Gesellschaft, in der die Starken die Schwachen unterdrücken, das ist die typische menschliche Gesellschaft. Leider. Eine Gesellschaft, die aus der Angst und aus der Unterdrückung lebt.
Und der entgegen stellt Jesus das Reich Gottes. Und das Reich Gottes ist eine Übersetzung dieses tiefsten Zugehörigkeitsgefühls in eine soziologische Wirklichkeit, in gesellschaftliche Wirklichkeit.
Er ist nicht nur Mystiker, er hat nicht nur diese tiefe Erfahrung der Zugehörigkeit, die sich ausdrückt dadurch, dass er alle Menschen, auch die Ausgestoßenen als Brüder und Schwestern anspricht und sich Gott so ganz eng verbunden fühlt: diese Familie Gottes, zu der auch die Tiere und Pflanzen gehören. Das ist ganz stark angelegt, aber nicht nur dieses Mystische, sondern dann die Übersetzung dieses Mystischen in ein tägliches Leben, in Gesellschaftsformen, die unsrer Art von Gesellschaftsform, wo einer den andern frisst und beißt, entgegengesetzt ist.
Und das versucht er zu verwirklichen und das nennt er Reich Gottes, und Bekehrung ist dann eine Umkehr von der Art von Gesellschaft, die wir kennen ‒ typisch ‒ zu der andern Gesellschaft.
Aber ich möchte nicht einfach so die Gesellschaft abschreiben. … das ist das Gute, dass es heutzutage ‒ wahrscheinlich wie immer in der Geschichte ‒, viele Zellen gibt, viele Ansatzpunkte, wo Menschen schon in einer Familie, in einer Freundschaft, in einer Pfarre, in irgendeinem Freundeskreis genau das zu verwirklichen beginnen. Und sie kommen in Konflikt mit der vorherrschenden Gesellschaft.›
1.2. Audio Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition:
«Das Bild des Messias strahlte in einer anderen solchen Gnadenstunde auf, als sich Vertreter vieler Religionen 1972 auf Mount Saviour[5] trafen. … Ich weiß nicht mehr, ob es Reb Shlomo Carlebach war oder Reb Zalman Schachter, der bei unserem letzten gemeinsamen Abendessen eine chassidische Geschichte erzählte, die uns zu Herzen ging, weil sie von dem sprach, was unter uns Wirklichkeit geworden war: ‹Der gelehrte Rabbiner und seine Schüler waren beisammen und so glühend war die Liebe unter ihnen, dass der Meister einen von ihnen zum Fenster schickte: ‹Schnell, schau hinaus, ob der Messias nicht gekommen ist!› Enttäuscht kam die Antwort: ‹Alles da draußen wie eh und je.› ‹Aber Rabbi›, fragte ein anderer Schüler, ‹müssten wir hinausschauen, wenn der Messias gekommen wäre? Würden wir es nicht hier herinnen gleich wissen?› ‹Ja! Aber hier›, sagte der Meister strahlend, ‹hier ist der Messias ja gekommen!›»[6]
2. Weitere Texte
2.1. Osterbrief 2023
«Jesus hat ein Zusammenleben gelehrt, das er ‹Reich Gottes› nannte, das wir aber auch ‹Gotteshaushalt› nennen könnten, Gemeinschaftsleben, das dem Gemeinsinn der Vögel näher steht, als der Gesellschaftsordnung seiner und unserer Zeit. Er sagte: ‹Schaut euch die Vögel des Himmels an› (Mt 6,26) und baute eine auf ‹Wir-Denken› gegründete Gemeinschaft: Das ‹Reich Gottes›. Es war, wie wir heute sagen würden, ‹der Natur nachgebildet› ‒ der Natur, in deren innerstem Mysterium wir ‹Gott› begegnen. Dafür lebte und dafür musste er sterben, denn die Machtpyramide des ‹Ich-Denkens› erkannte, dass sie an ihrer Wurzel bedroht war.»
2.2. Vom mystischen Wasser kochen ‒ 99 Namen hat Gott im Islam (2019): Interview von Josef Bruckmoser mit Bruder David:
«Sind Ihnen von diesen 99 Namen einige besonders nahe gekommen?»
«Interessanterweise fällt mir keiner ein, aber es fallen mir viele ein, die mir eher unsympathisch sind, wie z. B. der König oder der Mächtige. Das sind Bezeichnungen für Gott, die sich auch weitgehend mit dem Christentum decken. Solche Namen Gottes kommen der Pyramide der Macht im Christentum wie im Islam sehr gelegen, weil weltliche wie religiöse Machthaber diesen Anspruch Gottes für sich selbst ausnützen. Das steht meinem Verständnis von Christentum völlig entgegen. Wenn Jesus vom Reich Gottes spricht, ist es genau das Gegenteil einer weltlichen Machtpyramide, an deren Spitze ein König sitzt. Das Reich Gottes ist keine Pyramide, es ist ein Netzwerk von Netzwerken. So hat Jesus das als Wanderprediger mit seinen Leuten gelebt. Seine mystische Erfahrung der Nähe Gottes machte ihn zum Revolutionär. Er hat gesellschaftliche und religiöse Macht untergraben und wurde dafür am Ende hingerichtet. Papst Franziskus versucht, die kirchliche Machtpyramide durch menschliche Beziehungen und Netzwerke zu ersetzen. Zwischen ihm und Vertretern dieser Machtpyramide spielt sich leider ein schwerer Zusammenstoß ab.]»
__________________________
[1] «An Zimmern
Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.»
Friedrich Hölderlin
[2] R. M. Rilke: ‹Wer seines Lebens viele Widersinne› (Das Stunden-Buch); das Gedicht in Sinnorgan Herz und
(29:15) im Audio Fragen, die uns bewegen (2005)
[3] Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: «L'amor che move il sole e I'altre stelle» ‒ «die Liebe, die alles bewegt.» ‒ Das zentrale Geheimnis des kosmischen Rundtanzes ist die Liebe.
[4] Das Vaterunser (2022): ‹Dein Reich komme›, 49-53 und ‹Reich Gottes als konkrete Aufgabe›, 55f.
[5] Bruder David trat 1953 in das kurz zuvor neu gegründete Benediktinerkloster Mount Saviour in Elmira, NY, ein.
[6] Ich bin durch Dich so ich (2016), 98
Reich Gottes ‒ ‹auferstanden›
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Streng genommen kann es keinen äußeren Beweis für die Auferstehung geben, nur Indizien wie etwa das Zeugnis der ersten Christen oder das oben erwähnte Grabtuch von Turin.[1] Für ein Ereignis, das sich am Grat zwischen Zeit und Ewigkeit abspielt, kann es nur innere Beweise geben.
Wir wissen hier in der Zeit um etwas, was über die Zeit hinausgeht.
Das Leben des Auferstandenen gehört der Ewigkeit an, dem Jetzt, das alles Vorher und Nachher einschließt.
Jesus Christus ist «in Gott verborgen» (Kol 3,3).
Sein Leben ist in Gott aufgehoben, und zwar in dreifachem Sinn: in der Zeit ist es gelöscht; jenseits der Zeit ist es unzerstörbar bewahrt; zugleich ist es in Gottes Gegenwart hinein überhöht, so dass es im Geist der Liebe die ganze Welt durchwirkt.
Was man einen inneren Beweis nennen könnte, sieht so aus: Zu wissen, wofür Jesus lebte und sein Leben hingab, bedeutet, Gottes Weisheit und Macht darin zu erkennen.
Diese Weisheit ist aber nach weltlichem Ermessen Torheit, diese Macht Schwachheit. In der Sprache Martin Luthers:
«Die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind; und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind» (1 Kor 1,25).
Gottes Autorität lässt sich aber nicht auf immer ignorieren. Es ist ja die Autorität der Liebe, um die es hier geht, und wir wissen im Innersten, dass dies die letztgültige Autorität ist.
Früher oder später ‒ am dritten Tag ‒ muss es sich erweisen: Liebe ist stärker als der Tod.
Wir wissen das in unserem Herzen, schon bevor das Zeugnis der Jünger von der Auferstehung es uns von außen her bestätigt.
Wie weit die Auferstehungstexte der Evangelien geschichtliche Berichte sein mögen, wie weit Bildersprache für etwas Unbegreifliches, ist diskutabel. Eines wissen wir jedenfalls:
Die Jünger erlebten das, was sie seine Auferstehung nannten als ein Ereignis, das ihr Leben von Grund auf veränderte.
Durch den Tod Jesu zerschmettert und mutlos gemacht, setzen sie sich kurze Zeit später (vielleicht nicht genau ‹am dritten Tag›) unbeirrt für die Ideale Jesu ein. Sie stehen vor den Obrigkeiten, die ihn zum Tod verurteilt hatten und sagen unerschrocken, ja, fast tolldreist:
«Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Der Gott unserer Väter hat Jesus, den ihr ans Kreuz gehängt und umgebracht habt, auferweckt. ... Und wir sind Zeugen dieser Ereignisse» (vgl. Apg 5,29-32).
Auch wenn das in diesen Worten erst am Ende des 1. Jahrhunderts niedergeschrieben wurde, haben wir mit dem ersten Thessalonicherbrief schon aus dem Jahre 50 oder 51 ein schriftliches Zeugnis, das beweist, dass dieser psychologisch schwer erklärliche Umschwung kurz nach Jesu Tod stattgefunden haben muss.
Stellen wir uns einmal vor, dass ein Wissen um die äußeren Umstände, die den Glauben der Jünger an die Auferstehung und ihre darauf gründende Begeisterung auslösten, uns grundsätzlich versagt wäre. Würde uns das die Möglichkeit nehmen zu leben, wie Jesus lebte, ermächtigt von demselben Geist, der ihm Macht gab?
Wenn wir so lebten ‒ aus unserem Christus-Selbst heraus, dann könnte unser eigenes Lebenszeugnis ja als eine Art Beweis für sein Leben gelten ‒ hier und jetzt ‒ seinem Tod zum Trotz.[2]
Unsere polarisierte Welt fordert uns alle heraus, Brücken zu bauen statt Mauern. Für uns Christen wäre das zugleich ein Brückenschlagen auf die Kirche der Zukunft hin. Ein Blick auf Jesu Tod und Auferstehung kann uns das nahebringen.
Um die Gottesherrschaft mitten unter uns (Lk 17,21) aufzurichten, zog Jesus durch Galiläa und organisierte eine von der römischen Besatzungsmacht unterdrückte und ausgebeutete Unterschicht zur Selbsthilfe.
Er sandte auch Mitarbeiter aus (Lk 10,1), um das Reich Gottes ganz gezielt im Gegensatz zur Machtpyramide Roms als Vernetzung kleiner Netzwerke aufzubauen.
Trotz aller Gegensätze zwischen Kaiphas und Pilatus, saßen beide an der Spitze der Pyramide, die Jesus zu erschüttern drohte, wenn er sagte:
«Der Größte von euch soll euer Diener sein» (Mt 23,11).[3]
Die Gewalthaber machten also gemeinsame Sache und «eliminierten» den Revolutionär.
Jesus wurde als politischer Verbrecher hingerichtet. Die Kreuzesstrafe war ausschließlich Aufrührern und davongelaufenen Sklaven vorbehalten. Ihr Verbrechen: Sie unterminierten die Grundlage der römischen Machtpyramide. Und genau das hatte Jesus sich zuschulden kommen lassen.
Ein Jude verstand sich mit Gott durch seine Zugehörigkeit zum auserwählten Volk verbunden.
Da die höchste religiöse Autorität seines Volkes Jesus ausgestoßen hatte, mussten seine Jünger annehmen, dass er auch von Gott verdammt war.[4]
Aber das Umwerfende der Osterbotschaft war: Gott hat Jesus auferweckt und so das Herzstück seines Wirkens, die Aufrichtung der Gottesherrschaft gerechtfertigt.
Das sendet die Apostel als Zeugen für das Reich Gottes in alle Welt.
Ein Schlüsselwort der Auferstehungsbotschaft ist:
«Fürchtet euch nicht!» (Mk 16,6).
Auf Furcht setzt das Grundmodell der vorherrschenden Weltordnung: die Machtpyramide.
Bei Johannes heißt sie darum einfach «die Welt» – nicht die Welt, die Gott so sehr geliebt, sondern die Welt, die ihn nicht erkannt hat.
Von ihr sagt Jesus Christus:
«In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden» (Joh 16,33).
Auch für uns gilt:
«Dies ist der Sieg, der die Welt überwindet: unser Glaube» (1 Joh 5,4).
Der Auferstandene siegt durch gläubiges Vertrauen auf Gott über alle Furcht der Welt.
Furcht müssen wir dabei freilich von Angst unterscheiden. Angst ist unvermeidlich. Sie ist die Enge, in die uns das Leben immer wieder führt. Furcht sträubt sich und bleibt in der Angst stecken.
Der Glaube geht voll Vertrauen weiter und auch die engste Passage führt zu einer neuen Geburt.
Jesus selbst schwitzt Blut vor Todesangst (Lk 22,44), furchtlos aber vertraut er dem Vater und wird so zum «Erstgeborenen von den Toten» (Offb 1,5).
Furcht baut Mauern,
Vertrauen baut Brücken.
Beides ‒ und das ist die Tragik der Kirchengeschichte ‒ finden wir innerhalb der einen Kirche. Sie wurzelt in der Predigt Jesus vom Reich Gottes, verweltlicht aber zur Machtpyramide und baut Mauern von Furcht, Ausgrenzung und Habsucht.[5]
Eine katastrophale Entwicklung war es, dass die Kirche schon bald von der Netzwerkstruktur des «Reiches Gottes» auf die der Machtpyramide Roms zurückfiel. In ihr aber sprangen immer wieder Gruppen auf, die das ursprüngliche Ideal verwirklichten.
Ein Beispiel sind die ersten Jünger des heiligen Franziskus. Und jede Klostergemeinschaft ist ein Versuch «Reich Gottes» zu leben.
Überall in der Welt entstehen heute Gruppen, die oft vom «Reich Gottes» keine Ahnung haben, aber es doch verwirklichen, indem sie sich vom «Ich-Denken» zum «Wir-Denken» bekehren und für ihr Gemeinschaftsleben von der Natur lernen.
Ihre Ehrfurcht vor der Natur ist, ob sie es wissen oder nicht, Ehrfurcht vor Gott, der uns im innersten Mysterium der Natur begegnet.
Noch ist Zeit, diese kleinen Netzwerke zu einem weltumspannenden Netzwerk des «Wir-Denkens» zu verweben.
Wenn uns das gelingt, dann kann die ganze Menschheitsfamilie ein gemeinsames Alleluja singen.[6]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2, 5f.)
[Ergänzend:
2. Löwe Lamm und Kind (1992);
Vortrag:[7]
(37:15) «Wir können nicht genau sagen, worin sich die Auferstehung historisch ausgedrückt hat, wir wissen es nicht: war es das leere Grab, waren es Erscheinungen ‒ nichts davon ist letztlich zwingend, selbst wenn wir es historisch ganz genau festnageln könnten. Das Entscheidende daran ist, dass seine Jünger, die ihn verlassen haben, nach seinem Tod klar sehen: Er ist wirklich gestorben, er ist wirklich tot und siehe: Er lebt.
Und das wird auch wieder in dem Bild des Lammes ausgedrückt, das Lamm, das die Todeswunde trägt in der Apokalypse und doch lebendig ist.
Oder wie es in dem Osterhymnus heißt: ‹Agnus redemit oves›: ‹Das Lamm, das Opferlamm hat die Schafe erlöst.› Und zwar, weil er für uns und für unsere Entfremdung gestorben ist:
In der Art von Welt, die wir aufgebaut haben, muss jemand, der so lebt wie Jesus dafür sterben: Das ist das letzte Wort über die Autoritätskrise ‒, aber nur das vorletzte Wort, denn das letzte Wort ist das Wort von der Auferstehung:
Dieses Leben lässt sich nicht auslöschen.
Und das haben seine Jünger gesehen und das ist das Entscheidende an der Auferstehung und darum können wir uns nicht entschuldigen:
Wenn irgendjemand von uns einen einzigen Menschen kennengelernt hat im Leben, der aus dieser Lebenskraft Jesu lebt, dann haben wir die Auferstehung erlebt.
Und dann ist das eine Herausforderung für uns: Für das Reich Gottes ‒ so kann man leben ‒, aus dieser Erfahrung der Zugehörigkeit kann man ein befreites Leben, ein erlöstes Leben leben, ein Leben des Zusammenwohnens von Löwe und Lamm, ein Leben, in dem alle eine Gemeinschaft teilen können.
Und das ist der Sieg des Löwen aus dem Stamme Juda, von dem es in Jesaja heißt (Jes 9,5): ‹Ein Sohn ist uns geboren, ein Kind ist uns geschenkt› und seine Namen zeigen das schon an:
‹Wunderbarer Ratgeber›: Einen solchen Sieg, einen Sieg, der aus der Schwachheit des Lammes entspringt, einen Sieg, der durch den Tod des Siegers errungen wird, das ist wunderbarer Rat, den hätten wir nie erfinden können.
Er heißt: ‹Wunderbarer Ratgeber›, ‹starker Gott›: Die Schwäche Gottes ist stärker als unsere Kraft.
‹Vater der Zukunft›: Nur darin liegt Zukunft überhaupt. Nur in diesem Zusammenbringen von Demut und Glorie, in diesem Sieg des Löwen und des Lammes liegt die Zukunft.
Und ‹Fürst des Friedens›. Aber eines Friedens, wie ihn die Welt nicht gibt.
Ich darf vielleicht mit einem Erlebnis abschließen, das immer wieder mich daran erinnert, es hat sich schon vor vielen Jahren ereignet, dass dieses Friedensreich, in dem das Kind Lamm und Löwe zur Weide führt, ja nicht erst am Ende der Zeiten sich ereignen wird, sondern jetzt schon unter uns aufbricht. ‹Das Himmelreich ist mitten unter uns› (Lk 17,21), wie Jesus sagt.
Und zwar war ich da auf einer Tagung, bei der Vertreter der verschiedenen Religionen teilnahmen: verschiedene Gruppen von Christen, Buddhisten, Hindus, Muslimen, Sufis, Juden, und einer der jüdischen Rabbis steht auf und erzählt aus der chassidischen Tradition ‒ das war ein wunderbares Erlebnis ‒ folgende Geschichte und der Rahmen gibt dem Ganzen erst das Gewicht:
Einer unserer großen Meister hat mit seinen Jüngern gemeinsam den Sabbat gefeiert und die Begeisterung und das Zusammensein hat einen solchen Gipfel erreicht, dass der Lehrer plötzlich einen der Schüler wegschickt und sagt: ‹Geh schnell zum Fenster und schau, ob der Messias nicht schon gekommen ist, das Friedensreich nicht schon angebrochen ist›. Und der Schüler geht zum Fenster und schaut hinaus, und draußen geht alles so vor sich wie bisher, man kauft und verkauft … Dann kommt er zurück und sagt: ‹Leider keine Rede vom Kommen des Messias›. Und da sagt ein anderer zu dem Meister: ‹Aber Rabbi, wenn der Messias wirklich gekommen wäre, müssten wir dann zum Fenster hinausschauen? Würden wir es nicht gleich hier bemerken›? Worauf der Rabbi sagt: ‹Aber hier ist er ja schon gekommen.›»[8]
3. Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Nur die dichterische Sprache ist tragfähig genug, um so viel Wahrheit zu tragen›: Das Glaubensbekenntnis im Licht der großen Menschheitsmythen:
(40:55) ‹Warum sucht ihr den Lebenden bei den Toten›? (Lk 24,5) ‒ ‹Wenn es sich hier davon handelt, von dem zu erzählen, der das Leben ist und der uns die Antwort darauf gibt, was Leben heißt, ist die einzige Form, die sich dafür anbietet, der Mythos vom Helden.›
(44:05) Vergleich mit der früheren Deutung der Auferstehung: ‹Euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott› (Kol 3,3)]
____________________
[1] Im Credo (2015), 133-137 und 152f. im Zusammenhang mit der Frage: ‹Wurde Jesus begraben? und: ‹welche äußeren Ereignisse könnten den Auferstehungsglauben der Jünger ausgelöst ‒ nicht bewirkt! ‒ haben?› gibt Bruder David einen Überblick zu den Forschungsergebnissen in Bezug auf auf das Sindon, das Grabtuch von Turin, wie auch auf das Sudarium (= Schweisstuch) von Oviedo, und bemerkt: ‹Zwingende Beweise, dass Sudarium und Sindon zusammengehören, werden sich kaum erbringen lassen, auch nicht der Nachweis, dass das Sindon das Grabtuch Jesu ist …›.
[2] Credo (2015), 151f. und 154
[3] Siehe auch Mk 10, 42-44; Lk 22,25f.
[4] Ausführlich in Reich Gottes ‒ ‹gekreuzigt›: Ergänzend: 1. (Text), 3.1.-3.2. (Audios) und Anm. 6: Verweis auf Galaterbrief 3,13 und 5 Mose 21,23
[5] Brücken statt Mauern (2017)
[7] siehe auch die Transkription des Vortrags (25:21-36:05) in Jesus zu Beginn des Textes mit Quellenangabe in Anm. 5
[8] Siehe auch den Bericht von Bruder David im Buch Ich bin durch Dich so ich (2016), 98, in Reich Gottes: Ergänzend: 1.2. (Audio)
Reich Gottes ‒ ‹gekreuzigt›
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Johannes Kaup: «Was das Revolutionäre betrifft: In welcher spirituellen Tradition sehen Sie sich da selbst? Welche Vorbilder haben Sie vor Augen?»
Bruder David: «Mein Vorbild ist vor allen anderen Jesus Christus als Revolutionär. Er war es in seiner Zeit und wurde auch als solcher anerkannt, denn die Kreuzesstrafe war nicht für religiöse Vergehen vorgesehen. Dafür wurde man mit Steinigung bestraft. Kreuzigung war ausdrücklich eine politische Strafe ‒ für davongelaufene Sklaven und Revolutionäre, Vergehen also, durch die der sogenannte Verbrecher die bestehende Gesellschaftsordnung unterminiert hat. Das hat Jesus durch seine Predigt vom Reich Gottes getan. Wenn er sagt:
‹Bei euch soll der Größte der Diener von allen sein›, dann unterminiert er die Machtpyramide seiner Zeit ‒ und auch unserer Zeit. Ist das nicht entschieden revolutionär?»[1]
Was aber machte ihn politisch so gefährlich? Es war seine radikale Spiritualität seine beständige Bemühung, sich auf Gott einzustellen und sich an Gott auszurichten statt an den Normen der Gesellschaft. In diesem Sinne war Jesus ein Aufrührer. Gerechtigkeit im Sozialleben war ihm ebenso wichtig wie Integrität im Privatleben.
Was er «Reich Gottes» nannte, stand in radikalem Widerspruch zur vorherrschenden Gesellschaftsordnung, in der die wenigen Privilegierten (gemeinsam mit der römischen Besatzungsmacht) die Masse unterdrückten und ausbeuteten.
Er verkehrte «in schlechter Gesellschaft»[2], teilte sein Brot gerne mit Leuten von der Straße, verbrüderte sich mit Ausgestoßenen, ja, er berührte sogar Aussätzige liebend und heilend.
Sein Blick drang durch jede soziale Maske und schaute direkt auf das strahlende Selbst jedes Menschen.
Dadurch gab er den Entmachteten ein Gefühl der Würde.
Den Mächtigen aber schien es, als ob er ihnen etwas an Unterwürfigkeit schuldig bliebe.
Gebeugte konnten sich in seiner Gegenwart plötzlich wieder aufrichten, Verunsicherte konnten aufrecht stehen.
Darum so viele Heilungen Lahmer, darum aber auch die Anklage, er sei ein Demagoge, er wiegle das Volk auf (Lk 23,5).
In dieser Hinsicht stand Jesus in der Tradition der Propheten in der Geschichte seines Volkes. Deren radikale Spiritualität war zu ihrer Zeit auch in Konflikt geraten mit einer Form von Religiosität, die, einfallslos, den Status quo um jeden Preis bewahren will und für die man als Preis das eigene Denken aufgeben muss.
Jesus hingegen betonte, dass ein wacher Verstand unbedingt zu unserer Gottesbeziehung gehöre.
Nach Markus zitiert Jesus das erste und wichtigste Gebot aus dem 5. Buch Mose, wo es heißt: «Gott lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft» (Dtn 6,5).
Jesus fügt aber noch hinzu: «und mit deinem ganzen Verstand» (Mk 12,29).
Der Verstand ist zwar im hebräischen Begriff der Seele schon enthalten, hier hebt Jesus ihn aber noch ausdrücklich hervor.
Gemeint ist nicht ein besonderes intellektuelles Vermögen, sondern der gesunde Menschenverstand. Jesus ermächtigte seine Zuhörer dazu, sich mittels des ihnen von Gott geschenkten Verstandes selber ein Urteil zu bilden. Das können wir aus jenen Schichten der Evangelien herauslesen, die nach Sicht der Wissenschaft der ursprünglichen Lehre Jesu am nächsten kommen, nämlich den Gleichnisse Jesu.[3]
«Gelitten unter Pontius Pilatus»
Weil Jesus für Gottes Weltordnung eintrat, musste er notwendigerweise mit einer Weltordnung zusammenstoßen, die sich nicht an Liebe ausrichtet, sondern an Macht, die also im vollen Sinn des Wortes ver-rückt ist. In der Welt der Machtpolitik ist er dann der Unterlegene. Wenn er sich auflehnt, muss er mit Folgen rechnen.
Den römischen Statthalter Pontius Pilatus im Glaubensbekenntnis zu erwähnen heißt: Ich kenne die Mächtigen bei Namen, ich kenne ihre Taktiken und das Leid, das sie der Welt und mir selber antun können. Trotzdem setze ich Vertrauen auf Jesus Christus, den Verlierer in dieser Welt. Gerade weil ich die weltliche Macht von Neid, Geiz und Hass in mir selber kenne, will ich mich immer wieder ‒ im Vertrauen auf Gott ‒ für die Weltordnung der Liebe entschließen und einsetzen.
Der Zusammenstoß zwischen Christus und Pilatus wird uns bewusst, wenn wir uns die Diskrepanz zwischen unseren spirituellen Werten und der Wertordnung unseres täglichen Lebens eingestehen.
In Augenblicken, in denen wir wirklich wir selbst sind (in unseren Gipfelerlebnissen), wird uns das Wahre Schöne und Gute zur unleugbaren Erfahrung.
Aber wie schwer fällt es uns doch, um dieser Werte willen in unserer Gesellschaft gegen den Strom zu schwimmen.
Was in unserem Alltag gilt, wird meist doch weitgehend vom gerade vorherrschenden Pontius Pilatus diktiert.
Wir haben unzählige Gelegenheiten für Menschenwürde und Gerechtigkeit einzustehen und wenn wir das wagen, wird uns sehr bald durch eigenes Leiden bewusst gemacht, was es heißt, dass Jesus gelitten hat unter Pontius Pilatus. Auch in unserer Zeit bewahrheitet sich die neutestamentliche Behauptung:
«Alle die in Jesus Christus nach Gottes Ordnung leben wollen, werden Verfolgung leiden» (2 Tim 3,12):
Dietrich Bonhoeffer, Edith Stein, Franz Jägerstätter, die Blutzeugen und Desaparecidos in Lateinamerika, Maximilian Kolbe und unzählige Andere anderswo, sie alle sind jener Macht zum Opfer gefallen, die im Credo durch Pontius Pilatus verkörpert wird.
Transzendente Wirklichkeit wird hier geschichtlich verankert. Für uns, nicht weniger als für Jesus, ist Geschichte bedeutsam. Sie ist der Schauplatz, auf dem sich unsere Überzeugungen bewähren müssen.
Sich zu Jesus Christus zu bekennen, obwohl er unter Pontius Pilatus gelitten hat, setzt gläubiges Vertrauen voraus, dass die Schwachheit Gottes stärker ist als menschliche Macht (1 Kor 1,25).
Dass Jesus unter Pontius Pilatus leiden musste, ist wichtig, weil es uns zeigt, was Jesus seine Überzeugung kostete und was seine Nachfolge uns kosten kann.
Unzählige Blutzeugen ‒ gefeierte und längst vergessene ‒ haben im Laufe der Geschichte «gelitten unter Pontius Pilatus», und leiden immer noch irgendwo in der Welt an diesem heutigen Tag. In ihrer Niederlage aber erweisen sie sich stärker als ihre Henker.
Was wir hier vom Leiden Jesu Christi bekennen, hat also eine Wichtigkeit die weit über den Wortlaut hinausgeht, weil es zur Kraftquelle werden kann für alle, die verbunden mit Jesus Christus, spirituelle Werte den Machtsystemen der Welt entgegenstellen, für alle, die im Einsatz für eine heilige und geheilte Welt leiden.[4]
In der Wallfahrtskirche ‹Maria Schmerzen› in Wien, unserer Pfarrkirche in meiner Jugend, steht ein viel verehrtes Schnitzbild der Schmerzensmutter. Jedes Jahr am Freitag vor dem Karfreitag kamen tausende Menschen dorthin, um zu beten. Auch 1944 zog ein endloser Strom von Frauen in Schwarz zwischen den Weingärten den Kaasgraben hinauf zur Kirche. Sie trauerten um ihre gefallenen Männer, Brüder, Söhne oder Enkelsöhne, die als Kanonenfutter in Hitlers Armee gezwungen worden waren. Nur wenige von ihnen wussten, dass drei Tage vorher in einer Nachbarpfarrei ein junger Priester von der Gestapo verhaftet und des Hochverrats angeklagt worden war, weil er im Namen seines Herrn Jesus Christus gegen dieses sinnlose Hinschlachten von Millionen klar Stellung genommen hatte.
Dieser Priester hieß Heinrich Maier. Er war einer der Kapläne, die wir Studenten liebten, weil sie mit der Jugend umzugehen wussten. Während er an jenem Morgen die Messe feierte, kamen drei Männer in die Kirche gestampft und nahmen mit verschränkten Armen und gespreizten Beinen vor dem Altar Stellung. Diese Drohgebärde war alles, was die Mitfeiernden zu sehen bekamen. Kaum hatte der Priester den Altar verlassen, wurde er noch in seinem Messgewand in der Sakristei festgenommen und abgeführt.
Lisi Irdinger, die geistesgegenwärtige und mutige Pfarrhelferin verschwand schnell in Pater Maiers Zimmer, packte seine Schriftstücke und Unterlagen zusammen und brachte sie ins Zimmer von Pater Robert Firneis, eines Kaplans, der in die Armee eingezogen worden war und dessen Zimmer folglich nicht von der Gestapo durchstöbert werden durfte.
Spitzel hatten allerdings schon alles verraten, was man wissen wollte: Dieser hochintelligente und zweifach promovierte junge Kleriker war gefährlich für das Dritte Reich. Alle in der Pfarrei hatten ihn gern; schon das war verdächtig. Er hatte eine Gruppe der österreichischen Widerstandsbewegung gegründet, hatte sich mit ähnlichen Gruppen in Deutschland in Verbindung gesetzt, besonders mit Mitgliedern katholischer Gewerkschaften, und war sogar mit dem Geheimdienst der Alliierten in Kontakt. Er hatte versucht, das wahllose Bombardieren der Zivilbevölkerung zu bremsen, indem er half, alliierte Luftangriffe auf Waffenfabriken zu lenken. All das genügte, ihn des Hochverrates anzuklagen. Das Todesurteil lautete: Enthauptung.
Am Schmerzensfreitag des nächsten Jahres kamen nur noch eine Handvoll Trost suchender Frauen zur Wallfahrtskirche. Bombenangriffe bei Tag und Nacht hatten ganze Stadtteile Wiens in Trümmerfelder verwandelt. Die russische Befreiungsarmee rückte von Ungarn her täglich näher und das Ende von Hitlers «Tausendjährigem Reich» war in Sicht. Wir ahnten nicht, was die russischen «Befreier» in Wien anrichten würden. Vielleicht stand uns das Ärgste noch bevor. «Besser ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende», sagten wir damals. Die Schreckensherrschaft war jedoch am Zusammenbrechen. Erst später erfuhren wir es: Pater Heinrich Maier war am Tag vorher hingerichtet worden.
Wenn ich jetzt an ihn denke, so vermischt sich das, was ich aus eigener Erinnerung weiß, mit dem, was mir erzählt wurde. Nackt war er im Gefängnis ans Fenstergitter gefesselt und gefoltert worden. Selbst unter Folterqualen hatte er keinen Namen eines Mitverschwörers verraten. Einer seiner Richter hatte ihn zynisch gefragt: «Sie nehmen alle Schuld auf sich, was bekommen Sie denn dafür?» «Von nun an werde ich sehr wenig brauchen», war die Antwort.
Ich weiß aber auch, dass manche sagten: «Waghalsig war er; da ist's ihm halt an den Kragen gegangen. Was hat er denn sonst erwartet?»
Ich weiß aber auch, dass wir junge Menschen damals von Helden wie Heinrich Maier lernten, was es heißt, Jesus Christus als «Unseren Herrn» zu bekennen.
Mit lauter Stimme hatte er das getan ‒ so berichteten seine Mitgefangenen. Wenige Augenblicke, bevor er für immer schweigen musste.[5]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3-5)
[Ergänzend:
1. Credo (2015): ‹Am dritten Tage auferstanden von den Toten›, 150:
«Von den religiösen Autoritäten seines Volkes verdammt und ausgestoßen zu werden, hieß für einen Juden zur Zeit Jesu, auch von Gott verstoßen zu sein.[6] Seine Hinrichtung schien dies zu bestätigen ‒ ‹Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen›? (Mk 15,34) ‒, aber seine Auferweckung zeigte den Jüngern: Gott hatte ihn doch nicht verlassen. Das ist und bleibt der zentrale Aspekt des Auferstehungsglaubens.»
2. Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 298:
«‹Kein Prophet kann außerhalb Jerusalems sterben› (Lk 13,33),
sagt Jesus, das heißt, er muss dort sein, wo es ums Wesentliche geht.
So müssen auch wir mitten drinstehen.
Dieses Drinstehen in einer Gemeinschaft ist so schwierig, dass man glauben sollte, es genüge schon. Drinnen zu bleiben, ohne sich bemerkbar zu machen, ist schwer genug.
Darin, dass beides von uns verlangt wird, in der Gemeinschaft zu stehen und sie zugleich herausfordern, da liegt das Kreuz des Propheten.
Das Drinnenstehen ist der senkrechte Balken und das Herausfordern ist der horizontale Balken.
So endet jeder Prophet früher oder später am Kreuz. Versuchen Sie nur einmal bei irgendeiner Gelegenheit, wirklich aus dem tiefsten inneren Horchen, aus dem Herzen zu sprechen, besonders dann, wenn sich das, was Sie sagen wollen, mit der vorherrschenden Meinung nicht ganz verträgt. Sie werden auf die eine oder die andere Weise gekreuzigt werden.»
3. Audios
3.1. Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(07:58) ‹Denn zur Zeit Jesu war etwas, was für uns schon eigentlich verständlich ist, völlig unentdeckt. Und das war die Möglichkeit, dass ein Mensch mit Gott in guter Beziehung sein kann, ohne mit seinem Volk in guter Beziehung zu sein.[7] Die Beziehung eines Juden zur Zeit Jesu zu Gott, war die Beziehung eines Juden als M i t g l i e d des Volkes zu Gott. Aber dass jemand, von der Priesterschaft des Volkes ausgestoßen, doch eine gute Beziehung zu Gott haben könnte, dafür war Jesus ‹der Pionier des Glaubens›, wie ihn der Hebräerbrief nennt.[8] Das war etwas ganz Unerhörtes. Und so war es der Abschied von dem vertrauten Gottesbild. Das ist vielleicht der schmerzlichste Abschied. Aber Jesus als der Pionier der Gläubigkeit geht mit Vertrauen durch dieses ‹Mein Gott, warum hast du mich verlassen›[9] hin auf das ‹In deine Hände empfehle ich meinen Geist›[10]: den unbekannten Gott.›
3.2. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Wesen und Erscheinungsform der Kirche oder die Gemeinschaft der Glaubenden in Spannungen und Konflikten:
(34:30) ‹Jesus stirbt außerhalb von Jerusalem ‒
Jesus geht nach Jerusalem und er sagt:
‹Kein Prophet kann außerhalb von Jerusalem sterben.›
Er muss nach Jerusalem gehen.
Aber er stirbt außerhalb von Jerusalem, weil sie ihn hinausschmeißen.
Er geht ausdrücklich nach Jerusalem, um in der Mitte zu sein. Aber man exkommuniziert ihn.
Das war für mich historisch ganz sicher die Schwelle, über die Jesus hinausgegangen ist bei der Kreuzigung:
Das war der Augenblick, wo er aus Jerusalem ausgestoßen wurde.
Das berührt mich noch jetzt sehr stark, wenn ich daran denke.
Dieser Stein, da ist er drüber gegangen, in dem Augenblick, wo er wirklich ausgestoßen wurde.
Und für einen Juden aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu sein in dieser Weise, ist völlig anders, als es für uns wäre.
Für eine Johanna von Orleans ist es schon irgendwie möglich ‒ auch furchtbar schwierig ‒, aber irgendwie möglich, noch Christus treu zu sein und mit Gott verbunden zu sein, und von der Kirche ausgestoßen.
Das ist erst in unserem christlichen Bereich möglich ‒ denkbar.
Für einen Juden zur Zeit Jesu, also für Jesus ist es absolut undenkbar, mit Gott in Verbindung zu bleiben und vom Volk ausgestoßen zu sein, das ist einfach undenkbar.
Daher ist das vielleicht einer der ganz entscheidenden Durchbrüche ‒ menschlich gesprochen im Leben Jesu ‒ möglicherweise, man weiß es gar nicht, historisch lässt es sich nicht fassen ‒, aber möglicherweise hat Jesus sich irgendwie durchgerungen zu der Einsicht: Ja, ich bleibe doch mit Gott verbunden, obwohl das auserwählte Volk mich ausstößt, ‒ möglich ‒ wir wissen es nicht.
Andererseits der Schrei: ‹Mein Gott, warum hast du mich verlassen› könnte darauf hindeuten, dass er sich völlig ausgestoßen gefühlt hat, also bis zum Letzten: sich nicht mehr mit Gott verbunden wissen konnte, weil das einfach nicht in seinen Vorstellungskreis hineinpasst, dass man Gott verbunden sein kann und vom Volk ausgeschlossen.
Und vielleicht hängt das auch wieder mit der Einsicht zusammen, die zur Auferstehung gehört, dass er also doch von Gott anerkannt ist, trotzdem er ausgestoßen war. Wir wissen nicht sehr viel. Wir ringen da nur darum.«
(Zuhörer:) ‹Das hat aber bedeutende Konsequenzen!›
(Bruder David:) ‹Das hat auch für Jesus bedeutende Konsequenzen gehabt: ‹Haben sie mich verfolgt, werden sie euch verfolgen. Haben sie auf mich gehört, werden sie auf euch hören› (Joh 15,20).
Und das ist ein Punkt, in dem ganz ausdrücklich ‒ wenn man im Religionsunterricht oder auch im Theologieunterricht die Frage gestellt hat ‒ also: Hier ist Jesus als Anhänger seiner jüdischen Religion, versucht ein guter Jude zu sein und wird von den offiziellen Behörden deshalb, weil er versucht ein Judentum zu leben, das wir heute in der Rückschau als richtig und tiefer ansehen als das der Übrigen ‒ weil er das zu leben versucht ‒, wird er weggeräumt ‒:
Könnte das nicht heute wieder passieren, dass jemand wie Jesus oder Franziskus ein wirklich christliches Leben lebt und daher von den heutigen Behörden der Kirche – genauso dasselbe ‒ wieder weggeräumt wird?›]
_________________________
[1] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 1996-2006, 163f.
[2] 1971 erschien von Adolf Holl das Buch ‹Jesus in schlechter Gesellschaft›. Es folgte der Entzug der Lehrberechtigung und dann die Suspendierung vom Priesteramt.
[3] Credo (2015): ‹gekreuzigt› (2015), 109f.
[4] Credo (2015): ‹Gelitten unter Pontius Pilatus› (2015), 102-105
[5] Credo (2015): ‹… und an Jesus Christus … UNSEREN HERRN›, 82f.:
[6] Siehe Galaterbrief 3,13 mit Bezug auf 5 Mose 21,23: ‹Verflucht ist jeder, der am Holz hängt›
[7] Siehe Anm. 6
[8] Hebräerbrief 12,2
[9] ‹Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen› (Mk 15,34, Mt 27,46, Psalm 22,2)
[10] ‹In deine Hände empfehle ich meinen Geist› (Lk 23,46, Psalm 31,6)
Reich Gottes ‒ die Vision leben
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Je mehr Menschen verschiedenster Art und je mehr ihrer Anliegen ich auf meinen Reisen kennenlernen durfte, umso häufiger stieg in mir die Ahnung auf, dass sich in unserer Zeit eine weltgeschichtliche Umwälzung anbahnte. Immer ging es bei den denkwürdigsten Begegnungen um Tränen, aber auch um unauslöschliche Hoffnung. Besonders ein Gespräch mit Studenten in Zaire löste Einsichten aus, die sich im Lauf des 8. Jahrzehnts meines Lebens herauszukristallisieren begannen.
Ich bin in Kinshasa. Die Unruhen haben ein solches Ausmaß erreicht, dass ich jede Nacht in eine andere, diesmal vielleicht etwas weniger gefährdete Unterkunft gebracht werden muss. Einmal besuchte ich Doktoranden in einem heruntergekommenen Studentenwohnbau. Hier leben sie mit ihren Frauen und Kindern auf engstem Raum zusammengepfercht. Der eine Tisch ist zugleich Kochtisch, Esstisch, Spieltisch für die Kinder und Schreibtisch, auf dem die teuren Bücher und die Unterlagen für ihre Doktorarbeit ständig in Gefahr sind. Trotz unvorstellbarer Entbehrungen sind diese Männer endlich dem Ziel ihrer Mühen nahe.
«Was erhofft ihr euch am heißesten für eure Zukunft?», frage ich und denke dabei ‒ ich gestehe es ‒ an Reichtum und Einfluss. Die Antwort macht mich sprachlos:
«Wenn wir es einmal geschafft haben, hoffen wir, der Versuchung widerstehen zu können, mit den Wölfen zu heulen. Wir wollen es einmal anders machen als die, die Macht und Geld haben. Aber dabei mitzuhalten ist nicht leicht; wir werden auf vieles verzichten müssen.»
Hier ist eine radikal neue Vision der Zukunft. Der Mut dieser Pioniere, gegen den Strom zu schwimmen, geht mir zu Herzen und erschüttert meine Vorstellungen. Er ist revolutionär.
«Revolution» wird nach und nach zu einem wichtigen Begriff. Ich verwende ihn allerdings halb scherzhaft, weil es um etwas ganz anderes geht als bei Revolutionen, die wir aus der Geschichte kennen. Die Revolution, die heute der weltgeschichtliche Augenblick von uns verlangt, muss sogar die hergebrachte Vorstellung von Revolution revolutionieren.
Bisher bestand Revolution darin, dass die jeweilige Machtpyramide auf den Kopf gestellt wurde und die ehemaligen Revolutionäre von unten nach oben stiegen; ansonsten blieb alles beim Alten.
Das Neue besteht nun darin, dass die Machtpyramide nicht umgekehrt, sondern total abgebaut und durch ein Netzwerk ersetzt werden muss.
Buddha setzte sich zum Ziel, das in seiner Sangha zu verwirklichen, und Jesus wollte es in der Gemeinschaft seiner Jüngerinnen und Jünger verwirklicht sehen:
«Die Könige der Nationen herrschen über sie, und die Gewalthaber lassen sich Wohltäter nennen. Ihr aber nicht so! Sondern der Größte unter euch sei wie der Geringste und der Befehlende wie der Dienende.»
Etwas Ähnliches wollten offensichtlich auch die Doktoranden in Kinshasa. Das Ziel, das ihnen und vielen anderen Gruppen, denen ich begegnen durfte, mehr oder weniger klar vorschwebte, war keine verbesserte Machtpyramide, sondern vielmehr ein Netzwerk gegenseitiger Ermächtigung.[1]
Bruder David, damals noch mit dem Geburtsnamen Franz Kuno Steindl-Rast:
«Werfen wir nur einen Blick auf unsere Zeit, um zu sehen, wo wir überhaupt stehen.
‹Der Mensch liegt in größter Not.›
Dieser Aufschrei, [den Gustav Mahler durch seine zweite Symphonie klingen lässt], gilt unserer Zeit mehr als der Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Ja, es gibt keinen erschütternderen Hilferuf aus unserer Zeit als diesen: ‹Der Mensch liegt in größter Not›. Aber nicht nur er, alles, was von ihm geschaffen wurde, ist zerstört und geschändet, alles, was ihm zum Dienste und zur Freude vom Schöpfer gegeben wurde, hat er missbraucht und entweiht. Es scheint so, als ob der Fluch auf alles gefallen sei, das er berührte.»
«Wenn wir in kurzen Streiflichtern einige Punkte berühren, die nun über das persönliche Augenblickserlebnis hinausgreifen, wird der Eindruck in einer erschütternden Weise noch vertieft: Krieg in China, Terror in Palästina, Hetze und Propaganda verschiedenster Ideologien und Parteirichtungen, Hunger in allen Winkeln der Erde, Mangel an den nötigsten Gebrauchsgütern, Schleichhandel mit Arzneimitteln und Waren und Spenden für notleidende Völker, Aufruhr gegen Kirche und Christentum, bettelnde und sich verkaufende Kinder in allen Straßen der Städte der ganzen Erde, Raub, Totschlag, Schändung Quälerei, [6] Rachgier, Ehrgeiz, Verzweiflung, Selbstmord.
Es ist Karfreitag und die Welt schlägt Christus ans Kreuz und merkt nicht, dass sie sich selbst ‒ mordet in ihm. Denn was bleibt, wenn die Liebe getötet ist?
Ich weiß nicht, ob es nach den wenigen Sätzen noch viel bedarf, um zur Erkenntnis zu gelangen, dass der Mensch ein Enterbter und Entrechteter ist.
‹Der Mensch liegt in größter Not.›
Wir alle sind mitgerissen in dieses Chaos und fühlen die hilflose Einsamkeit des einzelnen Menschen, weil wir zu vielen Malen erlebt haben, dass wir in Auflehnung gegen Untergang und Verderben allein gestanden sind. Wir wissen, dass nicht alle dem Ruf nach Macht und Ehrgeiz folgen, wir wissen, dass sogar viele bereit sind, wenn es sein soll, selbst ihr Leben einzusetzen. Aber sie stehen allein in ihren Bestrebungen und Hoffnungen, sie werden umspült von einer Masse ablehnender und angreifender Menschen, dass sie sich hilfesuchend nach Gleichgesinnten umsehen müssen. Sie erkennen mit einmal, dass sie allein auf einem verlorenen Posten stehen, und einzig der Wunsch, das Leben sinnvoll einzusetzen, lässt sie Ausschau halten, wenigstens eine kleine Schar ähnlich Denkender und ähnlich Fühlender zu finden.»
«Wir müssen uns langsam zu der Erkenntnis durchringen, dass jeder von uns mitverantwortlich ist für den Ablauf der Geschichte in den kommenden Jahren und Jahrzehnten, und darüber hinaus vielleicht noch mitbestimmend an der Gestaltung kommender Jahrhunderte. [Wir mögen uns hier nur daran erinnern, wie die Wellen der französischen Revolution noch an die Ufer der Gegenwart schlagen, wie Ideen ausgehend von einigen Wenigen noch die Gehirne vieler beherrschen.]
Es nützt uns sehr wenig, zu bedauern, in eine so verworrene Situation hineingeboren zu sein. Kritik, Bedauern und Unzufriedenheit mit der Lage der Welt und der Menschheit führt bestens zur Resignation und zur Zurückgezogenheit des Einzelwesens. Bewährung bedeutet uns aber aufopfernde Stellungnahme zu den Gegebenheiten der Gegenwart. Freilich ist damit ein Übergang von der passiven zu einer aktiven Lebensgestaltung erforderlich. Das bedeutet, die Defensivstellung aufgeben und zum Angriff übergehen. Solange wir nur darauf bedacht sind, die überlieferten Schätze und Positionen zu bewahren, wird man uns Stück für Stück des eigenen Lebensraumes entreißen, ja, wir werden auf das Versprechen hin, geduldet zu sein, wichtige Bastionen aufgeben, um uns am Ende kaum mehr von Menschen anderer Gesinnung zu unterscheiden.
[11] Allein zu einer wirklichen Bewährung gehört mehr als nur Aktivismus. Es wäre verfehlt, zu meinen, damit den richtigen Weg zu einer Gesundung schon gefunden zu haben. Jeder Schritt, der unternommen wird, möge allein aus der einer Erkenntnis entsteigenden Notwendigkeit geboren werden.
Wir selbst scheinen verbraucht und müde, dass es einem unmöglich vorkommt, das Erbe der gegenwärtigen Situation übernehmen zu können. Aber vielleicht sind es gerade unsere Ausgelaugtheit und Müdigkeit, die uns so klar vor Augen stellen, dass es höchste Zeit ist, endlich den neuen Boden vorzubereiten, der ein gesünderes und in der Ordnung verwurzeltes Leben möglich macht. Nicht die Fortsetzung des alten Weges, sondern der Aufbruch zu einem neuen wird die Bewährung unserer Generation in dieser Zeit sein.
Es ist leicht, an bestehenden Dingen Kritik zu üben, ohne selbst einen Ausweg daraus zu kennen, d.h. wenigstens Ansatzpunkte dazu zu sehen. Darum soll hier angedeutet werden, worin nicht nur ein Ausweg aus einer Situation, sondern ein gültiger Weg liegen könnte. Um es klar und einfach zu sagen:
Ich meine damit eine christliche Generation, die imstande ist, eine Revolution der Herzen durchzuführen, die die Vormachtstellung einer materialistisch diesseits gerichteten Welt durchbricht.
Eine Generation, die endlich einmal zuerst das Reich Gottes sucht und damit den Traum eines in Organisation und Mechanisierung gesicherten Lebens aufgibt.
Eine Generation, die bereit ist, in ihre Herzen das Gesetz der Liebe zu brennen, weil Christus Mensch geworden ist, und er mit seinem Tod am Kreuze und seiner Auferstehung uns die Gültigkeit dieses Gesetzes bewiesen hat.
Eine aufbrechende christliche Generation würde bedeuten: bereit zu sein, vor der Welt Bekenntnis abzulegen, dass Christus nicht in die behüteten Räume unserer Wohnung, nicht in Klöster und Kirchen gebannt werden kann, sondern dass er Anspruch erhebt auf alle Menschen und alle Bereiche des Lebens. Allerdings nicht in Gewalt, [12] sondern allein in der Macht der Liebe.
Ich will Sie mit dieser Tatsache, wie gering der Anteil der christlichen Kräfte in unserer Generation ist, nicht beunruhigen, denn wer immer sich mit der Frage der Generation beschäftigt, wird auf den Begriff der ‹Wenigen› stoßen. Die Wenigen, die von einer nachkommenden Zeit gesehen, der Generation das Gesamtgepräge geben.
Es gibt in jeder Generation die kleine Schar dieser Wenigen, die den geheimen Hebel ihrer Zeit finden, wo sie sich fast selbstverständlich aus den eingefahrenen Geleisen einer Entwicklung heben lässt.
Um was Andere sich mühen und mit allen Anstrengungen nicht zustande bringen, gelingt diesen Wenigen, als ob ihre Hand geführt würde, traumwandlerisch, und es gelingt immer, wenn es der Schwerpunkt ist, an den sie die Hände legen.
Dass wir mit einer derartigen Auffassung von der Welt von den weitesten Kreisen als Narren, Phantasten und Utopisten abgetan werden, muss uns bei einiger Offenheit nicht wundern. Und auch die Generation vor uns wird wahrscheinlich kein anderes Urteil fällen. Aus diesem Grund ist unsere Stellung zu ihr schon in einer Weise bestimmt. Da wir mit ihr in unseren Gedankengängen in Widerspruch geraten, ist uns der geschichtliche Weg einer Nachfolge und Fortsetzung unmöglich geworden.
Die Grenze, die wir ziehen sollten, gilt vor allem den Richtungen, für die Verachtung der Natur, Zerschlagung aller uns als Sinnbilder gegebenen Formen, Zynismus und auswegloser Individualismus kennzeichnend sind.
Gegen die müssen wir eine scharfe Trennungslinie ziehen. Wir wollen gläubig die Natur und alle uns gegebene Formen sehen und sie aufschließen zu einem Hintergrund, dass sie zu leuchten beginnen als Gleichnis und Bild.»[2]
An einen gekreuzigten Verlierer zu glauben, heißt, für eine eher ungewöhnliche Wertskala einzutreten: für eine Gegenkultur mit utopischen Idealen.
Das Ideal, für das Jesus lebte und für das er gekreuzigt wurde, ist das «Reich Gottes», eine Weltordnung, die nicht auf Mächtigkeit, sondern auf Gerechtigkeit gründet. Wirklich daran zu glauben, heißt sich zu verpflichten, in unserer Gesellschaft gegen den Strom zu schwimmen.
Hast Du einmal Bilder von den Demonstrationen gesehen, die Dr. Martin Luther King in Selma, Alabama anstiftete, wo schwarze Bürgerrechtler vom Wasserstrahl aus Feuerwehrschläuchen niedergestoßen und von Polizeihunden angefallen wurden?
Hast Du selber einmal teilgenommen an einer öffentlichen Protestaktion für Menschenrechte oder für ein ähnliches Anliegen? Wann und wo (etwa bei den Abendnachrichten im Fernsehen) hast Du persönlich Christus unter Pontius Pilatus leiden gesehen?[3]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-3)
[Ergänzend:
2. Das Vaterunser (2022): ‹Vater unser im Himmel›, 38f.:
«Wesentlich ist, mit sich und allen anderen im Frieden zu leben. Das heißt, bereit zu sein für alle Höhen und Tiefen des Lebens und sie als Impulse für unser Wachstum anzunehmen. Von ‹Leben in Fülle› spricht das Evangelium.
Je lebendiger wir werden, umso deutlicher erleben wir das.
‹Der ganze Weg zum Himmel ist Himmel›,
so lautet ein bekannter Ausspruch von Dorothy Day, die sich in den Slums von New York um die Ärmsten der Armen kümmerte. Ihre Freundschaft war eines der größten Geschenke meines Lebens. Wenn irgendjemand mit der Hölle auf Erden vertraut war, dann gewiss diese heiligmäßige Frau. Und ihr konnte man geradezu ansehen, dass sie zugleich auch jetzt schon im Himmel war.
Unsere Herzensbeziehungen zu Freunden und Verwandten machen die Erde zum Himmel. Das gilt nicht nur für unsere Beziehungen zu Menschen, sondern wohl auch für unsere Beziehungen zu Tieren. Sollte der Tod daran etwas ändern können? Schon jetzt erleben wir jede Beziehung in reiner Liebe als ‹Himmel auf Erden›. Und in dem Ausmaß, in dem unser Herz in Liebe mit dem Vater im Himmel verbunden ist, sind wir jetzt schon dort.»
3. Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 1996-2006, 165f. und 168f.:
Johannes Kaup: «Noch einmal zurück zu den Vorbildern. Jesus haben Sie bereits genannt. Gibt es auch zeitgenössische Vorbilder?»
Bruder David: «Ja. Eine Frau, die ich sehr verehrt und bewundert habe, kommt mir sofort in den Sinn: Dorothy Day[4], die das «Catholic Worker Movement» gegründet hat.»
Johannes Kaup: «Das ist eine Organisation, die sich besonders um die Ausgegrenzten in der Gesellschaft kümmert.»
Bruder David: «Ja, diese Organisation ist auch heute noch ausserordentlich lebendig und erfolgreich. Sie ist entsprungen aus Dorothys Mitgefühl für die Armen und ihrer Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann mit der Armut in den USA. Aus ihrer ursprünglichen Gründung zusammen mit Peter Maurin 1933 in New York entstanden dann weitere Gemeinschaften. So wie Mutter Teresa nahm Dorothy Day sich der Ärmsten der Armen an, aber sie ging darüber hinaus und hinterfragte eine Gesellschaftsordnung, die für solche Armut verantwortlich ist. Deswegen musste sie immer wieder ins Gefängnis. Der brasilianische Erzbischof Hélder Câmara kannte den Grund dafür. Er sagte:
‹Wenn ich den Armen zu essen gebe, nennt man mich einen Heiligen. Wenn ich frage, warum die Armen arm sind, nennt man mich einen Kommunisten›.
Auch die christlichen Basisgemeinden in Lateinamerika waren Gemeinschaften, die aufgrund ihres gemeinsamen Lesens der Frohbotschaft die Machtpyramide infrage gestellt haben. Solche Ansätze werden oft als kommunistisch verschrien und angeprangert.»
Johannes Kaup: «Zu Recht oder zu Unrecht?»
Bruder David: «Zu Recht im besten Sinn von kommunistisch, also gemeinschaftlich denkend, aber zu Unrecht im Sinne der politischen kommunistischen Internationale.»
Johannes Kaup: «Also der kommunistischen Parteiideologien?»
Bruder David: «Genau.» ‒
«Ich frage mich immer wieder: Ist da wirklich alles einfach zerstört worden? Wir schauen zurück und sehen, dass im Lauf der Geschichte immer wieder kleine Gruppen, die in unseren Geschichtsbüchern verteufelt werden ‒ weil Geschichte von den Machthabern geschrieben wird ‒, sich bemüht haben, das Ideal zu verwirklichen, die Macht der Liebe gegen die Liebe zur Macht durchzusetzen. Diese Versuche sind jedoch immer wieder vereitelt worden. Ich denke zum Beispiel an die Bauernaufstände, die sicher häufig in dieser Richtung gegangen sind.»
Johannes Kaup: «Das lässt sich auch in Bezug auf die Orden beobachten, beispielsweise die Franziskaner, die anfangs sehr revolutionär waren. Sie konnten nur überleben, weil es einen demütigen Papst gab.»
Bruder David: «In ihrer ursprünglichen Form haben die Franziskaner nicht überlebt. Schon in der zweiten Generation wurden sie zu etwas anderem. Die Ordensregel wurde umgeschrieben. Sogar die ursprünglichen Geschichten wurden zensiert und umgeschrieben. Da frage ich mich: War dann damit einfach alles aus?
Die einzige Antwort, die ich für mich persönlich darauf finde, sind Hölderlins Verse:
‹Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.›[5]
Ich glaube an eine Vollendung aller positiven Bemühungen jenseits der Zeit. Dafür kann ich keine Beweise liefern, aber das Gute, das Schöne, das Wahre hat Bestand und unterliegt zu einem gewissen Grad nicht der Zeit. Alle Aufopferung, die wir dem Guten, Schönen und Wahren widmen, vor allem die Mühe, die wir dafür einsetzen, kann nicht verloren gehen. Mehr kann ich nicht sagen. Diese Überzeugung brauchen wir, sonst müssen wir verzagen.»
4. Am dritten Tag auferstanden von den Toten (2023):
Bruder David: «Da suche ich nach einem Vorbild, nach jemandem, der in unserer Zeit das ganze Gewicht seiner Persönlichkeit auf die Seite des machtlosen, verlachten Weltverbesserers warf, obwohl er ebenso gut in der Gesellschaft der (verächtlich lächelnden) Mächtigen ohne Mühe seinen Platz halten konnte. Dag Hammarskjöld fällt mir ein.»
5. Dankbarkeit ist Zusammenfassung des Christentums (2019): Pressebericht:
«‹Die großen Vorbilder der Furchtlosigkeit waren deshalb Revolutionäre, darunter viele der Ordensgründer wie Benedikt oder Franziskus. Sie hatten eine ganz andere, auf einem Vertrauensnetzwerk basierende Gesellschaft vor Augen, die somit im klaren Gegensatz steht zu unserer von Gewalttätigkeit, Rivalität und Habsucht geprägten›, erklärte Steindl-Rast. Gewalttätigkeit werde im Christentum durch Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit ersetzt, Rivalität durch Zusammenarbeit und Habsucht durch das Teilen.»
6. Brücken statt Mauern (Ostern 2017):
«Unzählige Menschen guten Willens suchen heute Jesus Christus, stoßen sich aber an kirchlichen Mauern. Wollen wir als Christen für das eintreten, wofür Jesus gekreuzigt wurde und wozu der Auferstandene uns aussendet? Wenn wir Zeugen werden für das Reich Gottes, dann bauen wir zugleich die einzig gangbare Brücke zur Zukunft unserer Kirche. Die Liturgie von Jesu Christi Tod und Auferstehung ruft uns wieder dazu auf.»
7. Audios
7.1. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); siehe auch Fließweg und Entscheidung
Eröffnungsvortrag:
(28:26) ‹Das ist unsere große Herausforderung::
‹Wir können im Leben entweder m i t der Maserung hobeln oder g e g e n die Maserung hobeln.
Wir können m i t dem Strich gehen oder g e g e n den Strich gehen ‒ und das heißt: den Strich des Lebens:
Wir können m i t dem Strom des Lebens schwimmen oder versuchen, g e g e n den Strom des Lebens zu schwimmen.
Aber da kommt dann das große Paradox herein, dass alle, die m i t dem Strom des Lebens schwimmen, gewöhnlich im Leben
g e g e n den Strom schwimmen müssen.
Und darum schwimmen so wenige m i t dem Strom des Lebens.›
7.2. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Bruder David im Gespräch zur Frage:
(54:07) ‹Wenn wir die Christusnachfolge antreten, werden wir dann gekreuzigt werden, oder: Was muss dann gekreuzigt werden›?
‹Wenn wir so mit dem göttlichen Lebensstrom in uns schwimmen, dass wir gegen den Strom der Gesellschaft schwimmen, dann wird die Gesellschaft uns früher oder später kreuzigen.
Und das ist es auch, was wir an Jesus vorgezeichnet sehen und das ist, wofür wir uns entscheiden müssen.
Denn das ist ja gerade der Grund, warum wir es so schwer haben, wirklich mit diesem inneren Lebensstrom, diesem göttlichen Lebensstrom zu schwimmen. Das ist etwas Wunderschönes, ganz Begeisterndes. Aber wenn man in diese Konflikte kommt ‒ und früher oder später kostet es einem den Kragen ‒, dann ist das nicht so leicht.›
(57:20) [transkribiert in Reich Gottes: Ergänzend 1.1.]
(59:34) ‹Bei sich selber beginnen ‒ die Kreuzigung nicht suchen, aber auch nicht scheuen ‒ eine Gesellschaftsordnung, die mit dem Strom geht, und eine, die gegen den Strom des Lebens geht: ‹Und wir ‒ jeder von uns, fürchte ich ‒, geht an einem Vormittag mehrmals hin und her zwischen diesen beiden. Das Reich Gottes ist unter uns: es ist eine Wirklichkeit, die unter uns beginnt ‒ in uns und um uns ‒ aber sie ist noch nicht ausgereift, weil wir uns nicht entschieden genug dahinterstellen.›]
_____________________
[1] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Kontemplation und Revolution, 1996-2006, 155f
[2] Franz Kuno Steindl-Rast: Die Kunst und die junge christliche Generation (1946)
[3] Credo (2015): ‹gekreuzigt›, 112 und ‹Gelitten unter Pontius Pilatus›, 107
[4] Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:
«Die christliche Sozialistin und Journalistin Dorothy Day bewundern Sie sehr. 1906, als sie acht Jahre alt war, erlebte sie das starke Erdbeben in San Francisco mit. Damals schaute sie den Menschen auf der Straße zu, wie sie sich gegenseitig halfen und fragte sich: «Warum können wir nicht immer so leben?» Diese Frage lebte sie ihr ganzes Leben.»
Bruder David: «Ja, ganz tapfer.»
«Wie können wir es schaffen, immer so zu leben?»
[5] Friedrich Hölderlin: ‹An Zimmern›, in der Abschrift von Ernst Friedrich Zimmer; siehe auch Reich Gottes: Anm. 1
Reich Gottes ‒ erlösende Kraft
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Die heutige Bibelforschung ist von dem Ehrgeiz abgekommen, eine detaillierte Biographie von Jesus erstellen zu wollen. Die verfügbaren Daten reichen einfach nicht aus. Doch wir können etwas viel Wichtigeres erreichen. Wir können recht zuverlässig rekonstruieren, was für ein Mensch Jesus war. Es gibt heute ein sehr großes Interesse an der Person des vorchristlichen Jesus. Das Bild, das dabei zum Vorschein kommt, zeigt uns Jesus als einen Pionier des menschlichen Bewusstseins, und dies genau an der Grenze der Mystik.
Die von Jesus ausgehende Wirkung kann als eine neue Phase in der menschlichen «Gotteserforschung» verstanden werden.
Zudem stehen und fallen das Werk seines Lebens und seine Lehre mit der Mystik. Sie hängen beide an der «Erfahrung der gemeinschaftlichen Verbundenheit mit Gott» ‒ Jesu eigener Verbundenheit und der der Menschen, an die diese Botschaft gerichtet ist.
Wir können in dieses Thema einsteigen, indem wir zwei grundlegende Fragen über Jesus stellen, den vorchristlichen Jesus. Was lehrte er eigentlich? Und wie lehrte er?
Lassen Sie mich die beiden Antworten vorwegnehmen (die Gelehrten sind sich in diesen beiden Punkten praktisch einig). Der Kern der Botschaft Jesu ist die Verkündigung des Reiches Gottes, und seine charakteristische Lehrmethode besteht im Erzählen von Gleichnissen.
Wir müssen nun den Inhalt dieser beiden gedrängten Antworten auseinandernehmen, um festzustellen, welchen Weg Jesus bei der Überschreitung der Grenzen des Bewusstseins vorzeichnete und so anderen die Möglichkeit gab ihm zu folgen.
Im Markusevangelium, dem frühesten der vier Evangelien, finden wir eine Zusammenfassung der Lehre Jesu (1,15). Markus fasst sie in einem einzigen Vers zusammen, so dass man unzweifelhaft das Wesentliche erkennt:
«Jesus … kam … und predigte die frohe Botschaft Gottes. Er sprach: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes hat sich genaht. Kehrt um und glaubt an die frohe Botschaft!»
«Die Zeit ist erfüllt» ‒
das bedeutet «Jetzt.»
Wartet nicht auf etwas anderes, der Augenblick ist jetzt gekommen.
«Das Reich Gottes hat sich genaht» ‒ «Hat sich genaht» bedeutet
«Hier, an diesem Ort.»
Hier und Jetzt geben den Rahmen für die Verkündigung ab.
Jetzt ist der Zeitpunkt, hier ist der Ort.
Schaut nicht woanders hin, wartet nicht auf einen anderen Augenblick.
Und nun heißt es:
«Kehrt um und glaubt an die frohe Botschaft.»
Das Wort, das Markus für Umkehr verwendet, bedeutet eine grundlegende innere Wandlung. Es bedeutet eine völlige Umkehrung unserer gewohnten Denk- und Lebensweise.
Was bedeutet dann «Reich Gottes», das eine solche welterschütternde Reaktion rechtfertigt?
Die Antwort auf diese Frage führt uns geradewegs zurück in die Mystik und hilft uns zu verstehen, wie Jesus die Grenzen des Bewusstseins erweiterte.
Die Bibelwissenschaft ist sich heute weitgehend einig über die Bedeutung des Begriffs «Reich Gottes» in der Botschaft von Jesus. «Reich Gottes» bedeutet nicht einen Ort oder ein Reich wie etwa das britische Weltreich. Es bedeutet auch nicht eine Gemeinschaft ‒ die Gemeinschaft all derer, für die Christus der König ist. Und es bedeutet auch nicht die Herrschaft oder Macht Gottes in einem abstrakten Sinn.
Im Gegenteil, der Begriff «Reich Gottes» bezieht sich auf die unmittelbar erfahrbare Realität.
«Reich Gottes» bedeutet für Jesus Gottes manifest gewordene erlösende Kraft.
Wenn wir den Begriff «Reich Gottes» in der Botschaft Jesu als «Gottes manifest gewordene erlösende Kraft» auffassen, dann können wir sofort erkennen, wie relevant er für unser Thema christliche Mystik ist.
Wann erfahren wir ‒ in unserem eigenen Erleben ‒ Gottes «Macht» oder «erlösende Kraft»?
Verstehen wir diese Begriffe richtig, dann muss die Antwort lauten: in unseren lebendigen Augenblicken, in jenen mystischen Augenblicken, über die wir bereits gesprochen haben.
Wie können wir Begriffe wie «Gottes Macht» oder «Erlösung» mit unserer heutigen Zeit in Verbindung bringen?
Wir könnten es vorziehen, den Begriff Gott zu vermeiden. Führt man diesen Begriff ein, so stiftet man heute vielfach Verwirrung. Auf der anderen Seite aber verwenden wir hier Begriffe der christlichen Tradition, der jüdischen Tradition. Deswegen müssen wir auch versuchen, die Terminologie dieser Tradition zu verstehen.
Wann machen wir heute Erfahrungen, die denen der erlösenden Kraft Gottes gleichkämen?
Ich meine, wir machen sie in jenen Augenblicken, in denen wir von Empfindungen der Lebendigkeit überwältigt werden. Denken Sie an die Beispiele von Eugene O'Neill[1] und Mary Austin[2], die ich Ihnen vorgelesen habe. In ihnen werden Augenblicke beschrieben, in denen Menschen von etwas übermannt wurden, das stärker war als sie.
Und auch wir wissen, wenn wir uns an ähnliche Augenblicke erinnern, dass wir über die Grenzen unseres normalen Bewusstseins durch eine Kraft, eine erlösende Kraft hinausgetragen wurden.
Führen Sie es sich wieder vor Augen. Es ist das Gefühl, aus einem Käfig herausgelassen zu werden. Eine über uns stehende Macht befreit uns, rettet uns vor dem Ertrinken.
In unseren mystischen Erlebnissen werden wir plötzlich von der Entfremdung erlöst. Wir sind zu Hause, wir sind keine Waisenkinder, keine Ausgestoßenen. Wir gehören zum Ganzen dazu. So erfahren wir in unseren größten Augenblicken das «Reich Gottes».
Wir gehen aufrechter, sobald wir diese Erfahrung gemacht haben. Wir sind in einem viel wahreren Sinn wir selbst, sobald diese erlösende Kraft in unserer Erfahrung manifest geworden ist. Das allein ist schon eine Bekehrung, eine Wandlung, eine neue Denkweise, durch die das bisherige Denken auf den Kopf gestellt wird. Die meiste Zeit leben wir, als ob wir entfremdet wären, aber nun wissen wir, dass wir dazugehören.
Diese Manifestation erlösender Kraft verlangt nach weiterer Bekehrung.
Wenn wir in jedem Augenblick unseres Alltagslebens das ausleben könnten, was wir erfahren, wessen wir uns in unseren mystischen Augenblicken bewusstwerden, dann wäre dies Bekehrung. Das Leben, das aus einer solchen Kraft heraus gelebt wird, würde die Welt vollkommen verändern.
Auf der Grundlage dieser Erfahrung können Sie Jesus als Person verstehen. Er hat eine enge Verbindung mit Gott erfahren, ihm wurde Gottes erlösende Kraft zuteil.
Sie können jetzt verstehen, wie er umherzieht und jedem erzählt:
«Habt ihr das nicht erfahren? Dieses Reich Gottes, diese Offenbarung von Gottes erlösender Kraft, ist hier und jetzt Wirklichkeit. Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Vertraut auf dieses Bewusstsein, das ist alles, was ihr zu tun braucht. Vor allen Dingen aber lebt danach, das ist Bekehrung.»
Diese frohe Botschaft ist aber zu froh, um wahr zu sein. Aus diesem Grund leben wir nicht in ihrem Sinn. Wir leben auch nicht im Sinn unserer größten Erfahrungen. Wir machen sie ‒ und eine Stunde später haben wir diese Empfindung der Lebendigkeit beinahe wieder vergessen. Wir unterdrücken sie wieder, zweifeln sie an. Vielleicht war sie nur Illusion. Unser mystisches Erlebnis kann einfach nicht wahr sein. Wir verdrängen es. Jesus aber sagt:
«Vergesst es nicht. Es ist Wirklichkeit. Lebt danach!»
Diese Botschaft kehrt im ganzen Neuen Testament in vielen Formen immer wieder. Aus diesem Grund spricht Jesus auch in Gleichnissen.
[Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 184-186]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. TAO der Hoffnung (1994)
Den Frieden hinterfragen
Vortrag:
(25:35) ‹Jesus verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer. Das ist das völlig Neue. Er kommt nicht wie ein Prophet, der sagt: ‹So spricht Gott der Herr› und Gottes Autorität steht hinter ihm ‒ auch so, aber nicht hauptsächlich. Er kommt nicht als ein großer Charismatiker, der sagt: ‹Ich habe alle Autorität in mir ‒ auch das zu einem gewissen Grade ‒ er strahlt Autorität aus, aber dort liegt nicht die Betonung. Die Betonung liegt ‒ wie man zum Beispiel aus seiner Lehrmethode zeigen kann, er lehrt in Gleichnissen: ‹Ihr wisst das doch schon›. ‒ ‹Wer von euch weiß das nicht schon›: so beginnen die Gleichnisse. Er nimmt an, dass jeder von seinen Zuhörern ‒ jeder ‒, nicht nur die Gelehrten ‒ er hat gar nicht so viele Gelehrte unter seinen Zuhörern ‒, das sind die Leute von der Straße, die Armen, die Ausgestoßenen sehr weitgehend, die Frauen, die Kinder, die völlig unberechtigt waren, ganze Berufsklassen, die rechtlos waren, die Kranken, die als Sünder angesehen wurden, denn warum wären sie sonst krank? ‒, alle die spricht er an und sagt zu ihnen: ‹Ihr wisst doch, worum es geht›!
‹Wer von euch weiß nicht, wie es geht, wenn man Saat aussät›? ‹Wer von euch weiß nicht, wie es geht, wenn man fischt›? ‒
‹Ah, das wisst ihr also ‒, dann wisst ihr auch alles, was nötig ist, um Gott zu verstehen von innen her›.
‹Wer von euch weiß nicht, wie Eltern ihre Kinder behandeln› (wenn sie’s richtig tun)? Und die Antwort ist: ‹Wir wissen das alle›! ‒ ‹Aha, ihr nennt doch Gott ‹Vater› ‒ wisst ihr dann nicht, wie Gott euch behandelt›? ‒ ‹Glaubt ihr wirklich an einen strengen Richter, wenn ihr Gott ‹Vater› nennt›: all dieses beinhaltet: Jesus verlegt die Autorität in die Herzen seiner Hörer.
Und das führt jetzt zu dieser Welle des Aufschwungs der Heilungen, der Sündenvergebung ‒ nicht dass Jesus herumgeht und sagt: ‹Ich vergebe dir deine Sünden›, kein einziges Mal ist das in der Bibel so beschrieben, er sagt nur: ‹Deine Sünden sind dir vergeben ‒ weißt du denn das nicht›? ‒ Sünde im Sinn von Trennung: ‹Was dich von Gott trennt, ist dir vergeben, bevor du es überhaupt je verursacht hast: So lieben dich Eltern: die Eltern halten das nicht gegen dich, der Vater, die Mutter hält das nicht gegen dich›!
Heilung: ‹Weißt du nicht? Dein Glaube hat dich geheilt›, nicht ‹Hokuspokus, jetzt bist du geheilt›. Und es heißt auch ausdrücklich: ‹In Nazareth, in seiner Heimatstadt zum Beispiel konnte er nicht viele Wunder wirken, weil der Glaube gefehlt hat› (Mt 13,58).
Das war also nicht seine Kraft, sondern der Glaube, den er geweckt hat Er hat sie auf ihre Füße gestellt. Immer wieder das Wunder: ‹Steh auf, du kannst auf deinen eigenen Füßen stehen› ‒und das ist wieder das erste Wunder, das die Apostel nach dem Tod und der Auferstehung Jesu wirken (Apg 3,6) ‒: ‹Steh auf! Im Namen Jesu, steh auf deinen eigenen Füßen›!
Das auf ‹seinen eigenen Füßen›, das ist die Autorität. So ermächtigt Jesus seine Hörer. Er verlegt die göttliche Autorität in ihr Herz und ermächtigt sie. Und das bringt ihn in Schwierigkeiten mit den Autoritäten.›
1.2. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(48:20) Die Kernaussagen des Johannesevangeliums drücken in theologischer Sprache und in anderer Perspektive dasselbe aus wie die Gleichnisse Jesu: ‹Die göttliche Autorität ist in dir›! Jesus setzt voraus, dass die göttliche Autorität in jedem seiner Zuhörer spricht, selbst in den Ausgestoßenen, selbst in den Sündern, in jedem Menschen.
‹Und das war nichts Neues, das war nur ein Durchbruch des Ältesten, so wie immer das Neuste der Durchbruch des Ältesten ist, auch heute›, denn schon in der ersten Seite der Bibel, im Schöpfungsmythos steht, dass wir Menschen ‒ Adam, der Mensch ‒ wir alle ‒ lebendig sind mit Gottes eigenem Lebensatem: Wir leben mit Gottes eigenem Leben.›
Und Johannes, von dem man, wenn man das Johannesevangelium oberflächlich liest, den Eindruck bekommen könnte, dass er Jesus auf ein Postament hinaufstellt, das zu hoch für uns ist, und eine Kluft aufreißt zwischen uns und Jesus: Gerade Johannes sagt an der zentralen Stelle im Prolog: ‹Und allen jenen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden› (Joh 1,12), das heißt, genau das zu werden, was er nach dem Johannesevangelium ist: Sohn Gottes.
2. Weitere Texte
2.1. Credo (2015): ‹… und an Jesus Christus, SEINEN EINGEBORENEN SOHN›, 72-74:
«Die ganze Frohbotschaft Jesu ist samenhaft in dem einen Wort ‹Abba› enthalten, mit dem er Gott aus seiner mystischen Erfahrung heraus ‹Vater› nennt.
Alles, was er in Leben und Lehre vertritt, entspringt dieser innigen Beziehung zu Gott als ‹Vater›. Darum drückt auch ‹Sohn Gottes› besser als jeder andere Titel sein Verhältnis zu Gott aus ‒ und nicht nur zu Gott, sondern auch zu uns. Jesus Christus ist in diesem Sinn ‹der Erstgeborene von vielen Geschwistern› (Röm 8,29). Von Jesu innigem Verhältnis mit Gott her werden drei entscheidende Begriffe verständlich, die der christlichen Tradition ihr besonderes Gepräge geben: Frohbotschaft, Reich Gottes und Erlösung.
‒ Die Frohbotschaft fasst einfach das Gottesverständnis Jesu zusammen. Johannes spricht dies so aus: ‹Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm› (1 Joh 4,16). Weil aber Liebe das gelebte ‹Ja› zur Zugehörigkeit ist, hat das Bleiben in der Liebe umwälzende Folgen für alle Lebensbereiche. Eine Welt, in der wir alle ‹Ja› sagen zu gegenseitiger Wertschätzung und Verantwortung, muss anders aussehen als die Welt, die wir kennen. Liebe wird so zur Triebkraft für die gewaltfreie Revolution, die Jesus angestoßen hat und die das Reich Gottes zum Ziel hat.
‹Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen, und wie wünsche ich, es würde schon brennen› (Lk 12,49).
‒ Das Reich Gottes ist die Welt, insofern sie ‹in der Liebe bleibt›. In Anlehnung an den Dichter Gary Snyder[3] können wir vom ‹Gotteshaushalt› sprechen, weil Haushalt uns vielleicht vertrauenserweckender klingt als Reich. Der Dichter spricht vom Erdhaushalt (‹Earth Household›), aber für Tiere, Pflanzen und die ganze unbelebte Natur ist der Erdhaushalt ja zugleich Gottes Haushalt, weil sie völlig eingebettet leben in die Ordnung und den Frieden einer allumfassenden ‹Familie›. Nur wir Menschen schließen uns aus, wie der verlorene Sohn im Gleichnis Jesu; wir gehen von zuhause fort in die Fremde, die Entfremdung. Hier beginnt alles Elend der Welt. Wo immer aber Liebe herrscht statt Macht, da wird auch unter uns Menschen der Erdhaushalt zum Gotteshaushalt.
‒ Erlösung ist Rückkehr aus der Entfremdung von uns selbst, aus der Entfremdung von Anderen und schließlich aus der Entfremdung von Gott. Sobald wir einsehen, dass wir ja nie aus Gottes Liebe herausfallen können, kommen wir ‹zu uns selbst›, wie der verlorene Sohn (Lk 15,17) ‒ zu unserem wahren Selbst ‒ das daheim ist im Haushalt Gottes als innig geliebtes Familienmitglied. Dann tanzt der Vater beim Freudenfest, das er dem einst verirrten Sohn bereitet hat. Im Johannesevangelium sagt Jesus:
‹Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben› (Joh 10,10).»
2.2. Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972): Auszug aus dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 61f.:
«Jesus kommt nun als der Menschensohn, als der Mensch, und sagt: Ihr seid gerettet. Weil einer es geschafft hat, seid ihr alle gerettet. Er kommt nicht, um uns zu sagen, was wir tun müssen, damit wir gerettet werden. Das wäre keine Frohe Botschaft. Es kamen ja schon viele, die uns sagten, was wir tun müssten, um gerettet zu werden, und wir konnten es doch nicht tun.
Das Neue, das mit Christus anbricht, fasst Markus (1,15) ganz klar zusammen: ‹Die Zeit ist erfüllt› (jetzt), ‹Das Reich Gottes ist herbeigekommen› (hier). Ihr seid also erlöst. ‹Tut Buße und glaubt die Botschaft›
Nun hängt alles daran, was wir darunter verstehen: ‹Tut Buße›! ‒ Es gibt eine weltliche Auffassung von Buße, und es gibt eine christliche Auffassung.
Buße tun heißt umdenken. Dass wir das mit ‹Buße tun› übersetzen, ist etwas gefährlich, etwas zu weltlich. Die weltliche Auffassung von Buße ist alt: Wir haben etwas falsch gemacht, und wir müssen es jetzt so schnell wie möglich gutmachen. Das Beste, was dabei herausschauen kann, ist Flickwerk, und auch das gelingt uns selten, wie wir wissen.
Das Neue ist: Gott hat es getan! Es ist bereits geschehen. Wir sind erlöst. Wir müssen nur umdenken, neu denken. Es heißt nicht: Tut zuerst Buße, und glaubt danach! Sondern: Tut Buße, indem ihr umdenkt und glaubt, was zu gut scheint, um wahr zu sein.
Die ganze Polemik zwischen Gesetz und Gnade steckt in diesem einen kleinen Satz: Denkt um und glaubt!
Glauben i s t umdenken.
Verlasst euch nicht darauf, was ihr als Buße tun könnt, um alles wieder zusammenzuflicken; das ist alles noch weltlich. Denkt wirklich um; glaubt, vertraut, verlasst euch auf die Frohe Botschaft: Einer ist gekommen, der es geschafft hat, der das geworden ist, was der Mensch sein sollte: Gottes Sohn. Es ist endlich Wirklichkeit geworden, und wir können alle daran teilnehmen durch unser gläubiges Leben.»]
___________________
[1] Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 170: Eugene O’Neill: ‹Eines langen Tages Reise in die Nacht› (1956), siehe Mystische Erfahrung
[2] Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 175f.: Mary Austin: ‹Earth Horizon ‒ An Autobiography› (1932), siehe Gott
[3] Erdhaushalt, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 134f.:
«Erdhaushalt ist ein Ausdruck, den der Dichter und Umweltaktivist Gary Snyder (geb. 1930) geprägt hat. Dieses Wort veranschaulicht, dass unsre Umwelt zugleich Mitwelt ist, der wir uns verwandt fühlen dürfen und von der wir ernährt werden. Statt Umwelt Erdhaushalt zu denken und zu sagen, verändert ganz von selbst unsre Haltung, was zugleich zeigt, welche Wirkkraft Worte besitzen.»
Reifen
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Was ich wollte, liegt zerschlagen,
Herr, ich lasse ja das Klagen,
Und das Herz ist still.
Nun aber gib auch Kraft, zu tragen,
Was ich nicht will!»Joseph von Eichendorff: «Der Umkehrende»[1]
Im Vertrauen auf dieses große Du verlassen wir uns. Wir verlassen uns auf das große Du hin, dem wir gegenüberstehen, wenn wir im Augenblick stehen. In der Vergangenheit nicht, wenn wir uns mit der Vergangenheit identifizieren. Nicht, wenn wir uns mit der Zukunft identifizieren. Nur wenn wir im Augenblick stehen, dann sind wir mit diesem großen Du konfrontiert, das uns trägt.
Und darum sagt Eichendorff in einer weiteren Strophe aus dem Gedicht «Der Pilger»:[2]
«So lass herein nun brechen
Die Brandung, wie sie will,
Du darfst ein Wort nur sprechen,
So wird der Abgrund still;
Und bricht die letzte Brücke
Zu Dir, der treulich steht,
Hebt über Not und Glücke
Mich einsam das Gebet.»
Das ist das Gebet des Vertrauens. Es braucht gar kein gesprochenes Gebet zu sein. Es ist einfach das Vertrauen, das zum Gebet wird:
«So lass herein nun brechen
die Brandung, wie sie will,
du darfst ein Wort nur sprechen,
so wird der Abgrund still.»
Du ‒ das große Du ‒ steht in dem «Nunc stans»[3], in dem «Jetzt» treulich und verlässlich. Wann immer wir uns auf den Augenblick einlassen, steht dieses Du treulich und verlässlich uns gegenüber. Aber nicht nur «uns gegenüber».
Es steht mit uns, es trägt uns, es hebt über Not und Glücke. In diesem Gebet des Vertrauens. So scheint mir der Dichter die Frage zu beantworten: «Wie können wir überstehen?»
Und dann kommen wir gegen Abend, in der Lebensreife, im Herbst jeden Jahres immer wieder zu der Frage:
«Woran reifen wir?»
Es gibt nichts Traurigeres als ein unausgereiftes menschliches Leben. Und darum nichts Traurigeres als den Tod eines jungen Menschen. Ich muss an den Tod dieser unzähligen jungen Menschen denken, die jetzt im Krieg sterben. Da kann ich mich nur darüber hinwegtrösten, indem ich an ein Buch von Thornton Wilder denke, das vielleicht viele von Ihnen kennen, «The Bridge of San Luis Rey».
Es erzählt von einem Franziskaner, einem Missionar, der im 18. Jahrhundert in Peru zu einer Seilbrücke kommt, die schon Hunderte von Jahren gehalten hat. Doch gerade in dem Augenblick, wo er auf die Brücke gehen will, bricht sie zusammen und reißt fünf Menschen in den Abgrund. Und er stellt sich jetzt die Frage: «Warum gerade diese fünf?» Der Missionar geht dem Lebenslauf dieser fünf Menschen nach und kommt am Ende des Buches zu dem Schluss:
«Man stirbt nicht am Tod, man stirbt an der ausgereiften Liebe» (Otto Mauer).
Und die Liebe kann schon sehr früh ausreifen. Die Kirschen reifen schon im Juni, die Trauben erst im Oktober. Wir wissen es nicht. Von außen kann man es nicht sehen. Wenn junge Menschen sterben, dürfen wir hoffen, dass ihre Liebe ausgereift war. Ja, wir können dessen eigentlich sicher sein.
Aber für uns, die ein reiferes Alter erleben dürfen, stellt sich im Herbst die Abend-Frage: «Wie reifen wir?»
Rilke schreibt im Stundenbuch:
«Jetzt reifen schon die roten Berberitzen,
alternde Astern atmen schwach im Beet.
Wer jetzt nicht reich ist, da der Sommer geht,
wird immer warten, wird sich nie besitzen.
Wer jetzt nicht seine Augen schließen kann,
gewiss, dass eine Fülle von Gesichten
in ihm nur wartet bis die Nacht begann,
um sich in seinem Dunkel aufzurichten ‒
der ist vergangen wie ein alter Mann.
Dem kommt nichts mehr, dem stößt kein Tag mehr zu,
und alles lügt ihn an, was ihm geschieht;
auch du, mein Gott. Und wie ein Stein bist du,
welcher ihn täglich in die Tiefe zieht.»
Wie kann das sein?
«… und alles lügt ihn an, was ihm geschieht;
auch du, mein Gott.»
Lügt Gott uns an? Ein falsches Gottesbild, das lügt uns an.
Aber der Stein, welcher uns täglich in die Tiefe zieht, das ist der Gott unserer Sehnsucht, das ist der Gott, der in uns reift.
Und unser eigentliches Reifen ist das Reifen Gottes in uns.
«Auch wenn wir nicht wollen:
Gott reift»,
schreibt Rainer Maria Rilke.
Doch was macht uns reifen?
Ein anderes Gedicht von Rilke legt nahe, dass es die Begegnung mit der Wirklichkeit ist, die uns reifen lässt.
Auch die Begegnung mit allem Widersprüchlichen, einfach mit allem, was es gibt, macht uns reif, wenn wir uns ihm aussetzen.
Und so schreibt Rilke:
«Wer seines Lebens viele Widersinne
versöhnt und dankbar in ein Sinnbild fasst,
der drängt die Lärmenden aus dem Palast,
wird anders festlich, und du bist der Gast,
den er an sanften Abenden empfängt.»
Wenn wir unseres Lebens viele Widersinne versöhnen und dankbar in ein Sinnbild fassen: Was kann dieses Sinnbild sein?
Clemens Brentano nennt in einem wunderschönen Gedicht das Feldkreuz als dieses Sinnbild. Er hat dieses Gedicht an das Ende seines Buches gestellt und damit eigentlich an das Ende von allem, was er geschrieben hat.[4]
Im Kreuz steht die Gegenwart, das Jetzt, senkrecht auf dem Fluss der Zeit: der gegebene Augenblick. Brentano findet ans Feldkreuz angeschrieben diese Worte. Und er findet den Gekreuzigten, der ihm zum Sinnbild wird.
«Oh Stern und Blume
Geist und Kleid
Lieb, Leid und
Zeit und Ewigkeit!»
In allem, was es gibt, drückt sich das Grenzenlose, Unbegrenzte und Unendliche aus. Es drückt sich in allen Formen aus. Der Stern etwa zeigt sich in der Blume. Kinder zeichnen das gerne, den Stern. Oder die Sonne oben und drunter die Sonnenblume, oder den Stern und die Sternblume.
«Oh Stern» ‒ das Unendliche ‒ und die Blume ‒ das ganz Kleine.
«Geist und Kleid»: Alles, was wir sehen, ist Kleid des Geistes. Alles, was es gibt, ist Gabe dieses unbegrenzten Es, das uns alles gibt.
Auch «Lieb und Leid». Im Leid drückt sich die Liebe völlig aus. Das Unbegrenzte ist die Liebe, das Leid ist die begrenzte Form, in der wir hier in diesem Leben die Liebe am tiefsten erfahren. Dieses Sinnbild ist am Feldkreuz angeschrieben.
Und schließlich: «Zeit und Ewigkeit.»
Am Feldkreuz wird es umgedreht: «Ewigkeit und Zeit». Die Ewigkeit drückt sich in der Zeit aus, in dem Augenblick. So wie der Stern in der Blume, wie der Geist in seinen vielen Kleidern, wie die Liebe sich im Leid ausdrückt. Zeit und Ewigkeit.
Das ist das Sinnbild, scheint mir, in dem wir die vielen Widersinne unseres Lebens versöhnen und dankbar zusammenfassen ‒ das Kreuz.
«Was kann uns da trösten?» ‒
in der Dunkelheit der Nacht, im Winter. Was tröstet uns? Meine Antwort, das können Sie wahrscheinlich schon voraussehen, wenn Sie meine Bücher kennen, ist:
«Was uns tröstet, das ist die Dankbarkeit.»
Dankbarkeit ist immer die große Antwort, der große Trost.
Eichendorff betitelte eines seiner Gedichte «Dank».
Es ist ein Lebensabendgedicht. Er schreibt:
«Mein Gott, dir sag ich Dank,
Dass du die Jugend mir bis über alle Wipfel
In Morgenrot getaucht und Klang ...
Und auf des Lebens Gipfel,
bevor der Tag geendet,
Vom Herzen unbewacht
Den falschen Glanz gewendet,
Dass ich nicht taumle ruhmgeblendet,
Da nun herein die Nacht
Dunkelt in ernster Pracht.»
Schon die Musik dieses Gedichtes ist unglaublich schön.
«Da nun herein die Nacht dunkelt in ernster Pracht.»
Dunkel und ernst kommt die Nacht, sie «dunkelt in ernster Pracht».
Ich verstehe das Wort Dunkelheit in bewusstem Kontrast zu «Finsternis».
Die Finsternis droht, die Dunkelheit aber versöhnt.
Die Finsternis ist etwas Bedrohliches, nicht aber die Dunkelheit.
«Du Dunkelheit, aus der ich stamme,
ich liebe dich mehr als die Flamme,
welche die Welt begrenzt,
indem sie glänzt
für irgend einen Kreis,
aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß.
Aber die Dunkelheit hält alles an sich:
Gestalten und Flammen, Tiere und mich,
wie sie's errafft,
Menschen und Mächte ‒
Und es kann sein: eine große Kraft
rührt sich in meiner Nachbarschaft.
Ich glaube an Nächte.»
Wenn wir uns auf diese große Nacht verlassen, die alles an sich hält, wenn wir vertrauend uns auf diese Nacht einlassen, dann finden wir darin Trost. Sehr tiefen Trost.
Aber zur Nacht gehört beides: Dunkelheit und Stille.
Und auch zur Dankbarkeit gehört beides: im Jetzt sein ... alles umfassend ... und still sein.
Niemanden ausgrenzen und ganz still werden.
Auch das letzte Gedicht von Rilke, das ich wiedergeben möchte, ist aus dem Stundenbuch:
«Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen ‒ :
Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken
bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.»[5]
Das ist der Segen, die Gnade. Das ist die Gnade, die durch unser Leben fließt, die in uns ständig einfließt, in jedem Augenblick: jetzt ... jetzt ... jetzt. Und die erst ganz völlig zu sich kommt, wenn wir sie verschenken «wie einen Dank».
Nach einer Reise ins Heilige Land erinnert man sich nachher ganz besonders an den See Genezareth, der voller Fische ist, umgeben von wunderbaren Bäumen und Gärten. Alles blüht, alles ist lebendig. Der Fluss Jordan kommt vom Libanon herunter und er füllt diesen See und alles, was darum ist, mit Leben an. Das ist der Fluss der Gnade sozusagen. Der Jordan fließt dann weiter in das Tote Meer. Nun ist rundherum alles Wüste, es gibt keine Fische mehr, alles ist tot. Und man fragt sich: Es ist doch dasselbe Wasser. Was macht den Unterschied?
Der Unterschied ist, dass der See Genezareth das lebende Wasser aufnimmt und weitergibt. Im Toten Meer aber bleibt es. Wenn wir die Gnade aufnehmen und weiterschenken, wenn wir «sie besitzen nur ein Lächeln lang», um sie dann «an alles Leben zu verschenken wie einen Dank», dann leben wir wirklich. Wenn wir das, was uns geschenkt ist, halten, dann verdirbt es und versauert es.
Mit all dieser Betonung auf das Jetzt ‒ es gibt keine Zufälle ‒ habe ich gestern Abend hier eine Uhr als Geschenk bekommen. Der große Künstler, der diese Uhr entworfen hat, gestaltete drei Modelle.
Beim ersten Modell ist das Ziffernblatt weiß, da steht nichts drauf als «jetzt». Also ich glaube, diese Uhr macht nicht Tick-Tack, sondern die macht
«Jetzt ‒ Jetzt ‒ Jetzt ‒ Jetzt.»
So eine Uhr brauchen wir.[6]
Das zweite Modell sagt es auf Englisch: «now». Und dieses Modell hier sagt: «Lukas 17,21». Das ist die Stelle, in der Jesus sagt:
«Das Reich Gottes ist jetzt schon unter euch.»
Das Jetzt ist es, welches die großen Fragen beantwortet, die uns bewegen. Und wenn wir uns auf dieses Jetzt einlassen, dann ist das Reich Gottes jetzt unter uns.
[Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 22-38; der Text ist die von Klaus Gasperi überarbeitete Fassung des Vortrages von Bruder David in der Propstei St. Gerold im September 2005 im Audio Fragen, die uns bewegen (2005) (20:48-42:38)]
[Ergänzend:
1. Obiger Text und Vortrag ist die Fortsetzung des Textes / Vortrags in Fragen des Lebens
2. «Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe.» (Otto Mauer):
Videointerview Was am Ende wirklich zählt (2022); siehe auch Transkription, 8; Sterben und Tod: Ergänzung: 1:
«Wenn ich Liebe sage, meine ich das gelebte Ja zur Zugehörigkeit und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass sich das eigentlich ‒ so wie eine Definition ‒ auf alle Formen der Liebe anwenden lässt.
Es ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit. Wenn wir das üben ‒ das ist natürlich das Entscheidende am ganzen Leben ‒ die Liebe ist das Entscheidende.
Ein großer Denker ‒ Otto Mauer ‒, ein Wiener Priester, Mitte des 20. Jh., hat das wunderschön ausgedrückt:
‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe›.
Also das ist die Aufgabe des ganzen Lebens: die Liebe ausreifen zu lassen.»
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016):
Tag 4 ‒ Nachmittag:
‹Memento mori› ‒ ‹Memento vivere›:
(16:02) ‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe› wie Otto Mauer Thornton Wilders Roman ‹Die Brücke von San Luis Rey› zusammenfasst
(45:48) Gespräch: Was, wenn die Liebe nicht ausgereift ist? Reinkarnation und Fegefeuer
3. Das Reifen Gottes in uns:
Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation (1989), 294f., 300f.; siehe auch Kontemplation im Handeln: Ergänzend: 5.:
«Gott vollendet sich nicht ohne unser Zutun. Gott vollendet sich aber auch trotz unseres Versagens. … Und Gott ist immer noch größer. Wir bauen an Gott, wir bauen am Bild Gottes, und dieses Bauen ist Kontemplation.»
Rilke vergleicht das Bauen und die Arbeit, wenn sie wirklich verwurzelt sind im Schauen und Schweigen, mit einem unterirdischen Fluss, der in die Tiefen greift.
Nur aus den Tiefen des Schweigens schwemmt eine Arbeit, die Gebet ist, Gold zutage. Darum betet der Dichter:
‹Daraus, daß Einer dich einmal gewollt hat,
weiß ich, daß wir dich wollen dürfen.
Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:
wenn ein Gebirge Gold hat
und keiner mehr es ergraben mag,
trägt es einmal der Fluß zutag,
der in die Stille der Steine greift,
der vollen.
Auch wenn wir nicht wollen:
G o t t r e i f t.›
(Rilke, Das Stunden-Buch)»
4. Die Begegnung mit der Wirklichkeit:
Musik der Stille (2023), 27; siehe auch: Jetzt im Stundengebet: Ergänzend: 2. ‹Die Tagzeiten›; Altern: Ergänzend: 3.: ‹Wirklich werden›:
«Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben? Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch ‹Der Plüschhase›[7]. Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen. Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug:
‹Tut Wirklichwerden weh?›
Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh? Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort:
‹Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.›»
5. Die Begegnung mit allem Widersprüchlichen:
Kreuz ‒ Sinnbild und Sinnorgan Herz
6. Gnade ‒ Segen ‒ Blessing ‒ Blutstrom:
Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(05:29) Gnade im Bild des Flusses Jordan / (07:18) Gnade – Segen – Blutstrom / (08:24) Empfangen – weiterschenken – die Stille / (09:13) ‹Wenn es nur einmal so ganz stille wäre› (Rilke)
7. Das Reich Gottes ist jetzt unter uns:
Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition:
«Das Bild des Messias strahlte in einer anderen solchen Gnadenstunde auf, als sich Vertreter vieler Religionen 1972 auf Mount Saviour[8] trafen. … Ich weiß nicht mehr, ob es Reb Shlomo Carlebach war oder Reb Zalman Schachter, der bei unserem letzten gemeinsamen Abendessen eine chassidische Geschichte erzählte, die uns zu Herzen ging, weil sie von dem sprach, was unter uns Wirklichkeit geworden war: ‹Der gelehrte Rabbiner und seine Schüler waren beisammen und so glühend war die Liebe unter ihnen, dass der Meister einen von ihnen zum Fenster schickte: ‹Schnell, schau hinaus, ob der Messias nicht gekommen ist!› Enttäuscht kam die Antwort: ‹Alles da draußen wie eh und je.› ‹Aber Rabbi›, fragte ein anderer Schüler, ‹müssten wir hinausschauen, wenn der Messias gekommen wäre? Würden wir es nicht hier herinnen gleich wissen?› ‹Ja! Aber hier›, sagte der Meister strahlend, ‹hier ist der Messias ja gekommen!›»[9]]
_________________________
[1] Joseph von Eichendorff: ‹Der Umkehrende›, 3.
[2] Bruder David bezieht sich auf die erste Strophe des Gedichtes ‹Der Pilger› in Fragen des Lebens
[3] Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›; siehe auch Jetzt und ewiges Leben: Anm. 8
[4] Mit diesem Gedicht enden die ‹Blätter aus dem Tagebuch der Ahnfrau›, die Fortsetzung des Märchens ‹Gockel, Hinkel und Gackeleia›. In den heutigen Ausgaben trägt das Gedicht die Überschrift ‹Eingang›; das Gedicht in Kreuz ‒ Sinnbild und Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 121-123
[5] R. M. Rilke: ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (Das Stunden-Buch) ‒ Siehe auch Stille leben und Stop ‒ Look ‒ Go
[6] «Angesprochen auf das Ende aller Dinge, auch auf sein eigenes, benutzt Steindl-Rast gerne das bekannte Bild einer tickenden Uhr. Diese mache allerdings für ihn nicht Tick-Tack, sondern ‹Jetzt-Jetzt-Jetzt-Jetzt.›» [Der Zen-Christ: David Steindl-Rast im Portrait (2012)]; siehe auch Jetzt in diesem Augenblick: Ergänzend: 2.1.
[7] Siehe auch in Das Vaterunser (2022), 106, und Erlösende Kraft, Anm. 4:
«In dem klassischen Kinderbuch von Margery Williams ‹The Velveteen Rabbit›, erschienen 1922, das es als ‹Der Samthase› auch auf Deutsch gibt, reden bei Nacht die Puppen und Teddybären über ihren sehnlichsten Wunsch: wirklich zu werden. ‹Tut Wirklichwerden weh?›, fragen sie das alte, erfahrene Schaukelpferd. Das aber weiß: Einem, der wirklich wird, macht es nichts aus, dass das wehtut.»
[8] Bruder David trat 1953 in das kurz zuvor neu gegründete Benediktinerkloster Mount Saviour in Elmira, NY, ein.
[9] Ich bin durch Dich so ich (2016), 98; siehe auch Reich Gottes: Ergänzend: 1.2. und Reich Gottes ‒ ‹auferstanden›: Ergänzend: 2.
Religionen ‒ drei Ausdrucksformen
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Die Frage, mit der wir uns beschäftigen müssen, lautet: Wie kommt man von der mystischen Erfahrung zur etablierten Religion?
Meine Antwort heißt kurz und knapp: unvermeidlich. Unvermeidlich macht diesen Prozess der Umstand, dass wir mit unserer mystischen Erfahrung das tun, was wir mit jeder Erfahrung tun: Wir versuchen sie zu verstehen; wir entscheiden uns für oder gegen sie; wir bringen unsere Gefühle bezüglich ihrer zum Ausdruck. Sobald man das mit seiner mystischen Erfahrung tut, hat man alle Elemente für die Gründung einer Religion beisammen. Das lässt sich aufzeigen.
Wenn wir Augenblick um Augenblick dieses und jenes erfahren, geht dabei unser Verstand ständig mit; er interpretiert dauernd, was wir wahrnehmen. Das ist besonders dann so, wenn wir einen dieser zutiefst sinn-erfüllten Augenblicke haben:
Unser Verstand fällt über diese mystische Erfahrung her und fängt an, sie zu interpretieren. An diesem Punkt beginnt die religiöse Doktrin. Es gibt auf der ganzen Welt keine Religion, die nicht ihre Doktrin hätte, ihre Glaubenslehre.
Und es gibt keine religiöse Doktrin, deren Wurzeln man nicht letztlich auf eine mystische Erfahrung zurückführen könnte ‒ das heißt, wenn man dafür Zeit und Geduld genug hätte, denn diese Wurzeln können recht lang und verwickelt sein.
Sogar wenn Sie sagen würden: «Meine persönliche Religion hat keine Doktrin, denn ich weiß, dass meine tiefste religiöse Wahrnehmung nicht in Worte zu fassen ist», wäre dies genau das, wovon wir sprechen: eine intellektuelle Interpretation ihrer Erfahrung. Ihre «Doktrin» wäre ein Stück der sogenannten negativen (apophatischen) Theologie[1], die man in den meisten Religionen findet.
Manche von uns haben eine stärkere Neigung zum Intellektuellen als andere und sind schneller dabei, Erfahrungen gründlich zu überdenken; aber in einem gewissen Maß tun wir das alle.
Jedoch bleibt es nicht dabei, uns bloß eine Meinung zu bilden, sondern auf deren Grundlage ergreifen wir für die eine oder andere Seite Partei; wir möchten etwas haben oder lehnen es ab.
Das tut unser Wille.
Sobald wir etwas als für uns gut erkennen, wünschen wir uns das unwillkürlich. Aus diesem Grund fangen wir an, ihm bereitwillig nachzugehen.
In dem Augenblick, in dem wir das mystische Glück des Dazugehörens zum allumfassenden Ganzen verkosten, sagen wir dazu ein bereitwilliges «Ja».
In diesem bedingungslosen «Ja» steckt die Wurzel der Moral[2].
Deswegen lassen sich alle moralischen[3] Systeme letztlich darauf zurückführen, dass man so handelt, wie man handelt, wenn man das Gefühl hat, zu etwas zu gehören.
In Interaktion mit der Welt ist immer der ganze Mensch, aber wenn die Interaktion auf das Erkennen zielt, sprechen wir vom Intellekt.
Steht das Begehren im Vordergrund, so sprechen wir vom Willen.
Der Intellekt siebt aus, was wahr ist; der Wille streckt sich nach dem aus, was gut ist.
Aber es gibt auch noch eine dritte Dimension der Wirklichkeit: die Schönheit.
Mit etwas Schönem tritt unser ganzes Wesen in Resonanz, so wie vielleicht ein kristallener Lampenschirm jedes Mal klirrt, wenn man auf dem Klavier ein Cis-Dur anschlägt.
Wenn dieses Gefühl der Resonanz (oder unter anderen Umständen der Dissonanz) unsere Interaktion mit der Welt bestimmt, sprechen wir von Emotionen.
Wie freudig treten die Emotionen mit der Schönheit unserer mystischen Erfahrung in Resonanz!
Je stärker sie anschlagen, desto intensiver genießen wir diese Erfahrung. Es kann dann sein, dass wir uns noch nach vielen Jahren genau an den entsprechenden Tag und die Stunde erinnern. Vielleicht gehen wir dann wieder zu der Gartenbank, auf der uns der Gesang einer Drossel ganz hingerissen hatte. Auch wenn wir diesen Vogel womöglich nie mehr hören, kann uns das trotzdem zum Ritual werden, und damit ist dann eine Art von Pilger-Ritual an einem für uns ganz persönlichen heiligen Ort entstanden.
Auch das Ritual ist ein Element jeder Religion.
Und jedes Ritual auf der Welt feiert in der einen oder anderen Form das Dazugehören; es ist ein Verweis auf jenes letzte Dazugehören, das wir in Augenblicken mystischer Achtsamkeit erfahren.
Die Antwort, die wir in solchen Augenblicken geben, kommt immer aus ganzem Herzen.
Im Herzen, also im Kern der menschlichen Person, bilden Verstand, Wille und Emotionen immer noch ein integrales Ganzes.
Aber sobald die Reaktion des Herzens sich in Form von Denken, Wollen oder Empfinden ausdrückt, wird die ursprüngliche Ganzheit dieser Reaktion gebrochen.
Aus diesem Grund sind wir mit den einzelnen Ausdrucksweisen dieser tiefsten Einsichten in Wort oder Bild nie ganz zufrieden.
Genauso wenig sind es unser Wille zum Engagement für Gerechtigkeit und Frieden sowie unser Ja zum Dazugehören, selbst wenn das auf der praktischen Ebene genauso aus ganzem Herzen kommt wie in unseren Augenblicken mystischen Einsseins.
Zudem gelingt es unseren Gefühlen oft nicht, die Schönheit wirklich zu feiern, die wir einen Augenblick lang unverhüllt zu erblicken vermochten, diese Schönheit, die weiterhin durch den Schleier unserer Alltagswirklichkeit hindurchscheint.
So tragen Lehre, Moral[4] und Ritual sogar schon in diesen frühesten Knospen der Religion den Stempel unserer Unzulänglichkeiten.
Aber dennoch erfüllen sie eine ganz wichtige Funktion: So unvollkommen es sein mag, halten sie uns jedenfalls in Verbindung mit der Wahrheit, Güte und Schönheit, die uns einmal überwältigt hatten.
Das ist der herrliche, glänzende Zug jeder Religion.
Solange bei einer Religion alles seinen rechten Weg nimmt, wirken Lehre[5], Moral[6] und Ritual wie ein Bewässerungssystem und bringen aus der Quelle der Mystik immer wieder frisches Wasser ins Alltagsleben. Die Religionen sind untereinander verschieden, genau wie das auch bei Bewässerungssystemen der Fall ist. Dabei gibt es objektive Unterschiede: Manche Systeme sind einfach effizienter als andere. Aber wichtig sind auch subjektive Vorlieben. Der Mensch neigt dazu, das System besonders zu schätzen, das er gewöhnt ist; seine Vertrautheit mit ihm macht es für ihn effizienter, ganz gleich, welche anderen Modelle auch noch auf dem Markt sein mögen.
Auch die Zeit hat ihren Einfluss auf das System:
Die Rohre neigen dazu, rostig zu werden und Lecks zu bekommen, oder sie werden verstopft. Dann bleibt womöglich vom Strom aus der Quelle bloß noch ein schwaches Herauströpfeln übrig.
Glücklicherweise ist mir noch keine Religion begegnet, deren System überhaupt nicht mehr funktioniert hat.
Aber leider beginnt die Verschlechterung bereits ab dem Tag, an dem das System installiert wird.
Ganz zu Anfang ist die Doktrin einfach nur die Interpretation der mystischen Wirklichkeit; sie entspringt aus dieser und führt wieder zu ihr zurück. Aber dann beginnt der Verstand diese Interpretation zu interpretieren. Kommentare um Kommentare werden auf der ursprünglichen Lehre aufgestapelt. Mit jeder neuen Interpretation der vorherigen entfernen wir uns von der Erfahrungsquelle weiter weg.
Die lebendige Doktrin versteinert zur Dogmatik.
Ein ähnlicher Prozess spielt sich unvermeidlich auch mit der Ethik ab. Anfangs formulieren moralische Vorschriften bloß, wie man das mystische Einssein ins praktische Leben umsetzen soll. Die Vorschriften erinnern uns nur daran, dass wir so handeln sollen, wie man unter Menschen handelt, die zusammengehören, und so verweisen sie weiterhin auf unser tiefstes, mystisches Gefühl des Dazugehörens zurück.
Die Tatsache, dass eine Gemeinschaft oft einen zu engen Kreis um sich selbst zieht, steht auf einem anderen Blatt. Das ist einfach nur eine unzureichende Übersetzung der ursprünglichen Intuition. Der Kreis des mystischen Einsseins ist allumfassend.
Weil wir es zum Ausdruck bringen wollen, dass wir uns unwandelbar dem Gutsein verschreiben möchten, das uns in mystischen Augenblicken aufgeblitzt ist, meißeln wir die Moralvorschriften in steinerne Tafeln ein.
Aber indem wir das tun, machen wir den Ausdruck unserer Selbstverpflichtung unabänderlich. Wenn sich dann die Umstände ändern und nach einer neuen Ausdrucksweise dieser gleichen Verpflichtung verlangen, bleibt das, was wir tun und lassen sollten, starr im Stein eingemeißelt und lässt sich nicht ändern.
Damit wird dann aus der Moral Moralismus.
Und was passiert mit dem Ritual?
Wie wir gesehen haben, ist es zunächst eine wahre Feier. Wir feiern, indem wir uns dankbar erinnern. Alles andere ist freigestellt. Das besondere Ereignis, das wir feiern, löst einfach diese dankbare Erinnerung aus, eine Erinnerung an die Augenblicke, in denen wir uns am tiefsten unseres grenzenlosen Dazugehörens bewusst waren.
Als Erinnerungsakt und Erneuerung unseres endgültigen Verbundenseins hat jede Feier religiöse Obertöne, Echos des mystischen Einsseins. Das ist auch der Grund dafür, dass wir, wenn wir feiern, den Wunsch haben, alle, die in besonderer Weise zu uns gehören, sollten dabei anwesend sein. Auch die Wiederholung ist ein Bestandteil der Feier.
Immer wenn wir zum Beispiel einen Geburtstag feiern, wird dieser Tag angereichert mit all den Erinnerungen an die vorhergehenden Geburtstagsfeiern.
Aber das Wiederholen hat seine Gefahren, insbesondere für das Feiern religiöser Rituale. Weil diese so wichtig sind, möchten wir ihnen die perfekte Form geben. Doch ehe wir es recht merken, sind wir dann bald mehr auf die Form als auf den Inhalt bedacht.
Wenn die Form formalisiert wird und der Inhalt in Vergessenheit gerät, verkommt das Ritual zum Ritualismus.
So traurig es ist: Eine sich selbst überlassene Religion wird irreligiös.
Als ich einmal in Hawaii über einen immer noch heißen Vulkanfelsen ging, kam mir ein Bild für diesen Prozess, und zwar eines nicht mit Wasser, sondern mit Feuer. Die Anfänge der großen Religionen waren wie die Ausbrüche eines Vulkans.
Da war Feuer, Hitze, Licht: das Licht der mystischen Einsicht, die in einer neuen Lehre frischen Ausdruck fand; die Glut von Herzen voller Hingabe, die zur begeisterten Gemeinschaft wurden; und eine Feier, die feurig wie neuer Wein war. Das Licht der Lehre, die Glut ethischen Engagements, das Feuer der Ritualfeier waren Ausdrucksweisen, die glühend rot aus den Tiefen des mystischen Bewusstseins hervorquollen. Aber als dieser Lavastrom dann an den Hängen des Berges herabfloss, begann er sich abzukühlen. Je weiter er sich von seinen Ursprüngen entfernte, desto weniger sah er nach Feuer aus; schließlich gerann er zu Stein. Dogmatik, Moral, Ritual:
Das alles sind Schichten von Asche-Ablagerungen und vulkanischem Fels, die sich zwischen uns und das feurige Magma tief unten geschoben und uns von ihm getrennt haben.
Aber es gibt Risse und Spalten im geronnenen Feuerfels der alten Lavaflüsse: heiße Quellen, Gas- und Wasserdämpfe aus den Rissen und Geysire; gelegentliche Erdbeben und kleinere Vulkanausbrüche.
Sie stellen die großen Menschen dar, welche die religiöse Tradition von innen her reformiert und erneuert haben. Das ist auf die eine oder andere Weise auch unsere Aufgabe. Jede Religion hat einen mystischen Kern.
Die Herausforderung besteht darin, zu ihm vorzustoßen und aus seiner Kraft zu leben. Von daher gesehen ist jede Generation von Gläubigen aufs Neue aufgerufen, ihre Religion wieder wirklich religiös werden zu lassen. Das ist der Punkt, an dem die Mystik mit der Institution zusammenstößt.
Religiöse Institutionen brauchen wir. Gäbe es sie nicht, so würden wir sie schaffen.
Das Leben erschafft Strukturen. Man denke nur an die genialen Konstruktionen, die das Leben erfindet, um seine Samen zu schützen: alle diese Hülsen, Hüllen, Schoten, Schalen, Spelze, Kapseln, die man im Herbst an einer Hecke findet.
Wenn der Frühling kommt, knackt das Leben von innen her diese Behälter (sogar harte Walnuss-Schalen!) auf und bricht heraus. Kruste, Rinde, Schale platzen auf und fallen weg.
Unsere Sozialstrukturen dagegen haben die Tendenz, sich zu verewigen. Bei religiösen Institutionen ist es weniger wahrscheinlich als bei Samenhülsen, dass sie für das neue, in ihrem Inneren sich regende Leben aufplatzen.
Obwohl das Leben (immer und immer wieder) Strukturen erschafft, erschaffen Strukturen leider kein Leben.
Diejenigen, die am engsten mit dem Leben verbunden sind, das die Strukturen geschaffen hat, werden den größten Respekt vor ihnen haben; aber sie werden auch die ersten sein, die verlangen, dass Strukturen, die nicht länger das Leben fördern, sondern es behindern, geändert werden müssen.
Deshalb werden die am engsten mit dem mystischen Kern der Religion Verbundenen innerhalb des Systems oft zu unbequemen Aufrührern.
Wie echt ihr Anliegen ist, wird sich daran zeigen, wie groß ihr Mitgefühl und Verständnis für diejenigen ist, denen sie die Stirn bieten müssen; schließlich kommen die Mystiker aus einem Bereich, wo «wir» und «sie» ein und dasselbe ist.
In manchen Fällen sind hohe Vertreter der institutionellen Religion selbst Mystiker, wie das zum Beispiel bei Papst Johannes XXIII. der Fall war.
Das sind Männer und Frauen, die es spüren, wenn es an der Zeit ist, dass die Strukturen dem Leben Raum geben müssen.
Sie vermögen zu unterscheiden zwischen der Treue zum Leben und der Treue zu den Strukturen, die in der Vergangenheit das Leben hervorgebracht hatten, und sie setzen die richtigen Prioritäten.
Das tat zum Beispiel auch Rumi, der schrieb:
Erst wenn Treue
zum Verrat wird
und Verrat zur Treue
kann jeder Mensch
Teil der Wahrheit werden.[7]
Man beachte, dass hier «Verrat» ‒ oder das, was als solcher angesehen wird ‒ nicht der letzte Schritt ist.
Es gibt einen weiteren Schritt, bei dem der «Verrat» zur «Treue», zum Glauben wird.
Dieses Herausgehen und Zurückkommen stellt den Weg des Helden[8] dar; zugleich ist es die Aufgabe von uns allen.
Der Glaube (das heißt das mutige Vertrauen) lässt die institutionellen Strukturen los und findet sie damit auf einer höheren Ebene wieder ‒ immer und immer wieder.
Dieser Prozess ist so schmerzlich wie das Leben und genauso überraschend wie dieses.
Eine der großen Überraschungen ist die, dass das Feuer der Mystik sogar die tödliche Starre von Dogmatismus, Legalismus und Ritualismus zu schmelzen vermag.
Durch den Anblick oder die Berührung solcher, deren Herzen brennen, beginnen Doktrin, Ethik und Ritual von der Wahrheit, Güte und Schönheit ihres ursprünglichen Feuers zu glühen.
Der tote Buchstabe wird lebendig und atmet Freiheit.
Ein Uneingeweihter liest in Exodus 32,16 von «Gottes Schrift, in die Tafeln eingegraben».
Aber im hebräischen Text stehen nur die Konsonanten: «chrth». Mystiker, die zufällig Rabbis sind, sagen beim Anblick dieses Worts:
«Lies nicht ‹charath› (‹eingegraben›), sondern ‹cheruth› (‹Freiheit›)!»
Es braucht Mut und visionäre Fähigkeit dazu, über unser derzeitiges Verständnis hinauszublicken.
Kinder tun das die ganze Zeit und es fällt ihnen viel leichter als den Erwachsenen.
So schrieb zum Beispiel einmal eine Schülerin mehr, als ihr selbst dabei bewusst war: «Früher versteinerten viele tote Tiere, aber andere wurden lieber zu Öl.»
Das ist auch den Mystikern lieber. Im Leben wie im Tod nähren sie das Feuer der Religion.[9]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 9]
[Ergänzend:
1. Video
Vom Ich zum Wir (2021): «Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität»: Bruder David im Interview mit Egbert Amann-Ölz im Rahmen des Online-Pfingstkongresses (14.-24. Mai 2021), siehe auch Transkription Pfingstkongress, 4-7:
(20:22) «Und diese Auseinandersetzung mit dem Geheimnis also ist, was ich Religiosität nenne. Und die drückt sich jetzt in Religionen aus. Und zwar kommen im Lauf der Geschichte tiefreligiöse Menschen immer wieder, die ihre – unsere – Begegnung mit dem großen Geheimnis durch Worte, durch eine Lehre, durch Moral – eine Ethik – und durch Rituale ihren Zeitgenossen zugänglich machen. Und eine Religion ist die kulturelle Zugänglichmachung unserer allgemeinmenschlichen Religiosität durch eine Religion eben.
Und die Religionen sind zu verschiedenen Zeiten und in ganz verschiedenen kulturellen Umfeldern entstanden und dadurch unterscheiden sie sich. Sie unterscheiden sich auch noch – ja, ja – durch alle die Eigenheiten, die da eben damit gegeben sind. Außerdem durchlaufen sie … die großen Religionen haben schon eine lange Geschichte durchlaufen und die Geschichte hat sie auch geformt und leider auch verformt in mancher Hinsicht, und zwar neigen diese drei Aspekte jeder Religion, von denen ich gesprochen hab: Die Lehre, die Moral und das Ritual neigen dazu sich zu verhärten.
Und das Bild, das ich gerne gebrauche, ist lebendiges Wasser, das da zuerst aussprüht: Aus einem Brunnen, den dieser Religionsstifter oder Religionsstifterin gebaut hat, kommt dieses lebendige Wasser hervor, aber die Atmosphäre unserer Welt ist sehr kalt und es gefriert.
Und so gefriert die Lehre und sie wird dogmatistisch: Ich hab nichts gegen Dogmen, wenn man sie richtig versteht, aber sie werden meistens missverstanden: dogmatistisch: Wir wissen, was wir damit meinen.
Die Moral wird moralistisch und versteift sich, ist eingefroren, kann sich nicht mehr mit ethischen Problemen auseinandersetzen, die erst jetzt überhaupt zustande gekommen sind, die zu der Zeit dieser Religionsstifter überhaupt nicht da waren – eine ganz andere Situation: Also muss sich auch die Moral anpassen aus der Kraft der inneren Ethik heraus.
S.H. der Dalai Lama hat ja ein Buch geschrieben: ‹Ethik ist wichtiger als Religion›, so heißt das Buch. Das ist seine Botschaft, aber damit meint er mit Ethik, was ich Religiosität nenne. Ich kann das völlig anerkennen, aber ich übersetze es und sage: Religiosität ist wichtiger als Religion. Das heißt: Lebendige Religiosität ist wichtiger als religiöse Formen. Das steht dahinter.
Das gilt eben auch für die Moral und es gilt für die Rituale: Die Rituale können auch einfrieren und niemandem mehr etwas bedeuten und müssen wieder aufgetaut werden.
Nun ist aber die große Frage: Wie kann man überhaupt eine eingefrorene Religion wieder auftauen? Und meine Antwort ist: Mit unserer eigenen Herzenswärme. Das ist das Einzige: Mit unserer eigenen Herzenswärme.»
2. Audios
2.1. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 2, 5-8:
«Wie kommt man von der Religiosität zu den Religionen? Die Religionen sind ja etwas anderes. Religionen sind geschichtliche Formen, Institutionen, von denen wir uns hier umgeben wissen. Unsere Religiosität, das ist etwas ganz Innerliches. Wie kommt man von der einen zu der anderen?»
2.2. Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag und wortgenaue Mitschrift in den folgenden 8 Audios:
Audio: Einführung, das Mehr und vier Fragen (Mitschrift):
Was ist Spiritualität und wie ist das Verhältnis zur Religion?
Audio: Die mystische Erfahrung ist religionsschöpferisch (Mitschrift):
Wie kommt man von der lebendigen Spiritualität zu den Religionen?
Audio: Das Herz der Religion ist die Religion des Herzens (Mitschrift):
Von der mystischen Erfahrung des Gründers zur Verhärtung im Laufe der Zeit
2.3. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 3 in folgende Themen zusammengefasst:
(00:00) Der Zusammenhang von persönlicher Religiosität und Kirche, bzw. Religion / (01:18) Die persönliche Gotteserfahrung als Ausgangspunkt ‒ ‹Ich bin durch dich so Ich› (E. E. Cummings) / (03:36) Vom Erlebnis zur Lehre ‒ ‹Negative Theologie› / (07:33) Vom Erlebnis zur Moral / (11:00) Vom Erlebnis zum Ritual / (12:10) Von der Lehre zu Lehrsätzen ‒ Gefahr des Dogmatismus / (14:49) Von der Moral zum Moralismus / (16:43) Vom Ritual zum Ritualismus / Religion kann irreligiös werden ohne menschliches Verschulden / (20:33) Religion wieder religiös machen ‒ Ein Wort von Karl Rahner
2.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
«Wir müssen unsere Religion wieder religiös machen»
(00:00) Vom mystischen Erlebnis zur Lehre, Moral und Ritual: Wie der Verstand, der Wille und die Gefühle tätig werden und die Religionsgemeinschaft entsteht
(08:17) Wenn der Inhalt vergessen wird und die Formen verkalken: Dogmatismus, Moralismus, Ritualismus und unsere Aufgabe
(14:24) Die Last der Wirkungsgeschichte illustriert an drei Beispielen aus der Dogmatik, einer Stelle aus dem Galaterbrief (Gal 3,28) und dem Abendmahlsstreit
(21:56) Wo und wie bin ich in Gefahr zu verkalken?
(47:11) Immer wieder aufs Herz zurückkommen: Herz meint den ganzen Menschen, unsern ganzen Verstand, unsere ganze Gefühls- und Willenskraft
3. Texte
3.1. Im Buch: Orientierung finden (2021), 66-70:
«Vielleicht erhebt sich hier die Frage: Muss Religiosität sich in Religion ausdrücken?
Die Erfahrung zeigt, dass sich dies unvermeidlich immer wieder ereignet. Natürlich nicht unbedingt in den spezifischen Formen dieser oder jener Religion, unvermeidlich aber in einer Reihe von Formen, die für jede Religion typisch sind.
Führen wir uns diesen Prozess an einem Beispiel vor Augen. Erinnern wir uns an einen Augenblick höchster Lebendigkeit. Was immer die äußeren Umstände sein mögen ‒ und diese können ganz alltäglich sein ‒, das Geheimnis ergreift uns und einen zeitlosen Augenblick lang erleben wir beseligendes All-Eins-Sein mit uns selbst und mit dem All.
Solange dieses Erlebnis andauert, denken, wollen oder fühlen wir nichts ‒ oder vielleicht sollten wir sagen: Denken, Wollen und Fühlen sind ununterscheidbar eins in der allumfassenden Einheit unsres Erlebens.
Aber schon im nächsten Augenblick löst sich unser Denken aus dieser Einheit heraus und macht sich selbständig.
Unser Verstand fragt ‹Was war das?›
Nun haben wir aber etwas erlebt, was sich nicht in Begriffe fassen lässt. Wie sollen wir also darüber sprechen? Wie können wir uns selbst klarmachen, was wir erlebt haben, und die Freude daran mit andren teilen?
Dichtung ist der Ausweg, den Menschen in dieser Lage immer wieder finden. Nur Dichtung kann Ahnungen ausdrücken, die nur wie ein Duft an den Worten hängen.
So reden wir also über Begegnungen mit dem Geheimnis ‒ denn darum geht es ja hier ‒ immer, indem wir vertraute Begriffe verwenden, sie aber dichterisch überhöhen.
Darin liegt der Keim für die Lehre, für das intellektuelle Element jeder Religion.
Wenn wir vergessen, dass alle Texte, die über das Geheimnis sprechen, symbolisch zu verstehen sind, also nicht wörtlich, dann sind wir schon auf dem Holzweg.
So hat zum Beispiel der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide (1922-1997) treffend gesagt:
‹Man kann die Bibel ernst nehmen oder wörtlich, beides zusammen ist nicht möglich.›
Ähnlich gilt das von den heiligen Schriften aller Religionen.
Sobald unser Verstand einige Klarheit über das eben Erlebte erreicht hat, kommt nun auch unser Wille unweigerlich zum Zug.
Er konzentriert sich auf die Glückseligkeit der All-Zugehörigkeit, die wir in unsrem Augenblick höchster Lebendigkeit erfahren haben, und setzt sich zum Ziel, nach diesem Glück zu streben:
‹Ja, so möchte ich leben, in der Freude völliger Zugehörigkeit aller zu allen!›
In diesem ‹Ja›, mit dem unser Wille sich auf Zugehörigkeit ausrichtet, liegt der Keim jeder Moral.[10]
Unter Moral verstehen wir hier die Form, in der die Ethik sich in einer bestimmten Kultur ausdrückt. Die Formen jeder Religion gehören ja der einen oder der andren Kultur an, also auch ihre Moral. Es kann sogar vorkommen, dass unethische Elemente einer Kultur unversehens in ihre religiöse Moral aufgenommen werden.
So sehr sich auch Moralsysteme voneinander unterscheiden, ja einander manchmal zu widersprechen scheinen, sie alle sagen auf ihre Weise:
So verhält man sich denen gegenüber, denen man angehört.
Sie unterscheiden sich nur durch die Weite des Kreises ihrer Zugehörigkeit. Im Laufe der Geschichte wurde dieser Kreis im Bewusstsein der Menschen weiter und weiter.
In unsren Tagen ist bereits jede Ausschließlichkeit unmoralisch geworden.
Nichts darf mehr ausgeschlossen werden.
Nicht nur allen Menschen schulden wir ethisches Verhalten, sondern auch allen Tieren, Pflanzen und sogar der ganzen unbelebten Natur.
Wie Religiosität sich in Religion ausdrückt, drückt Ethik sich in Moral aus.
Ethik, wie wir den Begriff hier verwenden, ist unsre Verantwortung vor dem großen DU, Moral ist der Versuch, unsre ethische Verantwortung in einer konkreten Kultur zum Ausdruck zu bringen.
Wenn S.H. der Dalai Lama sagt, ‹Ethik ist wichtiger als Religion› ‒ Buddhismus als Religion eingeschlossen ‒, so heißt das in der Sprache, die wir hier verwenden:
Religiosität ist wichtiger als Religion.
Dem stimmen wir vollkommen bei, denn ohne Religiosität bleiben die Formen der Religion leere kulturelle Erscheinungen.
Je vollkommener sich Religiosität/Ethik in einer bestimmten Religion ausdrückt, umso lebendiger und lebenspendender ist ihre Moral.
Wir haben hier beschrieben, wie Verstand und Wille Brücken schlagen vom religiösen Urerlebnis zu seinem Ausdruck in Lehre und Moral.
Aber auch unsre Emotionen reagieren unaufhaltsam auf das Gipfelerlebnis, von dem wir hier ausgehen.
Sie schwingen freudig mit, sie feiern.
Und dieses freudige Feiern ist der Keim, aus dem Rituale entstehen, die ein drittes Element jeder Religion darstellen.
Rituale, so verstanden, sind Handlungsweisen, die uns wach halten für Sinn und Ziel unsres Lebens, wie Lehre und Moral sie uns auf ihre Weise in Erinnerung rufen.
Da sind zunächst die Rituale wie für Hindus ein feierliches Bad im Ganges, die jüdische Seder-Mahlzeit oder das Anzünden von Räucherstäbchen im Buddhismus.
Auch in den Urkulturen finden wir vergleichbare Rituale, etwa Opfer oder die Jugendweihe.
Was sie aber auszeichnet ist, dass im Alltag jede Handlung zum Ritual werden kann.
Das bleibt auch für uns richtungsweisend. Durch Übung in Aufmerksamkeit können wir lernen, alles, was wir tun, im wachen Bewusstsein von Sinn und Ziel unsres Daseins zu tun.
Dadurch wird unser Leben zur Feier und wir entdecken ungeahnte Quellen der Freude im Alltag.
So regt die mystische All-Eins-Erfahrung unsrer Religiosität unumgänglich unser Denken, Wollen und Fühlen dazu an, die drei Grundsteine jeder Religion zu legen: Lehre, Moral und Riten.
Was wir hier im kleinen Maßstab beobachtet haben, das ereignet sich auch geschichtlich im großen Maßstab bei der Entstehung neuer Religionen.
Sie gehen auf das mystische Erleben der Religionsgründer:innen zurück.
Dieses Erleben wird Ausdruck in einer Lehre finden, die dem intellektuellen Rahmen der Zeit angepasst ist.
Die mystische Erfahrung der Gründer wird sich auch in einem Moralsystem ausdrücken, welches das Ideal der Allzugehörigkeit in konkrete Formen übersetzt, die in der gegebenen Gesellschaft verwirklicht werden können.
Auch wird sie Rituale hervorbringen, deren Formen der Kultur dieser Zeit und dieses Ortes entnommen sind.
Das Wasser eines solchen neuen Brunnens kann, wenn die geschichtlichen Gegebenheiten das begünstigen, weiterfließen und zu einem breiten Strom anschwellen, der immer mehr Menschen neue Einsichten, ein neues Verständnis von Gerechtigkeit und neue Formen des Feierns schenkt.
Religionen neigen jedoch dazu, früher oder später ihre ursprüngliche Kraft zu verlieren.
Ein Grund dafür liegt darin, dass große Gemeinschaften es kaum vermeiden können, Institutionen zu werden. Alle Institutionen haben aber die Tendenz, ihren ursprünglichen Zweck zu vernachlässigen und stattdessen zum Selbstzweck zu werden.
Wir wissen aus bitterer Erfahrung, dass auch politische, akademische, medizinische und andre Institutionen zum Selbstzweck werden, nicht nur religiöse.
Eine weitere Gefahr für Religionen besteht darin, dass sie in den Bann des ‹Systems›[11] fallen können.
Wenn dies geschieht, friert ihre lch-DU-Spiritualität zu einer Ich-Es-ldeologie ein: Lehre, Moral und Ritual verwandeln sich in Dogmatismus, Moralismus und Ritualismus.
Was sollen wir tun, wenn diese Katastrophe unsre eigene Religion befällt und das lebendige Wasser, das einst aus ihrem Brunnen sprudelte, sich in Eis verwandelt?
Wir können dieses Eis immer wieder auftauen ‒ durch die Wärme der Religiosität unsres Herzens.
Das Herz jeder Religion ist die Religiosität des Herzens.
Religiosität kann Religion wiederbeleben.
Wo eben noch Eis war, sprudelt dann wieder lebenspendendes Wasser.
Ist es also nicht die Religiosität unsres Herzens, auf die alles ankommt?»
3.2. «Die Religion religiös machen», in: Verbunden trotz Abstand (2021), 57-67; siehe auch: Die Religion religiös machen im Buch Andere Wirklichkeiten (1984), 200-204:
«Wie gelangen wir von der religiösen Erfahrung, sagen wir des Gründers oder jedes Mitglieds einer bestimmten religiösen Gemeinschaft, zu den Religionen? Jeder Mensch, so behaupte ich, macht zwangsläufig drei Dinge mit dieser religiösen Erfahrung. Wir können gar nicht anders, wir tun das mit jeder Erfahrung, aber im Falle der religiösen Erfahrung wird es besonders deutlich.»
3.3 Ken Wilber und David Steindl-Rast im Dialog (2019):
Bruder David: «Nun können wir fragen, auf welche Weise die verschiedenen Religionen aus der uns allen gemeinsamen Religiosität entspringen. Ganz kurz gefasst: Zu verschiedenen Zeiten der Geschichte und inspiriert durch besonders religiöse Menschen ‒ die Religionsstifter ‒ bringt eine Gemeinschaft Religiosität zu einem für ihre Kultur stimmigen Ausdruck. Daraus kann eine Tradition entstehen, die in der Geschichte fortbesteht. Religiosität ist also der Mutterschoß, aus dem die Religionen geboren werden.»
«Leider finden viele Leute heute, dass ihre Religiosität in den ihnen vertrauten Formen der Religion nicht mehr ausgedrückt wird. …
Um zu beschreiben, wie ich diese zwei Dimensionen in meiner eigenen Religion erlebe, verwende ich die Metapher von rostigen Rohren. Die Formen sind verrostet, aber das Wasser, das hindurchfließt, ist immer noch das lebensspendende Wasser. Ich kann entweder auf den Rost schauen oder ich kann das Wasser trinken. Unser säkulares Klima ist jedoch kalt und das lebensspendende Wasser gefriert durch unsere kalte Gleichgültigkeit. Wir brauchen also eine Form der Lehre, die uns zurückführt zu der spirituellen Erfahrung, von der Ken gesprochen hat. Wir brauchen Rituale, die uns helfen, diese Erfahrung immer wieder lebendig zu erneuern. Und wir brauchen eine Moral, die zeitgemäß ausdrückt, wie Menschen handeln, wenn sie sich dessen bewusst sind, dass sie zusammengehören. Aber sehr oft gefriert die Lehre und wird zu Dogmatismus, das Ritual wird zu Ritualismus und die Moral wird zu Moralismus. Wie können wir dann dieses Eis wieder auftauen und in lebensspendendes Wasser verwandeln? Wir können dieses gefrorene Wasser nur durch die Wärme unseres eigenen Herzens auftauen ‒ durch das Feuer unserer Religiosität. Dann wird es wieder lebendiges Wasser für uns selbst und für alle, denen wir begegnen. Deshalb ist es so wichtig, immer und immer wieder zu unserer Religiosität tief in unserem Herzen zurückzukehren. Nichts anderes kann uns genug innere Wärme geben, um das Eis von Dogmatismus, Moralismus und Ritualismus wieder aufzutauen.»
3.4. Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation im Buch Geist und Natur (1989), 292-294:
«Wie hängen Mystik und Religion zusammen?
Das ist die große Frage. Wie kommt man von dieser Religiosität, die allen Religionen gemeinsam ist, zu den Religionen, die sich oft gegenseitig in den Haaren liegen?
Die Antwort lautet: notwendigerweise. Ich verwende dieses Wort hier gern. ‹Notwendig› heißt ja nicht nur zwangsläufig, es bedeutet auch, dass dadurch eine Not gewendet wird. Und wir haben eine Not, die gewendet werden muss, nämlich wann immer wir in unseren Dunkelstunden mystische Tiefe erleben, Gott erleben, dann fühlen wir die Notwendigkeit, unser Erlebnis zu interpretieren. Unser Verstand findet es notwendig, zu interpretieren. Das führt zur Lehre, die ein Bestandteil jeder Religion ist.
Selbst wenn es sich um Ihre private Religiosität handelt und sie sagen: ‹Bei mir ist das ganz anders, ich weiß, dass man das nicht interpretieren darf und nicht interpretieren kann›, dann ist das ja auch eine Lehre, dann hat Ihr Verstand genau dasselbe gemacht, nur haben Sie die apophatische Theologie[12] entdeckt.
Die gibt es ja auch in allen Religionen. Es kommt nicht darauf an, was wir über unsere religiöse Erfahrung sagen, aber wir müssen etwas darüber sagen, und damit haben wir den ersten Bestandteil jeder Religion, die Lehre.
Die Lehre entspringt notwendigerweise aus der Religiosität. Sie entspringt notwendigerweise aus der Mystik. Nur läuft sie jetzt Gefahr, sich zu verhärten.
Im Augenblick, wo etwas ausgesprochen oder gar niedergeschrieben ist, beginnt es, sich zu verhärten. So läuft die Lehre immer Gefahr, doktrinär zu werden. Diese Gefahr müssen wir sehen. Sie ist da. Wenn wir sie nicht sehen, kann sie wirklich gefährlich werden. Wenn wir sie sehen, können wir ihr möglicherweise entgehen.
Aber unser Wille tut auch notwendigerweise etwas mit unserem mystischen Erleben. Unser Wille sagt: ‹Ja! Diese Zugehörigkeit möchte ich leben. Und das ist der Ursprungspunkt aller Moral. Denn alle Systeme der Moral, wo immer wir sie finden und wie sie sich auch in ihrem Ausdruck voneinander unterscheiden, haben alle eines gemeinsam: ‹So verhält man sich denen gegenüber, zu denen man gehört.›
Die Gefahr ist, dass wir den Kreis derer, zu denen wir gehören, viel zu eng stecken. In unserem mystischen Erlebnis wissen wir, dass wir alle zusammengehören, dass der Kreis ins Endlose geht. So entspringt dem mystischen Erlebnis notwendigerweise auch die Moral.
Nur ist auch die Moral, im Augenblick, wo sie ausgesprochen wird, in Gefahr, sich zu verhärten, zum Moralismus zu werden nämlich. Auch diese Gefahr müssen wir sehen, sonst sind wir ihr schon verfallen. Wenn wir sie aber sehen, können wir ihr entgehen.
Und unsere Gefühle, die kommen ja auch da herein. Der ganze Mensch nimmt teil am mystischen Erlebnis. Verständnis, Wille, Gefühle; Leib und Seele; der ganze Mensch, das ganze Herz. Was aber machen die Gefühle?
Die Gefühle feiern notwendigerweise unsere Zugehörigkeit zum All. Daraus entspringt das Ritual. Sie können kein Ritual in der Religionsgeschichte aufzeigen, das nicht Feier von Zugehörigkeit ist; das ist allen gemeinsam.
Aber im Augenblick, wo wir ein Ritual haben, kann es sich auch wieder verhärten. Die erste Generation feiert wirklich das Zugehörigkeitsgefühl. Die zweite Generation kann sich nicht mehr genau daran erinnern, was eigentlich gefeiert wurde, ist aber sehr darauf bedacht, es genau so zu machen wie die erste Generation. Und so geht es weiter. Ritual kann sich verhärten in Ritualismus.
Stellen Sie sich vor, wie es ist, wenn Generation um Generation die Lehre interpretiert und dann die Interpretation der Interpretation interpretiert. Bevor wir es begreifen ‒ nach einigen tausend Jahren… Sie verstehen.
Was verlangt das von uns? Es verlangt, dass wir unsere Religion, welche auch immer das ist, religiös machen.
Es ist ein großes Missverständnis, wenn Leute sich einer Religion anvertrauen und glauben, die Religion würde sie religiös machen.
Jede Religion der Welt ‒ meine eigene eingeschlossen ‒ hat eine eingebaute Tendenz, irreligiös zu werden, wenn nicht immer wieder jeder einzelne Mensch aus dem mystischen Leben heraus sie erneut religiös macht; das ist unsere große Aufgabe.
Nur müssen wir uns jetzt fragen, ist dann die Religion nur ein Ballast für die Mystik, nur eine Hinderung?
Nein! Wir haben schon gesagt: Religion verhält sich zur Mystik wie eine Landkarte zur Entdeckungsfahrt. Die Karte kann sehr hilfreich sein, wenn wir sie nicht verwechseln mit dem Abenteuer selbst.
Auch der Entdeckungsreisende verlässt sich nicht blindlings auf die Karte. Er muss sie hin und wieder in dem einen oder anderen Punkt korrigieren.
Aber dieses Erneuern, Lebendigmachen, Umgestalten der Religion ist ja nur ein Teil von etwas viel Umfassenderem, das uns im Leben aufgegeben ist: nämlich ganz allgemein unser Leben aus der Mystik heraus zu erneuern. Unser Leben in allen Bereichen aus dem Erleben unserer Zugehörigkeit zu erneuern und schöpferisch zu gestalten.
Und damit sind wir schon bei der Arbeit, bei der Verbindung von Arbeit und Schweigen. Denn die Tiefe, das Schweigen, das Mysterium, der Mythos, das Dunkel muss sich aussprechen in Wort, Logos, Erhebung, Licht, Auge.
Die beiden Bereiche gehören zusammen. Sie zusammenzubringen, das ist unsere eigentliche Arbeit. Jede andere Arbeit ist unbedeutend, oberflächlich, aber hier ist unsere wahre Arbeit.
In der biblischen Sprache heißt sie Schöpfung.»
3.5. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution im Buch Die Chance der Menschheit (1988), 176-181, 182:
«Dies ist der Punkt, in dem die religiösen Traditionen zusammenlaufen: Sie gehen alle von der Mystischen Erfahrung aus. Es gibt keine einzige religiöse Tradition auf dieser Welt, die einen anderen Ausgangspunkt hat. Oft fängt sie historisch mit der mystischen Erfahrung des Religionsgründers oder Reformators an. Sie fängt aber immer psychologisch mit der mystischen Erfahrung des bzw. der Gläubigen an. Dies ist der Ausgangspunkt. Der Endpunkt jeder Religion dieser Welt ist ebenfalls derselbe.
Das Ziel jeder Religion ist, dass der Mensch in jeder Erfahrung die Zugehörigkeit zur letzten Wirklichkeit erkennt und entsprechend handelt. Das wäre der Himmel.
Warum sind dann die Religionen so spaltende Faktoren auf der Welt?
Wie gelangen wir von der religiösen Erfahrung zur religiösen Tradition, von der einen großen Religion zu den vielen Religionen?
Sie wissen aus eigener Erfahrung, wie sich mystisches Erleben unweigerlich in Lehre, Ethik und Ritual umwandelt, also in die entscheidenden Elemente jeder religiösen Tradition.
Die Mystik ist zugegebenermaßen das Herz jeder Religion. Das Herz jeder Religion ist die Religion des Herzens.
Wie kommt man aber vom inneren Kern der Religion zu all ihrem Drum und Dran?
Die Antwort lautet: Unweigerlich! Sie kommen unweigerlich auf die eine oder andere Weise dorthin, selbst in Ihrer Privatreligion. Unsere mystische Erfahrung setzt der Geist unweigerlich in Lehre, Ethik und Ritual um. Als erstes stürzt sich ihr Intellekt auf Ihre Erfahrung und beginnt sie zu interpretieren. Das können Sie nicht verhindern. Dies ist der Ausgangspunkt für alle religiösen Lehren. Und das ist auch die Definition für religiöse Lehre: Die Interpretation der religiösen Erfahrung.
Als Kinder wurden wir mit allerlei Lehren über Gott konfrontiert. Niemand hat uns aber jemals dazu ermutigt, Gott in uns selbst aus erster Hand zu entdecken. Das ist eine Ungerechtigkeit, ein Vorenthalten von Möglichkeiten. Unter Dogmatismus verstehe ich eine verfestigte Lehre, eine Lehre, die nicht mehr lebendig ist, die starr im Raum steht. (Ich möchte klarstellen, dass Dogmatismus und Dogma nicht zwangsläufig miteinander verbunden sind. …). Soweit der Intellekt.
Aber auch Ihr Wille ist aktiv. Immer wenn Sie eine Erfahrung machen, sagt Ihr Wille: ‹Das ist schön, das will ich noch einmal erleben›,
oder aber: ‹Damit will ich überhaupt nichts zu tun haben!›
Mit diesen zwei Möglichkeiten werden wir konfrontiert, wenn wir vom Willen sprechen. Doch leider ist es nicht so einfach, denn unser Wille und unser Intellekt arbeiten eng zusammen.
Nach Ihrer mystischen Erfahrung wird Ihr Wille vielleicht sagen: ‹Dieses Gefühl der grenzenlosen Einheit ist etwas Wunderbares. Das ist alles, was ich mir jemals gewünscht habe, diesen Weg möchte ich weitergehen.›
Ihr Intellekt warnt Sie aber: ‹Sei vorsichtig, du lässt dich da auf ein Wagnis ein. Du weißt nicht, was das für Folgen haben kann! Nicht so schnell!›
Ihr Wille drängt Sie, aber Sie haben Furcht. Hier befinden wir uns plötzlich mitten im Bereich der Ethik, der Moral.
Der Bereich, in dem die Furchtsamkeit gegen die Hingabe an das grenzenlose Verbundenheitsgefühl ankämpft, ist die Arena der Moral. Aus diesem Grund ist die Moral ein weiteres Element jeder Religion. Wenn ich tatsächlich auf diese Weise verbunden bin, wie ich es in meinen mystischen Augenblicken erfahren habe, dann muss ich bestimmte Konsequenzen ziehen. Doch die Furcht setzt irgendwo eine Grenze. In Ihrem wunderbaren mystischen Augenblick haben Sie keine Grenze zwischen Gebildet und Ungebildet gesetzt, keinen Unterschied zwischen Schwarz und Weiß, Männlich und Weiblich, ja noch nicht einmal zwischen Menschlich und Nicht-Menschlich gemacht. Es gab für Sie überhaupt keine Unterschiede. Und wenn Sie mit allem verbunden sind, zu allem dazugehören, haben Sie auch allem gegenüber Verpflichtungen. Im Augenblick Ihres mystischen Erlebnisses akzeptieren Sie diese Verpflichtungen mit einem Glücksgefühl.
Ethik, Moral ist einfach ein Aussprechen dessen, wie wir leben sollen, wenn wir unsere Zugehörigkeit zur letzten Wirklichkeit ernst nehmen.
Unweigerlich fangen wir an, unsere Verpflichtungen zu formulieren. Schließlich leben wir nicht in einem Vakuum, sondern in einer Gesellschaft. Wenn die Moral zum ersten Mal formuliert wird, ist sie noch lebendig. Sie können sich immer noch auf Ihre Erfahrung rückbesinnen und verstehen, was Sie mit Ihrer Formulierung gemeint haben. Doch das Leben geht weiter, die Zeit vergeht, die einst formulierten Gebote und Verbote bleiben aber unverändert. Sie sind an einem anderen Punkt angelangt, Sie würden Ihre Verpflichtungen nun nicht mehr in derselben Weise ausdrücken. Da stehen sie aber, fest und unverrückbar, diese Gebote und Verbote, und sie haben zu Ihrem tiefsten Zugehörigkeitsgefühl keinen Bezug mehr. Wenn dies geschieht, dann verkommt die Moral zum Moralismus.
So wie wir zwischen Dogma und Dogmatismus unterschieden haben, können wir auch zwischen Moral und Moralismus trennen.
Die Moral ist der Ausdruck unserer Verpflichtungen aus dem letzten Verbundenheitsgefühl heraus. Die Formulierung dieser Verpflichtungen neigt dazu, sich zu verfestigen, solange bis sich die Moral selbst verfestigt. Der Unterschied ist da, der Bezug zur Erfahrung fehlt. Es kann sogar zum Widerspruch mit der lebendigen Erfahrung der Verbundenheit kommen. Je mehr Sie mit formalisierter Religion zu tun gehabt haben, umso mehr Beispiele können Sie dafür anführen, wie die Moral im Widerspruch zu dem steht, was eben die Religion predigt.
Um Moralismus zu verhindern, müssen Sie ständig zu der Erfahrung an der Wurzel einer jeden Religion zurückkehren.
Die Moral muss nach Ihrer mystischen Erfahrung beurteilt werden.
Das ist aber nur die eine Hälfte. Das mystische Erlebnis muss — wenn Sie es wirklich rein bewahren wollen — nach der Moral beurteilt werden. Die Konfrontation ist also in beiden Richtungen wirksam. Wenn Sie über ein gesundes spirituelles Leben verfügen wollen, müssen Sie dieses Zusammenspiel zulassen.
Es gibt einen dritten Bereich, in dem die Religion der mystischen Erfahrung entspringt, nämlich den rituellen Bereich. Es gibt keine Religion auf dieser Welt, die nicht irgendeine Lehre verkündet, keine, die nicht irgendwelche moralische Regeln setzt, und ebenso keine, die nicht über irgendwelche Rituale verfügt.
Wieso bringt aber die mystische Erfahrung ein Ritual hervor?
So wie der Intellekt die Erfahrung interpretiert und der Wille die Hingabe an sie zulässt, so zelebrieren Ihre Emotionen, Ihre Gefühle diese Erfahrung, und an diesem Punkt entsteht das Ritual.
Das Ritual ist in erster Linie ein Zelebrieren des grenzenlosen Zugehörigkeitsgefühls.
Überprüfen Sie dies anhand Ihrer eigenen Erfahrung.
Manche Rituale da draußen, in den traditionellen historischen Religionen, mögen bizarr anmuten. Doch vielleicht zelebrieren Sie alle Jahre wieder eine tiefe spirituelle Erfahrung. Nun, dann haben Sie einen rituellen Kalender, so wie die meisten Religionen. Vielleicht kehren Sie ständig an den Ort zurück, an dem diese Erfahrung Sie überwältigt hat. Nun, dies ist dann das Ritual des Pilgerns. Angenommen, Sie haben dieses Erlebnis an einem Strand gehabt, dann ist jeder Strand auf dieser Welt nun ein heiliger Ort für Sie, weil er Sie immer an diese Erfahrung denken lässt. Auch ein Baum kann auf diese Weise für Sie ein heiliger Baum werden. Das Ritual ‒ das lebendige Ritual ‒ ist die Zelebrierung des mystischen Erlebnisses. Es ist ein Gedenken an dieses Erlebnis. Das Ritual kann aber zum Ritualismus verkommen. Dies geschieht immer dann, wenn die rituelle Handlung Sie nicht mehr zu der ursprünglichen Erfahrung zurückbringt, sondern Selbstzweck wird. Sie wissen den Grund für das Ritual nicht mehr, Sie absolvieren es nur. So haben Sie es schon immer gemacht, so soll es gemacht werden und so führen Sie es auch aus. Es bedeutet überhaupt nichts für Sie. Das ist Ritualismus.
Das Ritual im eigentlichen Sinn aber ist dazu gedacht, Sie immer wieder zurückzuführen, nicht nur zu einem Ereignis in der Vergangenheit, sondern zu Ihrer ureigenen mystischen Erfahrung.
Ein Bild, das ich manchmal verwendet habe, um die Beziehung zwischen der mystischen Erfahrung und der religiösen Tradition zu veranschaulichen, ist das eines Vulkanausbruchs. Da ist das heiße Magma, das aus den Tiefen der Erde emporschießt und dann an den Seiten des Vulkans herabfließt. Je länger es fließt, desto mehr kühlt es sich ab, und je mehr es sich abkühlt, desto weniger erinnert es an den ursprünglichen feurigen Zustand. Am Fuße des Berges finden wir dann lediglich übereinander gelagerte Felsschichten. Niemand würde denken, dass diese einst weißglühend waren. Da kommt nun aber der Mystiker. Er bohrt ein Loch durch die übereinander gelagerten Felsschichten, bis das Feuer, das ursprüngliche Feuer, wieder emporschießt. Da jeder von uns ein Mystiker ist, besteht darin unsere Aufgabe. Doch sobald wir zu dieser Verantwortung gereift sind, prallen wir unweigerlich mit der Institution zusammen.
Die Frage lautet: ‹Besitzen wir die Gnade, die Stärke und den Mut, unsere prophetische Aufgabe auf uns zu nehmen?›]
______________________
[1] Apophatisch (von apo = weg, phatis = Rede, Wort) und kataphatisch (kata = hinab) sind zwei Wege der Spiritualität ohne Rede und Wort, der andere mit Rede und Wort. Die kataphatische Spiritualität «ist auf das reine, leere Bewusstsein hin orientiert. Inhalte werden als Hindernis angesehen. Solange das Bewusstsein an Bildern oder Konzepten festhält, ist es noch nicht dort, wo die eigentliche Erfahrung Gottes möglich ist. Bilder und Vorstellungen verdunkeln das Göttliche mehr, als dass sie es erhellen. Sie sind Glasfenster, die vom Licht, das dahinter leuchtet, erhellt werden. Wer das Licht sehen will, muss hinter die Glasfenster schauen. Alle Religionen haben auch Wege gesucht und gelehrt, die in die wortlose Erfahrung dessen führen wollen, was die Heiligen Schriften verkünden.» (Willigis Jäger, «Suche nach der Wahrheit: Wege ‒ Hoffnungen ‒ Lösungen», Verlag Via Nova, Petersberg 20054, 199)
[2] Im Buch steht «Ethik», die genaue Wiedergabe von «ethics» in der amerikanischen Originalausgabe «The Mystical Core of Organized Religion» (1990). Bruder David verwendet das Wort Ethik heute analog wie Religiosität im Unterschied zu den Religionen: Ethik ist unsere Verantwortung vor dem großen DU, dem Anruf des Lebens Augenblick für Augenblick. Die in Sätze, Verhaltensvorschriften gefasste Ethik, nennt er lieber «Moral». Siehe Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (26:28 und 30:26) und in Ergänzend: 3.1. aus dem Buch Orientierung finden (2021), 67:
«Ja, so möchte ich leben, in der Freude völliger Zugehörigkeit aller zu allen! In diesem ‹Ja›, mit dem unser Wille sich auf Zugehörigkeit ausrichtet, liegt der Keim jeder Moral. Unter Moral verstehen wir hier die Form, in der die Ethik sich in einer bestimmten Kultur ausdrückt.»
[3] Ebenso korr.
[4] Ebenso korr.
[5] LEHRE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 147:
«Lehre ist ‒ zusammen mit Moral und Ritualen ‒ ein Bestandteil jeder Religion. Sie wendet sich an den Verstand und versucht, Einsichten allgemein menschlicher Religiosität in einer Sprache auszudrücken, die für die gegebene Kultur zur Zeit der Religionsgründung verständlich und überzeugend war. Wenn zu späteren Zeiten diese Sprache unverständlich wird, muss die gegebene Religion versuchen, sie in eine zeitgemäße Ausdrucksweise zu übersetzen, damit sie ihre Überzeugungskraft behält. Es ist von größter Wichtigkeit zu beachten, dass religiöse Einsichten nur in der Sprache der Dichtung annäherungsweise ausgedrückt werden können. Das ist ein Unterscheidungsmerkmal religiöser und wissenschaftlicher Aussagen.»
MORAL, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 151:
«Moral ist ‒ zusammen mit Lehre und Ritualen ‒ ein Bestandteil jeder Religion. Sie wendet sich an den Willen (im Sinne unsrer Willigkeit) und versucht, Werte allgemein menschlicher Ethik so darzustellen, dass sie der gegebenen Kultur zurzeit der Religionsgründung moralisch verpflichtend werden. Wenn sich zu späteren Zeiten die kulturellen Gegebenheiten ändern, wird die gegebene Religion versuchen müssen, neu entstandene ethische Probleme einzubeziehen, damit ihre Moral weiterhin als Leuchtturm für ethisches Verhalten dienen kann.»
RITUAL, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 152f.:
«Ritual ist ‒ zusammen mit Moral und Lehre ‒ ein Bestandteil jeder Religion. Rituale wenden sich an das Gefühl und versuchen Erlebnisse allgemein menschlicher Erfahrung ‒ Begegnungen mit dem Geheimnis ‒ so darzustellen, dass sie der gegebenen Kultur zur Zeit der Religionsgründung erlaubten, diese Erfahrungen als gegenwärtige Wirklichkeit zu feiern. Wenn zu späteren Zeiten die alten Rituale nicht mehr mit Begeisterung nachvollziehbar sind, muss die gegebene Religion versuchen, sie durch neue, zeitgemäße Formen zu ersetzen, damit sie ihre Begeisterungskraft beibehalten.»
[6] Ebenso korr.
[7] Nach einer unveröffentlichten Übersetzung ins Englische, mit freundlicher Erlaubnis von Coleman Barks und John Moyne, deren Band mit Übersetzung Rumis den Titel trägt «This Longing», Putney (Vermont) 1988.
[8] Video Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
(43:06) Worum geht es im Leben letztlich? Die Antwort des Heldenmythos (43:35) Der Weg des Helden in drei Phasen: Ausgesondert werden – Verwandlung durch den Tod – Rückkehr als Lebensbringer für die Gemeinschaft
Ebenso Audio Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
Vortrag (44:04)
[9] Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 10 «Der mystische Kern der organisierten Religion», 135-146
[10] Siehe Anm. 2
[11] Im Buch: Orientierung finden (2021) «Das System ‒ die Macht, die Leben zerstört», 41:
«Das ‹System› kann nicht lächeln. Es kümmert sich um keinen Menschen. Ihm ist alles egal. Wir haben es ja mit einer völlig unpersönlichen Machtstruktur zu tun, obwohl sie wie von einem irrsinnigen Machthaber gesteuert erscheinen mag. In seinem Wesen ist das ‹System› uneingeschränkte Unpersönlichkeit ‒ Inbegriff eines leeren Nichts mit mörderischer Macht. Wo es eindringt, zerstört es das Bewusstsein gegenseitiger Zugehörigkeit und die Anerkennung persönlicher Einzigartigkeit ‒ die beiden Voraussetzungen von Menschenwürde. Sich gegen das ‹System› aufzulehnen, heißt also ‒ kurz und positiv auf eine Formel gebracht ‒ für Menschenwürde einzutreten. Menschenwürde entspringt letztlich der Ehrfurcht vor dem Geheimnis.»
[12] Siehe Anm. 1
Religionen ‒ drei Innenwelten
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Da jede religiöse Tradition Ausdruck der ewigen Suche des menschlichen Herzens nach Sinn ist, zeichnen diese drei Aspekte des Sinns ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ auch die Weltreligionen aus.
Alle drei stecken in jeder Tradition, weil sie für den Sinn wesentlich sind, aber wir können damit rechnen, dass sie unterschiedliche Schwerpunkte setzen.
In den Urreligionen ‒ zum Beispiel der Einwohner Afrikas oder Ureinwohner Amerikas ‒ werden unsere drei Sinn-Aspekte immer noch ziemlich gleichstark betont und in Form von Mythen, Ritualen und Anweisungen zum richtigen Leben miteinander verwoben.
Aber mit dem Herauswachsen der westlichen Traditionen Judentum, Christentum und Islam und des Buddhismus und Hinduismus aus der Urmatrix der Religion wurde die Betonung jeweils stärker auf Wort, Schweigen oder Verstehen gelegt; allerdings spielen in jeder Tradition immer auch alle diese drei Elemente ihre Rolle.
Ich möchte mit meiner eigenen Tradition ‒ der christlichen ‒ anfangen, um ein (notwendigerweise nur grobes) Schema zu skizzieren, das uns helfen könnte, die Vielfalt der religiösen Traditionen ermessen und ihre Beziehung zueinander schätzen zu lernen.
Man braucht sich keine große Mühe zu geben, um zu sehen, wie stark im Christentum ‒ ja in der ganzen biblischen Tradition ‒ die Betonung auf dem Wort liegt.
Gott sprach und die Welt wurde erschaffen.
Das ist eine mythische Art und Weise, die Weltsicht der Bibel zum Ausdruck zu bringen:
Alles, was existiert, lässt sich als Wort Gottes verstehen. Diese Vorstellung ist derart zentral, dass man zu Recht sagen könnte, die Religionen Judentum, Christentum und Islam seien alle drei wie in einem Samenkorn in der Aussage «Gott spricht» enthalten.
In einer der chassidischen Erzählungen, die Martin Buber überliefert hat, kommt recht deutlich zum Ausdruck, welchen Vorrang in der westlichen religiösen Tradition das Wort hat.
Von Rabbi Sussja, einem der großen chassidischen Mystiker, wird erzählt, er sei nicht imstande gewesen, sich die Predigten seines Lehrers zu merken. In der Erzählung wird dieses bedenkliche Unvermögen folgendermaßen erklärt:
Rabbi Sussjas Lehrer hatte die Gewohnheit, vor seinen Predigten immer zuerst einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift vorzulesen. Der Lehrer begann also damit, die Tora-Rolle aufzurollen, «Und Gott sprach» zu sagen und dann mit Lesen zu beginnen.
Aber an diesem Punkt ‒ als der Lehrer erst gesagt hatte: «Und Gott sprach» ‒ hatte der arme Rabbi Sussja bereits mehr gehört, als er aushalten konnte. Er begann sich so wild zu gebärden, dass man ihn aus der Synagoge führen musste. Da stand er dann im Flur oder im Holzschuppen und schrie: «Und Gott sprach! Und Gott sprach!» Das reichte ihm schon.
Martin Buber vermutet, dass Rabbi Sussja den Sinn von Gottes Wort tiefer als alle diejenigen verstand, die sich den Inhalt der Predigten ihres Lehrers merken konnten. Er schreibt: «Mit einem Worte kann man die Welt erheben, mit einem Worte kann man die Welt entsühnen.[1] [Auf dem Weg der Stille (2016), 30-32]
Genau wie das Wort den Kern der abendländischen Tradition ausmacht, ist ja das Schweigen der Kern des Buddhismus [Bruder David im Video: Wort und Stille (2019)]:
Nirgends kommt das deutlicher zum Ausdruck als im Bericht von der großen wortlosen Predigt des Buddha. Kann es denn eine Predigt ohne Worte geben?
Der Buddha hielt einfach nur eine Blume in der Hand.
Es heißt, lediglich einer seiner Jünger habe verstanden.
Aber wie konnte dieser ohne ein Wort beweisen, dass er verstanden hatte?
In der Erzählung heißt es, er habe gelächelt.
Der Buddha lächelte zurück und im Schweigen zwischen ihnen beiden ging die Tradition vom Buddha auf seinen ersten Nachfolger über, nämlich dem Jünger, der verständnisvoll gelächelt hatte.
Uns wird erzählt, dass seit damals die Tradition des Buddhismus immer im Schweigen weitergegeben wird.
Oder um es richtiger zu sagen: Was weitergegeben wird, ist das Schweigen.
Das heißt durchaus nicht, dass die Buddhisten kein heiliges Wort hätten; aber der Schwerpunkt liegt bei ihnen ganz auf dem Schweigen.
Tatsächlich sind ihre heiligen Schriften derart umfangreich, dass man einen ganzen Tag lang brauchen würde, um sie nur einmal durchzublättern. In buddhistischen Klöstern tut man das rituell und mit großer Ehrfurcht mindestens einmal jährlich.
Aber dennoch kann ein guter Buddhist angesichts all dieser Schriften sagen: «Verbrennt sie alle!» Natürlich wird sie niemand verbrennen. Das ist also recht bezeichnend.
Doch schon allein die Aufforderung, sie alle zu verbrennen bringt die tiefe Überzeugung zum Ausdruck, dass dem Schweigen keine Worte im Weg sein dürfen.
Aus dem gleichen Grund können Buddhisten auch sagen: «Wenn du unterwegs dem Buddha begegnest, töte ihn!»
Ein mir bekannter katholischer Priester, der von der allgemeinen Gültigkeit dieser buddhistischen Einsicht überzeugt war, versuchte das seinen Gemeindemitgliedern zu erklären und formulierte: «Wenn du Christus begegnest, töte ihn!» Mit dieser Predigt kam er ‒ verständlicherweise ‒ nicht recht an, obwohl sich diese gleiche Einsicht, wenn auch weniger stark ausgedrückt, zum Beispiel auch im Johannesevangelium findet.
Wir müssen einfach die Tatsache respektieren, dass die Christen bei ihrer Sinnsuche sich so hartnäckig dem Wort widmen wie die Buddhisten dem Schweigen. [Auf dem Weg der Stille (2016), 34-36]
«Yoga ist Verstehen», sagt Swami Venkatesananda aus tiefer Einsicht in das, was den Hinduismus ausmacht.
Genau wie sich Juden, Christen und Muslime bei ihrer Sinnsuche auf das Wort konzentrieren und die Buddhisten auf das Schweigen, so konzentrieren sich Hindus auf das Verstehen.
Es sei an das erinnert, was hier schon über das Verstehen gesagt wurde: Es ist der Prozess, in dessen Verlauf das Schweigen ins Wort findet und das Wort ins Schweigen heimfindet.
Das liefert uns den Schlüssel zur zentralen Intuition des Hinduismus: Atman ist Brahman ‒ der manifeste Gott (das Wort) ist der nichtmanifeste Gott (das Schweigen) ‒ und Brahman ist Atman ‒ das göttliche nicht Manifeste (das Schweigen) ist das manifeste Göttliche (das Wort).
Zu wissen, dass das Wort Schweigen ist und das Schweigen Wort ‒ unterschieden, aber ungetrennt und untrennbar verbunden, jedoch ohne Vermischung ‒, das ist Verstehen.
Das Sanskrit-Wort Yoga und das englische Wort yoke («Joch») haben die gleiche sprachliche Wurzel, die «verbinden» bedeutet. Yoga in allen seinen verschiedenen Formen ‒ Dienst, Einsicht, ‒Frömmigkeit usw. ‒ ist die Handlung, bei der Wort und Schweigen durch Verstehen miteinander verbunden werden.
Im Hinduismus weiß man, dass dieses Verstehen nur durch Tun zustande kommt.
In der Bhagavad-Gita wird Prinz Arjuna mit einem Rätsel konfrontiert, das er wahrscheinlich gar nicht lösen kann. Der Glaube hat ihn in eine Situation gebracht, in der es seine Pflicht ist, eine gerechte, aber grausame Schlacht gegen seine eigenen Verwandten und Freunde zu führen. Wie kann ein friedliebender Prinz dieses Dilemma sinnvoll lösen? Sein Wagenlenker, der als Krishna verkleidete Gott Vishnu, kann ihm nur den Rat geben: Tu deine Pflicht, und im Tun wirst du verstehen. [Auf dem Weg der Stille (2016), 37-39]
Zugegeben, dies alles stelle ich aus meiner eigenen Sicht vor, die christlich ist. Aber welche andere Wahl hätte ich denn?
Würde ich versuchen, völlig von meiner eigenen religiösen Sinnsuche abzusehen, so würde ich die Berührung mit genau der Wirklichkeit verlieren, die ich genauer erkunden möchte.
Ich wäre dann wie der Junge, der seinen Zahn in die Hand nimmt, nachdem ihn der Zahnarzt gezogen hat, etwas Zucker darauf streut und abwartet, wie das wehtut. Schmerz kann man nicht von außen her verstehen und genauso wenig Freude, Leben oder Religion.
Es ist nichts Falsches daran, wenn man vom Inneren einer Tradition her spricht, solange man nicht seine eigene Sichtweise verabsolutiert, sondern diese in ihrer Beziehung zu allen anderen sieht.
Hier sei an das früher über unsere Gipfelerfahrungen Gesagte erinnert, also über unsere kurzen Augenblicke des Aufblitzens von Sinn und unseren spontanen Ausruf:
«Das ist es!»
Die christliche Sichtweise verrät sich dadurch, dass sie das erste Wort dieses kurzen Satzes betont:
«Das ist es!»
Die Begeisterung über die Entdeckung, dass «Gott spricht» und dass alles Wort Gottes ist, lässt uns immer und immer wieder ausrufen:
«Das ist es!», und immer wieder «Das ist es», sooft uns ein weiteres Wort verblüfft, das Sinn offenbart.
Im Buddhismus ist das anders. Die Buddhisten verblüfft nämlich stattdessen das große Schweigen, das in einer so großen Vielzahl und Verschiedenheit von Worten zu Wort kommt.
Deswegen ruft der Buddhist aus:
«Das ist es!»; und das und das und das, jedes einzelne aller dieser Worte ist immer es, ist immer das eine große Schweigen.
Außerdem brauchen wir den Hinduismus, um uns daran zu erinnern, dass das, worauf es wirklich ankommt, ist, dass dies es ist ‒ das Wort Schweigen ist und Schweigen das Wort ist ‒ und darin das wahre Verstehen liegt.
Diese Sichtweisen ergänzen einander also gegenseitig.
Indem wir andere Sichtweisen schätzen, lernen wir die unsrige weiten, ohne sie zu verlieren.
In Wirklichkeit vertieft sich durch den Kontakt mit anderen für uns das Verständnis unserer eigenen Tradition.
So könnten Christen zum Beispiel das Geheimnis des dreieinigen Gottes im Muster von Wort, Schweigen und Verstehen gespiegelt sehen.
Gott, den Jesus «Vater» nennt, lässt sich auch als der mütterliche Schoß des Schweigens verstehen, aus dem vor aller Zeit das ewige Wort geboren wurde, indem durch Gottes Selbst-Verständnis das Schweigen zu Wort kam.
Das Wort wiederum, also der Sohn, führte gehorsam den Willen des Vaters aus, und indem er das tat, kehrte er durch das Verstehen, das vollkommene Liebe ist, also durch den Heiligen Geist, zu Gott zurück.
Erinnern wir uns an die Metapher des heiligen Gregor von Nyssa für die wechselseitige Bezogenheit der Dreifaltigkeit.
Tatsächlich hat man sich ab der Zeit der kappadokischen Väter, dieser großen Kirchenlehrer des 4. Jahrhunderts, bis zu den Shakern im 19. Jahrhundert in der christlichen Tradition diese innertrinitarischen Beziehungen wie einen großen Reigentanz vorgestellt.
Christus, der große Anführer des kosmischen Tanzes, sprang vom himmlischen Thron, «während tiefes Schweigen alles umfing» (Weish 18,14), und tanzend führt er die gesamte Schöpfung in der Kraft des Heiligen Geistes zu Gott zurück. [Auf dem Weg der Stille (2016), 39-41]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 9f.
1.2. Audio-Vortrag Das Gottesbild des modernen Menschen (2009)
Teil 2:
(20:41) Sinn finden in den drei Bereichen: Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen / (24:00) Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen in den Weltreligionen: Das Wort ‚Amen‘, die Antwort auf die ‚amunah‘, die Verlässlichkeit Gottes, in den westlichen Amen-Traditionen Judentum, Christentum und Islam / (25:21) Das Schweigen im Buddhismus und das Verstehen im Hinduismus / (33:10) Die drei Bereiche der Sinnsuche, die drei Ausformungen der Religionen und die drei Gebetsformen eröffnen ein nachvollziehbares Verständnis des dreifaltigen Gottes in der Praxis dankbaren Lebens im Unterschied zum Pantheismus
1.3. Audio-Vortrag Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(35:56) Die unterschiedliche Betonung von Wort – Schweigen – Verstehen durch Tun in den verschiedenen Weltreligionen: Zunächst die Ausrichtung auf das Wort in den Amen-Traditionen Judentum, Christentum, Islam: Rabbi Sussja in der Deutung von Martin Buber und einem Axiom von Thomas von Aquin / (40:31) Das Schweigen im Buddhismus: Die Blumenpredigt des Buddha / (44:19) Das Verstehen durch Tun im Hinduismus: ‚Yoga ist Verstehen‘ (Swami Satchidananda) und der Prinz Arjuna in der Bhagavad Gita – ‚Wer bereit ist, den Willen Gottes zu tun, wird erkennen‘ (Joh 7,17) – ‚Du wirst nur durch die Tat erfasst‘ (Rilke)
(47:55) Die Traditionen schließen einander ein: Man kann nicht Christ sein ohne zugleich auch Buddhist und Hindu zu sein – Wie die Religionen einander ergänzen: Das ist es in drei verschiedenen Betonungen – Gott verstehen als den Unerkenntlichen (Dionysius Areopagita) / (51:31) Der himmlische, überirdische, außerzeitliche Reigentanz der Dreieinigkeit Gottes gespiegelt im Reigentanz der Religionen – Der Blickwinkel der Außenstehenden auf einen Kreistanz im Unterschied zu jenen, die drinnen sind
2. Weitere Texte
2.1. In Meine wichtigste Erfahrung in der Begegnung mit anderen Religionen (2018) fasst Bruder David zusammen, wie wir ‒ ausgehend von unserer Sinnfindung ‒ die Vielfalt der religiösen Traditionen, die drei Innenwelten des Gebetes und des Geheimnisses der Dreifaltigkeit in einer Zusammenschau erfahren können, wenn uns der essentielle Zusammenhang wie auch der Unterschied von Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen durch Tun in seiner Dichte und Fülle aufgeht.
2.2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 159-162:
Bruder David beendet das Seminar mit einem Schlussakkord, in dem alle spirituellen Traditionen der Welt mit ihrem eigenen Ton mitschwingen.
2.3. Im Vortrag An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):
«Das Gottesbild, das jetzt auftaucht und sich hier entfaltet, ist nicht mehr ausschließlich auf Überlieferung gegründet, sondern weitgehend auf persönliche Erfahrung. Und in diesem Gottesbild, in einem ganzheitlichen Bewusstsein, ist Gott ‹mir näher, als ich mir selber bin›.
Worum handelt es sich bei dieser Ur-Erfahrung? ‒ das ist unsere erste Frage. Und die zweite ist, wie drückt sich dann diese Ur-Erfahrung in den Religionen aus? Die dritte ist ganz praktisch, wie können wir diesem Ziel unserer religiösen Ur-Sehnsucht näherkommen?»
2.4. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67
In diesem Vortrag geht Bruder David grundlegend ein auf die drei Dimensionen Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen im Tun in denen wir Sinn erfahren. Bruder David führt uns ein in eine innere Schau, mit der wir die Unterschiede wie auch die Gemeinsamkeiten aller religiösen Traditionen erfassen können:
«Wir werden uns also bemühen müssen um ein tieferes Verständnis menschlichen Sinnstrebens in dem dreifachen Zusammenhang von Wort, Schweigen und Ergriffenheit[2]. Wir werden dadurch sehen, wie alles das hinzielt auf das innerste Geheimnis des Christentums, nämlich das Geheimnis der Trinität. Und erst von dort, von unserem eigensten Zentralgeheimnis aus können wir hoffen, irgendwie zu verstehen, dass andere Traditionen der Menschheitsgeschichte ebensosehr im Schweigen das Zentrum ihrer Sinnsuche finden oder in der Ergriffenheit, wie wir es im Wort finden.» (16f.)
«Es ist daher auch klar, dass keine dieser Traditionen die andere ausschließt. Man kann nicht einmal sagen, dass die drei sich gegenseitig ergänzen, sie sind vielmehr interdimensional miteinander. Wenn man die eine hat, hat man auch schon die anderen.»
(S. 50)
Bruder David schließt mit den Worten: «Um Offenbarung zu verstehen, müssen wir in die Offenbarung eintreten; müssen dem Logos als Anführer des Reigens[3] folgen; müssen uns in liebender Ergriffenheit durch das Wort in das Schweigen führen lassen und aus dem Schweigen heraus gehorsam werden. Unser Thema geht über bloß akademisches Bemühen weit hinaus. Um im Wort der Offenbarung Sinn zu finden, müssen wir etwas tun ‒ das Wichtigste und zugleich das Schwerste ‒: uns dem Wort des Lebens stellen und ‒ mittanzen.» (67)]
__________________________
[1] Martin Buber, «Die Erzählungen der Chassidim», Zürich 1949, 375
[2] Ergriffenheit im Unterschied zum Begreifen ist Verstehen in Ergriffenheit, liebendes Verstehen im Tun: «Was geschieht denn eigentlich, wenn wir verstehen? Wir hören ein Wort, öffnen uns dem Wort, stellen uns diesem Wort; das Wort ergreift uns, ergreift uns bis zur Sprachlosigkeit, wenn es uns wirklich zutiefst ergreift, und führt uns dadurch in das Schweigen. Verstehen ist also ein dynamischer Vorgang, der Wort und Schweigen miteinander verbindet.» (49f.)
[3] «Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen. Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens. Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz. Hier liegt die Vorrangstellung der Offenbarungstradition im Gefüge der religiösen Traditionen: Vorrangstellung hinsichtlich des Wortes. Im Buddhismus Vorrangstellung hinsichtlich des Schweigens. Im Hinduismus Vorrangstellung hinsichtlich der Ergriffenheit. Und die drei beinhalten einander.» (66)
Religionen und heiles Gottesbild
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Die Menschheit kann sich in Zukunft kein Gottesbild mehr leisten, das Menschen voneinander trennt.
Die Vorstellung von einem Gott, den ein Abgrund von uns trennt, führt unvermeidlich zu Spaltungen, die uns Menschen voneinander trennen.
Die große Herausforderung unserer Zeit ist es, über bloße religiöse Toleranz hinauszugehen.
Es genügt nicht mehr, miteinander unverträgliche Gottesbilder nebeneinander stehen zu lassen.
Wir brauchen ein Gottesbild, das uns verbindet.
Die Mystiker aller religiösen Traditionen haben Zugang gefunden zu einer Wirklichkeit, die nicht nur den Einzelnen ganz macht, sondern uns alle vereinigt. Religionskriege sind ja nicht Kriege zwischen spirituellen Menschen, sondern zwischen religiösen Ideologien und Institutionen.
Die Zeit ist gekommen für spirituelle Menschen, innerhalb dieser Institutionen ihre Einheit zu finden und zu feiern. Die Institutionen werden sich mit dieser Tatsache abfinden müssen oder aus Irrelevanz zugrunde gehen.
Ist es aber nicht höchst unwahrscheinlich, dass wir jemals ein Gottesverständnis finden könnten, das die Konfessionen übersteigt und verbindet?
Dieses Gottesverständnis gibt es schon und wir können es jederzeit entdecken, indem wir auf unsere innere Erfahrung achten und auf das Mehr, das unserem Leben Sinn gibt.
Wir stoßen auf dieses Mehr, wenn wir die drei großen Fragen stellen, die uns als Menschen kennzeichnen:
Menschen aller Zeiten und Zonen fragen: «Was ist wirklich wirklich» und begegnen dabei einem Geheimnis, das wirklicher ist als alles, was es gibt ‒ dem unerschöpflichen «Es», das wir aus der Wendung «es gibt» kennen.
Menschen fragen immer und überall: «Wer bin ich?» und stoßen auf das Mehr in der Tiefe ihres eigenen Herzens, ein Mehr, das Gedanken nicht ausloten und Worte nicht ausdrücken können.
Die dritte Frage lautet: «Worum geht es im Leben?»[1]
Wir finden die Antwort in einem unerschöpflichen Mehr an Liebe und Leben, an dem unser eigenes Lieben und Leben teilnimmt.
Unser geistiges sowie unser physisches Gesundsein hängt davon ab, dass wir uns auf die Antworten zu diesen letzten Fragen einlassen ‒ Antworten, die wir nicht in Worte fassen können.
Das Mehr, in das wir durch diese Fragen eintauchen, durchdringt unser ganzes Dasein und übersteigt es zugleich unendlich.
Die ursprüngliche Religiosität begegnet den drei Aspekten des Mehr als noch undifferenzierte heilige Gegenwart.
Die großen religiösen Traditionen der Welt entfalten sich aus dieser ursprünglichen Matrix, indem sie einen der drei Aspekte besonders beachten. (Raimundo Panikkar hat dies in vielen seiner Schriften eingehend aufgezeigt; ich kann es hier nur ganz kurz andeuten.)
Der Buddhismus beachtet mehr als alle andern spirituellen Traditionen den Abgrund des Schweigens, durch den wir das Mehr als Grund und Ursprung von allem, was es gibt, erfahren.
In seiner großen wortlosen Predigt hält Buddha einfach eine Blume hoch. Alle, die auf Worte warten sind enttäuscht. Der einzige, der versteht, zeigt dies, nicht durch Worte, sondern durch ein schweigendes Lächeln. Buddha, so wird uns berichtet, lächelt zurück und gibt so das Herzstück der buddhistischen Tradition an diesen, seinen Nachfolger weiter, schweigend.
Wie verschieden ist dies doch von den westlichen Traditionen: der jüdischen, christlichen und islamischen. Wenn wir ihnen die Worte wegnehmen, was bleibt übrig?
Viele im Westen wenden sich heute dem Buddhismus gerade deshalb zu, weil sie vor dem fliehen, was ihnen als leere Worte erscheint. Und doch weiß T. S. Eliot: «Words after speech reach into silence» ‒ «Nach dem Reden reichen Worte in das Schweigen hinein.»[2]
Auch das Wort kann durchsichtig werden für das Mehr.
Alle Dinge, Menschen und Situationen dürfen wir im weitesten Sinn als Worte verstehen, durch die das Schweigen spricht.
Das Mehr wird Wort in den «Amen-Traditionen» ‒ Judentum, Christentum, Islam ‒, die man so nennen kann, weil das Wort «Amen» ihnen gemeinsam ist.
Amen ist der Ausdruck menschlichen Vertrauens als Antwort auf die treue Verlässlichkeit der göttlichen Wirklichkeit.
Die Erfahrung von Wort, Horchen und Antworten öffnet die Möglichkeit einer persönlichen Beziehung zu dem Mehr ‒ zu Gott als persönlich mit uns verbunden (obwohl wir nicht in den Irrtum verfallen dürfen, Gott sei «eine Person»).
Wir dürfen uns selbst als Wort Gottes verstehen, als Wort von Gott ausgesprochen und zugleich angesprochen (Ferdinand Ebner).
Durch unsere Antwort werden wir erst zu dem Wort, als das wir gemeint sind. Das Selbstverständnis Jesu als eins mit dem «Vater» ist der Durchbruch auf eine neue Ebene menschlichen Selbstverständnisses und darf nicht auf Jesus beschränkt werden.[3]
Christliche Mystiker wussten dies und Thomas Merton fasste es zusammen, wenn er sagte: «Gott ist nicht jemand anders».
Wer immer mit dem Buddhismus vertraut ist, weiß, dass dort das Schweigen eine so zentrale Stellung einnimmt, wie das Wort in den westlichen Traditionen.
Wie der Hinduismus in dieses Schema passt, mag auf den ersten Blick nicht so deutlich sein.
Swami Venkatesananda gibt uns jedoch einen Schlüssel zum Verständnis, wenn er sagt: «Yoga ist Verstehen». Das deutsche Wort «Joch» kommt von derselben Wurzel wie Yoga.
Wort und Schweigen sind da zusammen gejocht im Verstehen.
Kommt Verstehen nicht immer dann zustande, wenn wir auf ein Wort so tief hinhören und ihm so innig gehorchen, dass es uns zurückführt in das Schweigen, aus dem es kommt?
Dieses Horchen und Gehorchen ist auch der springende Punkt in der Bhagavadgita: Arjunas verzweifelte Frage kann keine andere Antwort finden als im Tun.[4]
Nur im Tun verstehen wir wirklich.
Es gibt einen Aspekt des Mehr, den wir nicht erfahren können, außer wir handeln.
Das ist der Aspekt, auf den der Hinduismus hinzielt durch Yoga in allen seinen Formen.
In einem heilen spirituellen Leben ‒ der Grundlage für körperliches Heilsein ‒ finden wir Zugang zu dem unerschöpflichen Mehr auf diesen drei Pfaden ‒ Schweigen, Wort und Verstehen.
Die frühchristliche Tradition drückte diese mystische Erfahrung aus, indem sie Gottes Einheit als Vater, Sohn und Heiligen Geist bekannte. Dies ist ein panentheistisches Gottesverständnis, das sich vom Pantheismus (alles ist Gott) durch die Silbe en (= in) unterscheidet.
Gott ist in allem und alles ist in Gott ‒ in dem Mehr, das immer noch mehr ist als alles.
Die theistische Vorstellung von Gott als dem absolut Anderen war aber so tief eingegraben in der westlichen Mentalität (und so vorteilhaft für die Machthaber), dass diese wilde wundervolle Gottesanschauung gezähmt werden musste.
Christliche Theologen vergegenständlichten die mystische Erfahrung von Gott als dreieinig und projizierten sie auf den theistischen «Gott da draußen». Die Zeit war noch nicht reif.[5]
Heute jedoch können wir diese Projektion zurücknehmen und dürfen uns so das trinitarische Gottesbild wieder zu eigen machen.
Die Trinität Gottes ist ja kein christliches Monopol, sondern vielmehr ein Modell, das der Mystik aller Traditionen vertraut ist.[6]
Dieses Gottesverständnis lässt jeder spirituellen Tradition ihre eigene Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit, ermutigt sie aber zugleich, von den andern zu lernen, da diese einen anderen Aspekt des unerschöpflichen Mehr in den Mittelpunkt stellen.
Nur wenn wir uns weltweit gemeinsam darum bemühen, dürfen wir hoffen, zu einem heilen und heilenden Gottesverständnis vorzustoßen.
[Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis, in: «MYSTIK ‒ Spiritulität der Zukunft: Erfahrung des Ewigen» (2005), 80-83]
[Ergänzend:
1. Beitrag von Bruder David in der Zeitschrift «Christ in der Gegenwart» Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):
«Mitte der sechziger Jahre hatte ich die Erlaubnis bekommen, für längere Zeit mit Mönchen anderer Traditionen zu leben, besonders mit Buddhisten und Hindus. Bei diesem Experiment, das damals noch völlig neu war, zeigte sich etwas Erstaunliches: Mönche weit auseinanderliegender Traditionen fanden, dass sie in ihrem innersten mönchischen Streben eins waren; allen ging es um das Gleiche, um ‹die persönliche Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit›.
Das wurde uns so klar, dass selbst die Weigerung der Buddhisten, das Wort ‹Gott› zu verwenden, die Einsicht nicht trüben konnte, dass wir alle mit derselben Wirklichkeit Erfahrungen machten.
Zugleich wurde uns bewusst, dass eine Tradition sich von der anderen dadurch unterschied, dass ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt derselben Wirklichkeit gerichtet ist.
So sehen Buddhisten die letzte Wirklichkeit vor allem als jenes namenlos Unaussprechliche, das Ursprung und Ziel allen Daseins ist und als existenzielles Schweigen erlebt wird.
Für Juden, Christen und Muslime steht dagegen im Zentrum des Blickfeldes das Wort (im weitesten Sinn), die Wirklichkeit, in der sich das letztlich Unsagbare doch ausspricht und so für uns und in uns gegenwärtig wird.
Für den Hindu ist von letzter Bedeutung das Verstehen, das im Tun zu sich selbst kommt.»
2. Text zum Thema: «Gott ‒ das geheimnisvolle ‹Mehr-und-immer-mehr›»:
2.1. Im Buch Orientierung finden (2021), 58f.:
«…denn hinter allem, was uns im Leben begeistert, steckt stets mehr: das ‹Mehr›, das wir Geheimnis nennen. Deshalb kann die große Theologin Dorothee Sölle (1929-2003) Gott ‹das Mehr› nennen ‒ das ‹Mehr-und-immer-mehr›, könnten wir sagen.
Wenn wir die Bezeichnung Gott in diesem Sinne anwenden, verweist sie auf das geheimnisvolle ‹Mehr›, das uns hinreißt, so oft uns Begeisterung erfasst. Spielverderber, die jede Begeisterung mit ihrem ‹Das ist ja nichts weiter als ...› zerstören, haben immer etwas Bedauernswertes an sich. Ihnen fehlt der Blick für das innerste Glänzen des Lebens und daher auch jener sprühende Enthusiasmus, den dieser Tiefblick auslöst.
Schon das aus dem Griechischen stammende Wort ‹Enthusiasmus› weist ja wörtlich auf den ‹Gott im Inneren› (‹en theos›) hin.
Auf Begeisterung kommt alles an bei unsrer Gottesbeziehung. Für Gläubige kann Begeisterung dürre Glaubenssätze zum Blühen bringen, aber auch Atheisten sind oft außerordentlich begeisterungsfähig. Zwar wird ein Atheist wahrscheinlich das «Mehr-und-immer-mehr» in jeder echten Begeisterung nicht Gott nennen wollen. Warum aber sollten wir uns auf ein Wort versteifen ‒ und gar auf das Wort Gott? Worte trennen uns oft; was uns verbindet, ist Erfahrung. Dass wir im Leben immer wieder dem ‹Mehr› begegnen, dem begeisternden Geheimnis, das wir ‒ wenn wir wollen ‒ ‹DU› und ‹Gott› nennen dürfen, das ist Erfahrungssache, nicht Projektion.»
2.2. Vortrag An welchen Gott können wir noch glauben (2008):
«Wir finden uns in der Unruhe unseres Herzens von einem unauslotbaren Geheimnis umgeben. Wir wissen nicht, woher wir letztlich kommen, wir wissen nicht, wohin wir gehen, wir sind rundum vom Geheimnis umgeben. Und je tiefer wir versuchen, dieses Geheimnis zu erfahren, umso mehr kommen wir in Geheimnisse hinein.
Dorothee Sölle, die große protestantische Theologin, spricht von Gott als MEHR, mehr und immer mehr, könnte man sagen, und nicht nur auf derselben Ebene, sondern in immer neuen Dimensionen. Und dieses Geheimnis, das uns umgibt, ist Nichts. Es ist nicht etwas, und in diesem Sinne nichts.
Es ist aber in keiner Weise ein leeres Nichts, sondern es ist das Nichts, das der Quellgrund und Mutterschoß von allem ist, was es gibt. Und es ist ein göttlicher Abgrund, aus dem die Fülle von allem kommt. Und die Fülle selbst ist wieder unausschöpflich. Und da ist unser eigenes Selbst eingeschlossen und daher sind wir uns selbst auch unauslotbar.
Dieses Mehr und immer Mehr, das das Göttliche bedeutet, ist in uns selbst.»
3. Audios / Text zu «Gott ist nicht jemand Anders.» — «God isn‘t somebody else.» (Thomas Merton):
Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(09:46) «Und das ist auch eine der großen Gefahren, wenn wir von Gott sprechen, dass man sich vorstellt: Das ist irgend Jemand, der von uns getrennt ist …»
TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 15
Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014)
Vortrag und Fragerunde, siehe auch Mitschrift, 12:
(55:46) «Denn der Irrtum, den wir unter allen Umständen vermeiden müssen, ist, dass wir irgendwie von Gott getrennt sind. Und drum ist dieses Wort ‹Gott› so gefährlich, weil: wenn‘s Gott ist, bin’s nicht ich. Und Thomas Merton hat ganz ausdrücklich, sehr treffend, gesagt: ‹Gott isn‘t somebody else› ‒ ‹Gott ist nicht ein Anderer›. Wenn man denkt: ich und Gott ‒ ein Anderer: schon falsch. Wir sind völlig eingetaucht in dieses Geheimnis und das Geheimnis ist völlig in uns: Das göttliche Geheimnis, wenn wir wollen.»
Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
Fragerunde nach dem Vortrag in der evangelischen Ludwigskirche in Freiburg (DE):
(12:24) «Wenn wir uns bewusst bleiben, dass es sich um eine Beziehung handelt, nicht um Jemanden, dann wird uns unsere Beziehung zu dem Göttlichen und zu Gott viel leichter. Thomas Merton hat das in einem sehr prägnanten Satz ausgedrückt …»
Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2019)
Gespräch:
(03:42) «Wir sind zu sehr gewohnt, Gott uns als Jemanden vorzustellen. Wir haben schon lange aufgegeben an Gott als den alten Mann auf dem Thron über den Wolken zu denken. Aber trotzdem denken wir immer noch: Gott ist jemand anders. Und einer der wichtigsten theologischen Sätze des 20. Jh. ist für mich ein Satz von Thomas Merton: ‹Gott ist nicht jemand Anders.›»
Retreat-Woche in Assisi (1989)
Paradoxien und Meilensteine:
(40:09) «Nun muss man da sehr vorsichtig sein, dass man aus Gott nicht eine Person macht. … Thomas Merton sagt das einmal so schön ‒ das ist ein ungeheuer tiefer theologischer Satz, den wir uns einprägen müssen: ‹Gott ist nicht jemand Anderer.›»]
_____________________
[1] Siehe auch: Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
Vortrag:
(19:28) Drei große Fragen wollen in eine Antwort hineingelebt werden / (22:18) Was ist der tiefste Grund von allem?
(31:58) Wer bin ich? – der Schöpfungsmythos antwortet mit drei Bestandteilen, die allen Schöpfungsberichten gemeinsam sind
(44:04) Worum geht es im Leben letztlich? – die Antwort des Heldenmythos
[2] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V, siehe Stillehalten
[3] «Jesus selbst sieht dieses Einssein mit Gott keineswegs als ein Privileg, das ihm allein zusteht. Er will dieses mystische Bewusstsein allen zugänglich machen. Im Johannes-Evangelium ist das so ausgedrückt: ‹Alle aber, die ihn aufnahmen, ermächtigte er, Gottes Kinder zu werden› (Joh 1,12). Und Paulus prägt immer neue Wortformen, um klar zu machen, dass wir alle ‹in› Christus am Leben Gottes Anteil haben.» [Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003)]; siehe auch: Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(38:49) Jesus: Ganz der Vater (Joh 1,18; 10,30) — ‹Die Weisheit hat ihr Haus gebaut› (Spr 8) — ‹Und allen, die an seinen Namen glauben, gab er Kraft, das zu werden, was er ist› (Joh 1,12)
[4] «In der Bhagavad-Gita wird Prinz Arjuna mit einem Rätsel konfrontiert, das er wahrscheinlich gar nicht lösen kann. Der Glaube hat ihn in eine Situation gebracht, in der es seine Pflicht ist, eine gerechte, aber grausame Schlacht gegen seine eigenen Verwandten und Freunde zu führen. Wie kann ein friedliebender Prinz dieses Dilemma sinnvoll lösen? Sein Wagenlenker, der als Krishna verkleidete Gott Vishnu, kann ihm nur den Rat geben: Tu deine Pflicht, und im Tun wirst du verstehen.»
[Auf dem Weg der Stille (2016), 38f.]; siehe auch: TAO der Hoffnung (1994)
Vortrag:
(36:08) Yoga ist Verstehen – Atman und Brahman – Krishna zu Arjuna in der Bhagavad Gita: Tu’s, dann wirst du verstehen
[5] «So unausrottbar war jedoch der Theismus, dass der geistige Durchbruch Jesu wie ein Leck im Boot verstopft wurde, um so schnell wie möglich den Status quo wiederherzustellen. Die Lehre Jesu musste uminterpretiert und dem theistischen Weltbild eingefügt werden. So wurde der Aspekt der göttlichen Wirklichkeit, den Jesus ‹Vater› nannte, um die intimste Lebensgemeinschaft auszudrücken, zu einer von uns unendlich abgetrennten Vatergottheit. … Wir dürfen, was sich da ereignete, als geistesgeschichtliche Katastrophe betrachten, es steht uns aber auch frei, es positiv zu sehen. Die westliche Welt war einfach noch nicht reif für die Botschaft Jesu.» [Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003)]
[6] «In vielen Gesprächen sagten mir nicht nur Christen, sondern auch Menschen, die dem Christentum fernstehen, dass die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes ihrer eigenen mystischen Erfahrung entspricht. Hier haben wir es mit Allgemeingut der Menschheit zu tun, weil es um mystische Einsichten geht, die allen Menschen zugänglich sind. Hindus, Buddhisten, ja Menschen, die sich als Agnostiker oder Atheisten bezeichnen, haben mir das bestätigt.» [Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003)]
Religiosität ‒ ethische Urquelle
Text, Video, Audios und Interviews von Br. David Steindl-Rast OSB
In seinem Buch, Ethik ist wichtiger als Religion richtet S.H. der Dalai-Lama einen Appell an die Menschheit, für den die Stunde geschlagen hat. Diesen Aufruf zu überhören, wäre gefährlich.
Allerdings hat das Buch auch zu Missverständnissen geführt. Diese lassen sich aber durch eindeutige Definitionen der verwendeten Begriffe klären.
Die wichtigste Klarstellung betrifft den Begriff Religion. Bedeutet er Religion als Religiosität, oder als eine der Religionen?
In den vielen verschiedenen Religionen drückt sich (mehr oder weniger erfolgreich) die eine, allen Menschen gemeinsame Religiosität aus ‒ «unsere elementare menschliche Spiritualität» nennt sie S.H. der Dalai-Lama, «eine in uns Menschen angelegte Neigung zur Liebe, Güte und Zuneigung ‒ unabhängig davon, welcher Religion wir angehören.»
Wir sprechen heute meist lieber von Spiritualität als von Religiosität, es handelt sich aber (unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten) um das Gleiche: um unsere Beziehung zur letzten Wirklichkeit.
Spiritualität - vom lateinischen spiritus, Lebensatem ‒ verweist auf die wache Lebendigkeit, die diese Beziehung kennzeichnet.
Religiosität - vom lateinischen re-ligare, wiederverbinden ‒ weist auf das Wesen dieser Beziehung hin: auf die Heilung unserer gestörten Verbindung zum Urgrund, zu Um- und Mitwelt und zu unserem wahren Selbst.
Unsere Beziehung zur letzten Wirklichkeit, zum abgründigen Geheimnis ‒ mögen wir sie Spiritualität nennen oder Religiosität ‒ ist eine Grundgegebenheit unseres Menschseins: Wir sind die spirituellen / religiösen Tiere.
Was uns zu Menschen macht, ist die Tatsache, dass wir uns unvermeidlich mit dem Geheimnis des Lebens auseinandersetzen müssen.
Spiritualität / Religiosität ist, kurzgefasst, die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Geheimnis.
Ein zentraler Aspekt der uns allen gemeinsamen Religiosität ist Ethik.
«Wir kommen nicht als Mitglieder einer bestimmten Religion auf die Welt», sagt S.H. der Dalai-Lama, «aber Ethik ist uns angeboren.»
Wieso angeboren? Weil Ethik untrennbar zum Bewusstsein vom großen Geheimnis gehört, einem Bewusstsein, das uns angeboren ist, ja, das uns als Menschen kennzeichnet:
Ethik entspringt aus unserer Begegnung mit dem Geheimnis, also unsrer Religiosität.
Ethische Verantwortlichkeit ist die positive Antwort auf den Anruf des Geheimnisses: unser Ja zum Leben.
Unter Ethik verstehen wir die Gesamtheit von Grundsätzen und Richtlinien, die einer verantwortungsbewussten Haltung und Tätigkeit zugrunde liegen.
In dieser Definition verdient das Wort «verantwortungsbewusst» besondere Beachtung.
Es weist auf zwei Wurzeln der Ethik hin: auf Bewusstheit und Antwort - Bewusstheit eines Anspruchs an uns und unsere Antwort darauf.
Verantwortungsbewusstsein entspringt aus unserer wach bewussten Begegnung mit dem Geheimnis des Lebens.
Diesem Bewusstsein unserer Verantwortlichkeit entspringt ethisches Verhalten.
Es stellt (im Gegensatz zu unverantwortlichem Verhalten) die positive Antwort auf den Anruf des Geheimnisses dar. Diese Antwort ist das «Ja!» zum Leben.
Wir können uns dessen bewusstwerden, dass das Leben eine Richtung hat: es will etwa Vielfalt, freie Entfaltung und das Wohlergehen aller seiner Glieder im Zusammenspiel aller mit allen.
Dieser Strömungsrichtung des Lebens können wir zustimmen, können uns ihr anvertrauen, uns von ihr tragen lassen. Darin besteht unser Ja.
Dieses gelebte Ja heißt Lebensvertrauen.
Wir können aber auch Nein sagen und uns gegen die Richtung des Lebens sträuben ‒ etwa aus kurzsichtiger Gewinnsucht oder aus Ungeduld.
Dieses Nein heißt Furcht. Aus unserem Ja entspringt ethisches, aus dem Nein unethisches Verhalten.
Ethik ist deshalb wichtiger als diese oder jene Religion, weil sie zu unserer Religiosität gehört, aus der alle Religionen entspringen. und weil im Fall des Widerspruches zwischen den beiden, die Religiosität den verlässlicheren Kompass darstellt.
Ein Beispiel: Papst Franziskus spielt die Ethik der Religiosität gegen deren bisherige Interpretation innerhalb seiner eigenen Religion aus, indem er ‒ nach Jahrhunderten von Ketzer- und Hexenverbrennungen ‒ dem Kirchenrecht zum Trotz, die Todesstrafe für grundsätzlich unerlaubt erklärt.
In Zweifelsfällen kann und muss eben jede Religion sich immer wieder neu an Religiosität orientieren, muss unter Umständen auch ein althergebrachtes Rechtsverständnis neu hinterfragen und aufgrund der in Religiosität verankerten Ethik berichtigen.
S.H. der Dalai Lama schreibt:
«Unabhängig davon, ob wir einer Religion angehören oder nicht, haben wir alle eine fundamentale ethische Urquelle in uns.»
Diese «ethische Urquelle» ist unsere Religiosität, die zugleich die Urquelle aller Religionen ist.
Aus dieser Quelle fließt Ethik auch in die einzelnen Religionen ein, drückt sich aber in jeder Religion (entsprechend deren kultureller Eigenart) unterschiedlich aus. [1]
(26:28) Da muss man sehr vorsichtig unterscheiden zwischen Ethik und ethischen Vorschriften. Die nenne ich lieber Moral. Nur einfach, um ein anderes Wort zu haben.
Wenn sich die Ethik schon in gewisse Sätze, Verhaltensvorschriften usw. entwickelt hat, dann kann man es auch Moral nennen.
Das Wesentliche an der Ethik ist, Augenblick für Augenblick hinzuhorchen: Was will das Leben jetzt von mir? ‒ und verantwortlich das zu tun.
Sehr häufig wird diese Verantwortung nicht so klar gesehen. Aber wenn man das übt, wenn man sich dessen bewusst ist: Also ich möchte in Gott und mit Gott leben, das heißt: in diesem Augenblick begegnet mir Gott, da muss ich ja mich immer wieder bemühen, zunächst einmal aufzuwachen:
Was will jetzt dieses Leben von mir?
Und das ist manchmal nicht so klar zu sehen, das ist auch schwierig. Da muss man halt das Beste tun, und wenn’s ein Fehler war, dann den ändern. Das zeigt ja dann der nächste Augenblick schon, dass es ein Fehler war. Da kann man dann den nächsten Augenblick verwenden.
Aber doch hinhorchen und vertrauen, dass das Leben ‒ da kommt wieder der Glaube herein ‒, etwas von uns verlangt. Jeden Augenblick. Und zwar oft sehr angenehme Sachen.
Das Leben ist ja nicht so ganz ein strenger Lehrer, der jeden Augenblick etwas verlangt. Das Leben verlangt von uns: «Freu dich doch dran!» ‒ und wir sind anderweitig beschäftigt. Das Leben sagt ja fast in jedem Augenblick: «Freu dich doch dran», und auch noch, wenn andere Sachen dazukommen ‒, es sagt ja nicht nur eines ‒:
«Ja das ist wirklich schwierig, aber schließlich kannst du doch noch tief durchatmen. Das ist ja auch ein Geschenk. Viele Menschen können nicht anständig atmen: du kannst jetzt atmen und trotzdem, mit der ganzen Belastung: Tu’s doch!» Das ist auch eine Antwort auf die Herausforderung des Lebens.
(30:26) Wann ist Ethik ethisch? – das ist die Frage. Es gibt eben sehr viele Atheisten, die sich Atheisten nennen, aber sehr ethisch sind, also z. B die Menschenwürde in andern schätzen, und dann kommt eben wieder die Frage: Was macht die Ethik ethisch?
Und meine Antwort wäre ‒ bevor sich‘s noch so ausdrückt in dem Satz: «Was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinem andern zu» ‒, zeigt sich Ethik darin, ob man wirklich auf das Geheimnis hinhorcht ‒, jeden Augenblick, und verantwortlich sich fühlt dem Leben gegenüber, oder ob man vorgefasste Meinungen hat ‒ und das können auch religiöse Lehren sein, die man dann anwendet. Aber die können auch falsch sein. Leider. Irrig. Das erleben wir heute noch.
(32:55) Und so wie sich jede Religion ‒ und meine eigene auch ‒ immer wieder verantworten muss vor meiner Religiosität: Das ist ein wichtiger Satz:
Meine Religion muss sich immer wieder verantworten vor meiner Religiosität ‒ nicht umgekehrt. ‒ Die Formen der Religion ‒ in dem Sinn: überkommene Formen ‒, das muss sich verantworten, das muss mir passen. Wenn das mir nicht passt, darf ich es nicht tun.
Das ist ja auch katholische Lehre: Wir haben‘s halt als Gewissen ausgesprochen: «Du darfst nicht gegen dein Gewissen handeln.»
So wie sich meine Religion vor meiner Religiosität verantworten muss, so muss sich auch meine Ethik vor meiner Religiosität, in der ja die Ethik wurzelt, verantworten.
Und so ein ethisches System: Es gibt ja auch ein katholisches ethisches System, und vieles davon kann ein heute gebildeter Mensch nicht mehr annehmen. Ich gebe nur ein Beispiel: die Haltung zur Homosexualität.[2]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 2]
[Ergänzend:
1. Video Vom Ich zum Wir (2021): «Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität»: Bruder David im Interview mit Egbert Amann-Ölz im Rahmen des Online-Pfingstkongresses (14.-24. Mai 2021), siehe auch Transkription Pfingstkongress, 5:
(17:59) «… S.H. der Dalai Lama hat ein Buch geschrieben: ‹Ethik ist wichtiger als Religion›, so heißt das Buch. Das ist seine Botschaft, aber damit meint er mit Ethik, was ich Religiosität nenne. Ich kann das völlig anerkennen, aber ich übersetze es und sage: Religiosität ist wichtiger als Religion. Das heißt: Lebendige Religiosität ist wichtiger als religiöse Formen. Das steht dahinter.»
2. Audios
1. Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast:
(00:26) «Wer von Euch hat dieses Büchlein ‒ es ist kaum ein Buch ‒ gelesen von S.H. dem Dalai Lama, das heißt Ethik ist wichtiger als Religion? Es ist ein Aufruf.
Die Religionen entzweien die Menschheit. Offensichtlich, leider, es müsste ja nicht unbedingt so sein, aber es ist eine Tatsache. Und wir brauchen heute etwas, was uns verbindet als Menschheit. Sonst können wir die Probleme, die auf uns zukommen einfach nicht lösen. Wir können sie nur gemeinsam lösen, und wir brauchen also etwas, was uns verbindet. Und was uns verbindet, ist eine grundlegende Ethik, die uns angeboren ist, sagt auch S.H. der Dalai Lama.
Das Buch ist aber doch sehr problematisch, und ich arbeite gerade an einer kurzen Antwort darauf, Ethik oder Religion, weil eben der Begriff Religion zweideutig ist.
Einerseits bedeutet Religion ‹die Religionen›, und in diesem Sinn verwendet auch S.H. der Dalai Lama dieses Wort, obwohl er meistens Religion sagt ‒ nicht: die Religionen, sondern Religion ‒, meint aber fast immer die Religionen.
Aber Religion hat auch noch eine zweite Bedeutung, nämlich ‹die uns Menschen angeborene Religiosität›.
(09:02) Und nur einmal in diesem Buch spricht S.H. der Dalai Lama von Religion als die uns angeborene Religiosität, und von dieser Religiosität ist die Ethik ein ganz wesentlicher Bestandteil.
Also eigentlich könnte man genauso gut ‒ oder jetzt, nachdem, was wir hier besprochen haben ‒, sagen:
‹Religiosität ist wichtiger als die Religionen.›
Das ist sehr verständlich, und die Gefahr, in der Art, wie S.H. der Dalai Lama sich da ausdrückt, ist, dass manche Leute das Buch gar nicht lesen wollen, weil sie glauben, es ist religionsfeindlich: Ethik ‒ so was weltliches, weltliche Ethik usw.. Davon wollen wir gar nichts wissen. Wir sind religiöse Menschen.
Oder andere, die das lesen und bejahen ‒ man kann ja jedes Wort bejahen, was er drinnen schreibt, begeistern kann man sich dafür ‒, lassen sich in eine religionsfeindliche Einstellung ein: Die Religionen sind Unsinn und so.
Beides ist nicht günstig. Also ich bemühe mich da um Klärung: Immer wieder Unterscheidungen, wie zwischen Religion und Religiosität, damit das klarer wird.»
2. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 2, 8-11:
«Wie kommen wir von den Religionen jetzt, zu jener Weisheit, die alle verbindet? Denn die Religionen scheinen sich diese Weisheit noch nicht zu eigen gemacht zu haben. Darunter leidet die Menschheit, darunter leidet die ganze Gesellschaft und dadurch bringen wir uns in große Gefahr.»
3. Texte
3.1. Orientierung finden (2021): «Religionen ‒ verschiedene Sprachen für das Unaussprechliche», 68:
«Wie Religiosität sich in Religion ausdrückt, drückt Ethik sich in Moral aus.
Ethik, wie wir den Begriff hier verwenden, ist unsre Verantwortung vor dem großen DU, Moral ist der Versuch, unsre ethische Verantwortung in einer konkreten Kultur zum Ausdruck zu bringen.
Wenn S.H. der Dalai Lama sagt, ‹Ethik ist wichtiger als Religion› ‒ Buddhismus als Religion eingeschlossen ‒, so heißt das in der Sprache, die wir hier verwenden:
Religiosität ist wichtiger als Religion.
Dem stimmen wir vollkommen bei, denn ohne Religiosität bleiben die Formen der Religion leere kulturelle Erscheinungen.
Je vollkommener sich Religiosität/Ethik in einer bestimmten Religion ausdrückt, umso lebendiger und lebenspendender ist ihre Moral.»
MORAL, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 151:
«Moral ist ‒ zusammen mit Lehre und Ritualen ‒ ein Bestandteil jeder Religion. Sie wendet sich an den Willen (im Sinne unsrer Willigkeit) und versucht, Werte allgemein menschlicher Ethik so darzustellen, dass sie der gegebenen Kultur zur Zeit der Religionsgründung moralisch verpflichtend werden. Wenn sich zu späteren Zeiten die kulturellen Gegebenheiten ändern, wird die gegebene Religion versuchen müssen, neu entstandene ethische Probleme einzubeziehen, damit ihre Moral weiterhin als Leuchtturm für ethisches Verhalten dienen kann.»
VERANTWORTUNG, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 161f.:
«Verantwortung zu übernehmen, heißt einstehen für ein gegebenes Wort ‒ bereit zu sein, dafür Rechenschaft abzulegen und dafür zu haften. Verantwortung tragen wir aber auch, wenn wir es versäumen, Antwort zu geben, die unerlässlich ist. Die volle Bedeutung von Verantwortung zeigt sich erst, wenn wir bedenken, dass das Leben uns in jedem Augenblick ein Wort zuspricht und unsre Antwort erwartet. Wenn uns ein Kind geboren wird, so ist diese Gabe des Lebens leicht als schicksalsschweres Wort zu erkennen, das uns zugleich die Aufgabe stellt, auf vielerlei Weise darauf zu antworten. Oder wenn ein Freund in Lebensgefahr gerät, so stellt auch dies recht offensichtlich ein Wort dar, auf das zu antworten unsre Verantwortung ist. Aber auch in weit weniger dramatischen Augenblicken ‒ ja, in jedem Augenblick täglichen Lebens ‒ dürfen wir die Gesamtheit aller Gegebenheiten als Wort verstehen und auf sie Antwort geben. In diesem Bewusstsein zu leben, heißt verantwortungsbewusst zu leben ‒ und das ist ein freudig erfülltes Leben.»
3.2. Radikales, mutiges Vertrauen in das Leben (2019): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:
Anne Voigt: «Welche Rolle spielt die Religion?
Bruder David: «Hans Küng, der große Vertreter des ‹Projekts Weltethos›, betont, dass man eigentlich von Menschenpflichten und nicht nur von Menschenrechten sprechen sollte. Und auch S.H. der Dalai Lama spricht in seinem Buch ‹Ethik ist wichtiger als Religion› von Menschenpflichten. Institutionelle Religion steht ihnen oft im Wege. Mir ist wichtig, dass der religiöse Dialog eigentlich nicht ein Dialog zwischen Religionen ist, sondern ein Dialog zwischen Menschen, die verschiedenen Religionen angehören, sich aber auf der Ebene des gemeinschaftlich Menschlichen treffen. Darum ist der interreligiöse Dialog ganz wichtig.»
3.3. Ken Wilber und David Steindl-Rast im Dialog (2019):
Bruder David: «S.H. der Dalai Lama sagt, dass Ethik wichtiger ist als Religion. Die Religionen neigen dazu, uns zu trennen, aber wir brauchen eine Ethik, die uns verbindet. Damit stimme ich vollkommen überein, muss aber betonen, dass in unserer Religiosität die Ethik bereits enthalten ist. Das ist der Grund, warum wir heute die Religiosität ernstnehmen müssen, denn sie bietet uns das breiteste Fundament für eine allgemeine Ethik. Wir brauchen eine Spiritualität für alle, nicht nur für diejenigen, die Zeit haben, sich in spirituellen Erfahrungen zu spezialisieren, und genug Geld haben, um Zentren für spirituelle Fortbildung zu besuchen. Die allen zugängliche Religiosität eröffnet uns grundlegende ethische Einsichten ‒ zum Beispiel: ‹Was du nicht willst, das man dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu.› Wäre das nicht ein guter Anfang? Es wäre genug, um die Welt zu verändern.»
3.4. Liebe ‒ die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017):
«Das griechische Wort ēthos bedeutet in erster Linie unsere menschliche Natur, unsere grundlegende Veranlagung – unsere innerste Ausrichtung also auf das große Geheimnis, unsere Religiosität.
Weil aber die meisten Menschen heute an die Religionen denken, wenn von Religion die Rede ist, liegt es nahe, lieber das Wort Ethik zu verwenden statt Religion oder Religiosität. Aus dieser Erwägung gibt S.H. der Dalai Lama seinem Appell an die Menschheit den Titel ‹Ethik ist wichtiger als Religion›. Er will damit aber das Gleiche sagen wie: Religion [im Sinn von Religiosität] ist wichtiger als die Religionen.
Wenn das Herz jeder Religion die Religion des Herzens ist, dann ist das Herz jeder Ethik die Ethik des Herzens – die Sehnsucht glücklich zu werden und – untrennbar davon – andere glücklich zu machen. In aller Welt drückt die Volksweisheit diese Einsicht ähnlich aus wie bei uns: ‹Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.›
Ob wir es Religion nennen, Ethik oder Spiritualität, immer geht es um ‹die elementarste aller menschlichen Urquellen in uns›, – wie S.H. der Dalai Lama sie nennt. Aus dieser einen Quelle schöpfen alle Religionen und alle Systeme ethischer Normen.
Darum lehrt jede Religion auf ihre Art: ‹Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst›. Und jedes Moralsystem lässt sich zusammenfassen in dem Satz: ‹So verhält man sich denen gegenüber, zu denen man gehört.›
Der Kreis der Zugehörigkeit wurde oft zu eng gezogen. Heute muss er nicht nur alle Menschen umfassen, sondern alle Tiere, Pflanzen, unsere Erde und das ganze Universum. In beiden, Ethik und Religion, geht es also letztlich um Liebe als das grenzenlose Ja zur Zugehörigkeit.»
3.5. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 177-182:
«Ein Bild, das ich manchmal verwendet habe, um die Beziehung zwischen der mystischen Erfahrung und der religiösen Tradition zu veranschaulichen, ist das eines Vulkanausbruchs. Da ist das heiße Magma, das aus den Tiefen der Erde emporschießt und dann an den Seiten des Vulkans herabfließt. Je länger es fließt, desto mehr kühlt es sich ab, und je mehr es sich abkühlt, desto weniger erinnert es an den ursprünglichen feurigen Zustand. Am Fuße des Berges finden wir dann lediglich übereinander gelagerte Felsschichten. Niemand würde denken, dass diese einst weißglühend waren. Da kommt nun aber der Mystiker. Er bohrt ein Loch durch die übereinander gelagerten Felsschichten, bis das Feuer, das ursprüngliche Feuer, wieder emporschießt. Da jeder von uns ein Mystiker ist, besteht darin unsere Aufgabe. Doch sobald wir zu dieser Verantwortung gereift sind, prallen wir unweigerlich mit der Institution zusammen.
Die Frage lautet: ‹Besitzen wir die Gnade, die Stärke und den Mut, unsere prophetische Aufgabe auf uns zu nehmen›?»]
____________________
[1] Auszug aus Ethik oder Religion (2018), die Antwort von Bruder David auf den Appell S.H. des Dalai Lama im Buch Ethik ist wichtiger als Religion (2014), 2-4
[2] Auszüge aus dem Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast
Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Voll Staunen schaue ich auf Deine Schaffenskraft,
die sich in unerschöpflicher Fülle immer neu ausdrückt ‒
im Schriftzug des Schwalbenflugs am Abendhimmel,
in der Architektur des Schildkrötenpanzers,
im Formenreichtum der Vogelrufe und auch in uns Menschen.
Schon in der Linienführung von Lippen und Augenbrauen
und erst recht in unseren vielfältigen Begabungen ‒
zum Singen, Kochen, Gärtnern, Erfinden, Erforschen, Bauen, Umsorgen …
Deine geheimnisvolle Triebkraft, die Pfirsichen die Wangen rötet,
will ich heute bereitwillig durch mich durchströmen lassen,
damit sie auf traurigen Gesichtern ein Lächeln malt.Amen.»[1]
In seinem Text «Mein Glaubensbekenntnis» sprach Albert Einstein (1879-1955) auch über seine Begegnung mit dem Geheimnis. Er schrieb diesen Text im September 1932 für die «Deutsche Liga der Menschenrechte»:
«Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen. Es liegt der Religion sowie allem tieferen Streben in Kunst und Wissenschaft zugrunde. Wer dies nicht erlebt hat, erscheint mir, wenn nicht wie ein Toter, so doch wie ein Blinder zu empfinden, dass hinter dem Erlebbaren ein für unsren Geist Unerreichbares verborgen sei, dessen Schönheit und Erhabenheit uns nur mittelbar und in schwachem Widerschein erreicht, das ist Religiosität. In diesem Sinne bin ich religiös. Es ist mir genug, diese Geheimnisse staunend zu ahnen und zu versuchen, von der erhabenen Struktur des Seienden in Demut ein mattes Abbild geistig zu erfassen.»[2]
Religiosität im Sinne Einsteins macht unser Wesen als Menschen aus. Unsre Beziehung zur geheimnisvollen Wirklichkeit hinter allem, was wir erleben, ist die grundlegende Gegebenheit unsres Menschseins.
Einstein wusste es: «Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen.»
Als Menschen sind wir darauf angelegt, uns ins große Geheimnis zu versenken, es verstehen zu wollen, uns an ihm auszurichten. In dieser lebenslangen Auseinandersetzung mit der letzten Wirklichkeit besteht unsre angeborene Religiosität.
Das Wort Religiosität stammt wahrscheinlich vom lateinischen Wort «re-ligare», was «wieder verbinden» bedeutet.
Jedenfalls ist es das Wesen der Religiosität ‒ übrigens auch das höchste Ziel der Religion ‒ gebrochene Beziehungen wiederherzustellen: die Beziehung zu unsrem Selbst, zu unsrer Um- und Mitwelt und zur letzten Wirklichkeit.
Weil es dabei um die Verwirklichung unsres vollen Menschseins geht, sieht Einstein im Versagen, sich dieser Aufgabe zu stellen, eine so große Gefahr:
«Diejenigen, die diese Erfahrung nie gemacht haben, scheinen mir, wenn nicht tot, dann zumindest blind.»
Seine eigene Religiosität nennt er «das Gefühl des Geheimnisvollen» ‒ bewusste Begegnung mit dem Geheimnis.
Von seiner Religion, der jüdischen in ihrer «vorwissenschaftlichen» Gestalt, hat er sich distanziert, nennt sich aber klar und deutlich «religiös» in dem Sinne, dass er sich in seiner Religiosität vom großen Geheimnis angerufen fühlt.
Auf diesen Anruf zu antworten, stellt, wie Einstein wusste, unsre eigentliche menschliche Berufung dar.
Unser menschlicher Geist ist darauf angelegt, in das große Geheimnis einzutauchen, es zu verstehen, ohne es begreifen zu können, und unser Tun von diesem Verständnis leiten zu lassen.
In diesem beständigen Hinhorchen und Antworten durch alles, was wir tun, drückt sich also unsre Religiosität als eine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Geheimnis aus.
Unsre Begegnung mit dem Geheimnis ‒ das wird besonders in sogenannten Gipfelerlebnissen deutlich ‒ löst in uns spontan das religiöse Ur-Gefühl der Ehrfurcht aus.
Ehrfurcht ist gekennzeichnet durch das Zusammentreffen von einem tiefen Angezogen-Sein und einer heiligen Scheu.
Die intime Beziehung zum Geheimnis als unsrem innersten DU zieht uns unwiderstehlich an.
Die überwältigende Fülle von allem, was Es gibt, und das «Mehr-und-immer-mehr», das unendlich darüber hinausgeht, lassen uns erbeben; und dieses zwiespältige innere Berührtsein will sich staunend ausdrücken ‒ in Rühmung, Anbetung und Dankbarkeit.
Wir finden uns also durch unsre Religiosität hineingestellt in die Tiefe, Weite und Dynamik des großen Geheimnisses ‒ in die Grundgegebenheiten, an denen wir uns im Leben orientieren können.
Rudolf Otto (1869-1937) hat die Begegnung mit dem Geheimnis unter dem Aspekt des «Heiligen» gründlich untersucht.[3] Er beschreibt die beiden Gefühle, die das Heilige in uns auslöst, als «tremendum» ‒ das heißt, es lässt uns ehrfürchtig erschaudern ‒ und «fascinans» ‒ das heißt, es löst begeistertes Entzücken aus.
Das Ruhen in einer stets schon unbewusst ersehnten Gegenwart zieht uns unwiderstehlich an; doch das schwindelerregende Anderssein dieser Gegenwart lässt uns erschaudernd zurückweichen.
Wir können das Widerspiel dieser beiden Gefühle an einem kleinen Kind am Strand beobachten: Sooft sich die Wellen zurückziehen, kräht das Kleinkind vor Freude und versucht, ihnen nachzulaufen, wenn aber die Wellen zurückkehren, schreit es erschreckt auf und krabbelt schleunigst auf trockenes Land.
Die erstaunliche Mischung dieser beiden Gefühle drückt sich bei Erwachsenen als Ehrfurcht aus.
Ehrfurcht erfahren wir besonders deutlich in Gipfelerlebnissen, dürfen sie aber keineswegs auf außergewöhnliche Erlebnisse beschränken.
Vor allem im Alltag ist Ehrfurcht der Kern der Religiosität. Spirituell wache Menschen erleben in ihren Beziehungen zu Menschen, Tieren, Pflanzen und auch zu leblosen Dingen das Heilige, weil eben jede Begegnung in ihrer innersten Tiefe Begegnung mit dem Geheimnis ist.
Wenn wir Gelegenheit haben, mit Menschen zusammenzuleben, die nie ihren Sinn für das Heilige verloren haben, staunen wir über den Reichtum ihrer Lebensqualität ‒ oft trotz bitterer Armut.
Im Vergleich dazu ist eine typische wohlhabende Gesellschaft verarmt.
Unsre angeborene Religiosität ist unser Sinn für die Heiligkeit von allem, was es gibt.
Sie drückt sich in Ehrfurcht aus.
Wenn wir Ehrfurcht vernachlässigen, verkümmert auch unsre Religiosität und «wir leben so dahin».
Wenn wir sie bewusst pflegen, blüht unser Leben auf ‒ «dann wird es werden wie ein Fest»[4], sagt Rilke.[5]
Es ist wieder Rilke:
«Es gibt im Grunde nur Gebete,
so sind die Hände uns geweiht,
dass sie nichts schufen, was nicht flehte;
ob einer malte oder mähte,
schon aus dem Ringen der Geräte
entfaltete sich Frömmigkeit.»[6]
Schön gesagt, aber jetzt wundern wir uns: Wo kommt denn dann das Treiben unserer Welt her, das alles andere ist als Gebet?[7]
Das leere Treiben kommt aus dem Entwurzeltsein.
Solange wir im Mysterium verwurzelt bleiben, solange unser Bauen im Schauen verwurzelt bleiben und unsere Arbeit in der Dunkelheit des Schweigens, aus der wir stammen, im Mystischen, so lange ist alles Gebet. Wenn wir diese Verbindung abreißen lassen, dann sind wir nur Treibende.[8]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
In Irland gibt es Orte, von denen die Leute sagen,
dass dort der Vorhang zwischen unserer Welt
und der unsichtbaren durchscheinender ist;
dünner als anderswo.
Auch in anderen Ländern gibt es solche Kraftorte.
Und zu gewissen Tageszeiten,
etwa in der Dämmerung, bemerke ich,
dass der geheimnisvolle Schleier durchlässiger wird,
wo ich auch bin.
Wann und wo immer ich etwas mit Ehrfurcht beachte,
beschenkt es mich mit namenloser Überraschung,
weil bei allem ‹mehr dahintersteckt›.
Heute will ich also ehrfürchtig auf alle Dinge schauen.Amen.»[9]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-2, 5, 8-9]
[Ergänzend:
1. Ehrfurcht
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen:
(57:56) Die Dunkle Nacht bei Teresa von Avila und Johannes von Kreuz ‒ wach und lebendig auf das Wort aus der Dunkelheit, aus dem ‹Nichts› voller Möglichkeiten hinhorchen ‒ in der christlichen Tradition heißt dieser Ursprung Vater ‒ das göttliche Geheimnis als Vater bedeutete im Judentum soviel wie Mutter, wie wir im Gleichnis des verlorenen Sohnes (Lk 15,11-32) sehen ‒ die Weihnachtsantiphon (Weish 18,14f.), wo die Nacht in ihrem Lauf die Mitte erreicht hat, höchste Dunkelheit in Stille ‒ sich hineinwagen in dieses tiefste Dunkel ‒ ‹Fürchte dich nicht› mitten in der Angst: diese Angst, wenn sie am besten ist kann vielleicht auch Ehrfurcht genannt werden: Das Erschauern vor dem göttlichen Geheimnis
2.2. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Demut ‒ der Weg zum Gipfel:
Die zwölf Stufen (1-12) der Demut in der Regel des hl. Benedikt (RB 7):
(34:17) (1) Gottesfurcht: Ehrfurcht vor dem ganz Anderen in einer überwältigenden Erfahrung am Beginn einer Freundschaft und zugleich: ‹Das bin ja ich›. Gott als himmlischer Herrscher und die Überbetonung von Sünde und Reinheit bei den Pharisäern und die Balance mit Güte, Barmherzigkeit, Vergebung bei Jesus
2.3. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökologie: Zwei Ergänzungen und Fragerunde:
(32:11) Bruder David schließt mit seiner deutschen Übersetzung des Gedichtes PAX von D. H. Lawrence und Ausklang mit Musik von Hannelore und Br. Thomas
Bruder David zu diesem Gedicht im Buch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 161f., [bzw. Fülle und Nichts (2015), 161f.]:
«In einer von der Liebe erwärmten Welt gibt es keine Kluft zwischen Himmel und Erde. Das ‹Haus des Lebens› ist das ‹Haus des Gottes des Lebens›.
Gottes Gegenwart im Haushalt der Erde ist Gegenwart des Herrn, der am Tisch sitzt in seinem eigenen größeren Sein im Hause des Lebens.
Das Bild des ‹pater familias› gibt diesen Zellen Bedeutung und beschützt sie zugleich davor, pantheistisch missverstanden zu werden. Die Welt ist nicht mehr eins mit Gott, als der Haushalt eins ist ‹mit dem Herrn des Hauses, mit der Herrin›. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Es ist keine Frage des Einsseins, sondern des Zusammenseins, des Beieinanderseins durch jene Liebe, die nur die Vorstellung von pietas uns zu vermitteln beginnt. Und doch, mit welcher Ehrfurcht füllt uns das Bewusstsein dieser Zugehörigkeit?
Wenn wir uns den Erdhaushalt als unseres himmlischen Vaters ‹eigenes größeres Sein› vorstellen, dann wird uns das jedes Steinchen, jeden Grashalm, jeden Käfer mit Ehrfurcht betrachten ‒ und entsprechend behandeln lassen.
Dann wird Liebe ihre Zu- und Abneigungen ebenso leicht nehmen, wie wahrer Glaube seine Überzeugungen und wirkliche Hoffnung ihre Hoffnungen. Schließlich, welchen Unterschied machen Zu- und Abneigungen schon, wenn ‹alles, worauf es ankommt, ist, eins zu sein mit dem lebendigen Gott›? Jene, die wir mögen und die, die wir nicht mögen, sind gleichermaßen ‹daheim im Haus des Lebendigen›. Wir gehören alle zusammen. Wir können alle zusammen in Frieden leben, sobald wir unserem tiefsten Sehnen folgen und zu unserem Herzen nachhause kommen.»
2.4. Audio-Pfingst-Fokusse von David Steindl-Rast
Samstag vor Pfingsten:
Die Gaben des Hl. Geistes - Gottesfurcht – Ehrfurcht
3. Weitere Texte
3.1. Offenbar unergründlich (2019) aus dem Buch 99 Namen Gottes (2019): 75 «der Offenbare, auf den alles, was es gibt, klar hinweist», 156f.
3.2. Im Buch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 131-133, [bzw. Fülle und Nichts (2015), 131-133]:
«Das biblische Wort für die polyphone Vielfalt der Hoffnungen in der einen Musik der Hoffnung lautet ‹Herrlichkeit›. Und wie häufig treten Hoffnung und Herrlichkeit gemeinsam im Neuen Testament auf! Der frühen Kirche bot das Konzept göttlicher ‹Herrlichkeit› das Verbindungsglied zwischen Schau und Verwirklichung der Hoffnung. Nichts weniger als die Macht zur Umwandlung der Welt beruht auf diesem entscheidenden Begriff von ‹Herrlichkeit›. Für uns ist ‹Herrlichkeit› heute ein missverstandenes Konzept, das irgendwo in der Dachkammer unseres religiösen Vokabulars verstaubt. Wie ‹Majestät› lässt es an nicht viel mehr denken als an Pomp und Zeremoniell.
Wir sollten hin und wieder ‹Schönheit› sagen, wenn wir ‹Herrlichkeit› in unseren Bibeln lesen. Das könnte uns zu einem tieferen Verständnis dieses Schlüsselbegriffs verhelfen.
Ein berühmtes Zitat aus Rilkes Duineser Elegien drückt in moderner Sprache jene Harmonie von Glanz und Macht aus, die Gottes Herrlichkeit in der Bibel kennzeichnet:
‹Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören …›[10]
Wenn wir uns Gottes Herrlichkeit als eine ehrfurchterregende Aura vorstellen, dann erretten wir sie vielleicht aus dem Reich pompöser Zeremonien und verbinden sie ‒ richtiger ‒ mit Schönheit.
Wir wollen aber nicht vergessen, dass wir Schönheit nicht nur im Sturm, im Erdbeben und im Feuer als ‹erschütternd› erfahren, sondern auch dann, wenn sie als ‹leises, sanftes Säuseln› (1 Könige 19,12) kommt ‒ beispielsweise als anmutiges Rehkitz. Wir entdecken es plötzlich, schlank und dunkel zeichnet es sich gegen den frischen Schnee ab, bewegungslos ‒ und wir sind ‹erledigt›. Die Erschütterung einer solchen Begegnung mit überwältigender Schönheit schwingt noch nach, wenn der heilige Johannes schreibt: ‹Wir haben seine Herrlichkeit geschaut, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater (Johannes 1,14).»
3.3. Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 4 «Mit Körper, Denken und Geist lebendig sein», 68f.:
«Vergegenwärtigen Sie sich für einen Augenblick einen Moment größten Lebendigseins in Ihrem Leben, einen Augenblick echter, im Körper verwurzelter Achtsamkeit, einen Augenblick, in dem Sie an die Wirklichkeit gerührt haben. Danach bemisst sich der Grad, in dem wir lebendig und geistlich in dieser Welt sind, der Grad, in dem wir in Berührung mit der Wirklichkeit sind.
T. S. Eliot sagte: ‹Der Mensch kann nicht viel Wirklichkeit aushalten.›[11] Aber in verschiedenen Graden können wir die Wirklichkeit aushalten, und die Lebendigsten von uns haben es fertiggebracht, mehr Wirklichkeit auszuhalten als die anderen. Was wir aber möchten, ist, dass wir fähig werden, in Berührung mit der Wirklichkeit zu kommen, mit der ganzen Wirklichkeit, und nicht bestimmte Aspekte abblocken zu müssen.»
3.4. Musik der Stille (2023), 26f.:
«Wenn wir uns nach der Ganzheit und Harmonie sehnen, die entstehen, sobald wir ganz für jeden unserer Augenblicke da sind, so haben wir doch gleichzeitig auch Angst davor.
Wo immer wir den reinen Ruf des Augenblicks erleben und jedes Mal, wenn wir der nackten Wirklichkeit gegenüberstehen, erzittern wir.
Wir haben uns daran gewöhnt, die alltäglichen Düfte der Kompromisse in uns aufzunehmen und uns durchzumogeln ‒ werden wir plötzlich herausgefordert, reinen Sauerstoff einzuatmen, fürchten wir, gleich zu verbrennen.
Deshalb sagte Rilke: ‹Jeder Engel ist schrecklich.›
Und doch, was könnte schöner sein als ein Engel? Überwältigende Schönheit ist nicht hübsch. Eher ist es die Schönheit eines Gewittersturms: Er ist faszinierend und zugleich auch zum Fürchten.
‹Denn das Schöne›, sagt Rilke, ‹ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.›
Wir sehnen uns nach einer Begegnung mit dem Engel. Wir sehnen uns nach einer echten Begegnung mit der Wirklichkeit, und doch fürchten wir uns gleichzeitig davor, genauso wie wir Angst vor der überwältigenden Erfahrung haben, uns zu verlieben. Wir fliehen davor und werden dennoch unwiderstehlich davon angezogen.
T. S. Eliot bemerkt: ‹Die Menschen ertragen nicht sehr viel Wirklichkeit.›[12]
Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben? Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch ‹Der Plüschhase›. Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen, Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug: ‹Tut Wirklichwerden weh?› Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh? Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort: ‹Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.›»
3.5. Wendezeit im Christentum (2015): Fritjof Capra im Dialog mit Bruder David und Thomas Matus, 178:
Fritjof Capra: «In der Naturwissenschaft kennt man ein berühmtes Wort von Einstein. Er sagte einmal, es komme ihm wie ein Wunder vor, das unsere abstrakten mathematischen Formeln so genau der Wirklichkeit entsprechen, dass wir Dinge, die wir außerhalb beobachten, in Begriffen von Dingen beschreiben können, die wir selbst erschaffen haben. Das schien Einstein zutiefst geheimnisvoll.»
3.6. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 33-37:
«Und das Geheimnis ist das ‒ auf Lateinisch ‒ fascinosum et tremendum. Es fasziniert uns und es macht uns erschaudern. Das ist das Kennzeichen: Wenn uns etwas zugleich begeistert und anzieht und erschaudern macht, dann haben wir es mit dem Heiligen zu tun. Das Heilige ist das fascinosum tremendum.
Und wir haben das alle erlebt, bei einer wunderbaren Konzertaufführung zum Beispiel. Es begeistert uns alle und es lässt uns zugleich erschaudern. Wenn in Beethovens 9. Symphonie das Cello ganz leise das Thema von Freude, schöner Götterfunken, ganz leise, beginnt, dann rinnt es uns kalt über den Rücken. — Das Schreckliche ist ja in diesem Zusammenhang nicht das schrecklich Böse, sondern das schrecklich Gute, das Erschaudern machende Gute, Schöne, Wahre, Eine. So ist das gemeint.»]
_________________________
[1] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 85
[2] Orientierung finden (2021): «Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ergreift», 49
[3] Rudolf Otto in seinem bekanntesten theologischen und religionswissenschaftlichen Buch des 20. Jh. «Das Heilige», erstmals
erschienen 1917
[4] «Du musst das Leben nicht verstehen
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen
von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.
Sie aufzusammeln und zu sparen
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.»
(Rilke, Mir zur Feier)
[5] Orientierung finden (2021): «Religiosität ‒ was uns verbindet und heilt», 61-64
[6] Rilke, Alle, die ihre Hände regen (Das Stunden-Buch)
[7] Bruder David fügt in diesem Zusammenhang jeweils das Sonett von Rilke ein: «Wir sind die Treibenden» (Die Sonette an Orpheus 1.
Teil, XXII), zum Beispiel in Beten – mit dem Herzen horchen (1988)
1. Vortrag in thematische Brennpunkte aufgeteilt:
Audio «Wir sind die Treibenden» (Rilke)
[8] Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation im Buch Geist und Natur (1989), 295f.
[9] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 97
[10] Rilke, Duineser Elegien, Die Erste Elegie
[11] «Go, go go, said the bird: human kind
Cannot bear much reality.
Time past and time future
What might have been and what has been
Point to one end, which ist always present.»
(T. S. Eliot, Four Quartets, Burnt Norton, I)
Bernardin Schellenberger übersetzt «reality» mit «Realität». Aber es geht um die numinose Wirklichkeit im Unterschied zu Realität
im gängigen Sprachgebrauch des Wortes. Siehe 3.4.
[12] Siehe Anm. 11
Religiosität ‒ Urquelle aller Religionen
Text, Video, Audios und Interviews von Br. David Steindl-Rast OSB
Raimon Panikkar (1918-2010) vergleicht Religiosität mit dem Sprachvermögen des Menschen. So wie das Sprachvermögen sich in den verschiedenen Sprachen ausdrückt, so drückt die uns allen gemeinsame Religiosität sich in den verschiedenen Religionen aus.
Religiosität verbindet uns, die Religionen unterscheiden uns ‒ und trennen uns sogar leider oft.
Immer wieder neu entspringen aus der ursprünglichen und allen Menschen gemeinsamen Religiosität Religionen in den verschiedensten Formen.
Welcher Reichtum ginge auch verloren, wenn es nur eine Einheitssprache ‒ nur eine einzige Religion ‒ gäbe!
Wir könnten Religiosität auch mit einem einzigen riesigen, unterirdischen Wasserreservoir vergleichen und die Religionen mit einer Vielzahl von Brunnen, die daraus ihr Wasser heraufholen.
Immer wieder einmal im Laufe der Geschichte kommt ein Religionsgründer und gräbt einen neuen Brunnen.
Die Brunnen können sich stark voneinander unterscheiden, je nach der Persönlichkeit des Erbauers, den Gegebenheiten des Ortes, seiner Menschen und ihrer Bedürfnisse zu diesem geschichtlichen Zeitpunkt.
Wir dürfen uns an der Schönheit der Brunnen in ihrer Verschiedenheit freuen und uns daran erinnern, dass aus jedem von ihnen ein und dasselbe Wasser fließt.
Wenn wir eingebettet in eine religiöse Tradition aufwachsen, werden uns die Lehren, Gebote und Rituale dieser Religion ihre tiefere Bedeutung dadurch erschließen, dass sie unsre erwachende Religiosität zum Mitschwingen bringen und zu ihrem echten Ausdruck werden.
Jede Religion, in der wir aufwachsen, kann die Sprache werden, in der wir über das ‒ letztlich doch unaussprechliche ‒ Geheimnis sprechen, das unsre Religiosität erahnt.
Später im Leben ist es schwieriger, eine neue Sprache zu erlernen. Die Aneignung einer religiösen Sprache beim Aufwachsen stellt ein weit größeres Vermögen dar als ein fettes Sparbuch; sie kann zur unerschöpflichen Freudenquelle fürs ganze Leben werden.
Daher ist es ein schmerzlicher Verlust, wenn wir uns bewusstwerden, dass wir unsre Religiosität nicht mehr in der Sprache der Religion unsrer Kindheit ausdrücken können.
Formen aufzugeben, die nicht mehr echter Ausdruck unsrer Religiosität sind, und nach neuen Ausdrucksformen zu suchen, mag andren und sogar uns selbst als Verrat erscheinen, kann aber gerade unsre Treue zum religiösen Inhalt beweisen, den sowohl die alten wie die neuen Formen ausdrücken.
Wir dürfen bei der Auswahl neuer Formen langsam und wählerisch vorgehen. Es ist nicht nötig, plötzlich allen Halt aufzugeben, den das Vertraute uns bietet.[1]
Religionen neigen jedoch dazu, früher oder später ihre ursprüngliche Kraft zu verlieren.
Ein Grund dafür liegt darin, dass große Gemeinschaften es kaum vermeiden können, Institutionen zu werden. Alle Institutionen haben aber die Tendenz, ihren ursprünglichen Zweck zu vernachlässigen und stattdessen zum Selbstzweck zu werden.
Wir wissen aus bitterer Erfahrung, dass auch politische, akademische, medizinische und andre Institutionen zum Selbstzweck werden, nicht nur religiöse.
Eine weitere Gefahr für Religionen besteht darin, dass sie in den Bann des «Systems»[2] fallen können.
Wenn dies geschieht, friert ihre ICH-DU-Spiritualität zu einer ICH-ES-Ideologie ein: Lehre, Moral und Ritual verwandeln sich in Dogmatismus, Moralismus und Ritualismus.
Was sollen wir tun, wenn diese Katastrophe unsre eigene Religion befällt und das lebendige Wasser, das einst aus ihrem Brunnen sprudelte, sich in Eis verwandelt?
Wir können dieses Eis immer wieder auftauen ‒ durch die Wärme der Religiosität unsres Herzens.
Das Herz jeder Religion ist die Religiosität des Herzens.
Religiosität kann Religion wiederbeleben.
Wo eben noch Eis war, sprudelt dann wieder lebenspendendes Wasser.
Ist es also nicht die Religiosität unsres Herzens, auf die alles ankommt?[3]
Viel Religionsvergleich und Faktensammeln war nötig, um dies wirklich zu erkennen, aber inzwischen ist es einer erheblichen Anzahl von Menschen bewusst geworden (und wird jedem Menschen auf dieser Erde zunehmend bewusst werden), dass es im Endeffekt nur zweierlei Arten der Religiosität gibt.
Die Grenzlinien, von denen wir annahmen, dass sie zwischen Christen und Buddhisten, zwischen Buddhisten und Hindus und Muslims und Juden verliefen, sind letzten Endes irrelevant.
Es gibt nur eine Linie, die trennt, und die verläuft in einer anderen Richtung, nämlich horizontal. Durch alle Buddhisten, durch alle Hindus, durch alle Christen, und durch jeden Einzelnen von uns, verläuft die Linie zwischen der richtigen Weise, religiös zu sein, und der falschen Weise, religiös zu sein.
Es ist die Linie zwischen Furcht und Glauben.
Furcht in ihrer religiösen Ausdrucksweise nimmt verschiedenste Gestalt an, sei es Dogmatismus, wo es am offensichtlichsten ist, oder Szientismus, der eigentlich nur eine andere Form des Dogmatismus ist, oder sei es Fundamentalismus.
Auch der Moralismus ist eine Gestalt der Furcht; denn er bedeutet, dass man sich an etwas festhält, das man tun kann ‒ es ist das, was Paulus das Gesetz im Gegensatz zur Gnade genannt hat, oder die Werke im Gegensatz zum Glauben.
Man tut etwas: solange man es tun kann, hat man etwas im Griff. Man braucht auf nichts zu vertrauen; man vertraut auf das, was man erreichen und handhaben kann.
Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass es auf der Welt nur noch zwei Arten gibt, religiös zu sein. Wenn Sie mir den Ausdruck gestatten, dann will ich die eine Art die fundamentalistische nennen, das ist die Religion der Furcht.
Es ist zwar ganz offensichtlich, dass sie in meinem Sinne eigentlich gar keine Religion ist, aber sie wird nun einmal Religion genannt, und so wollen wir es bei diesem falschen Ausdruck belassen: es ist die Affenreligion, die äffende Religion, die Religion der Furcht.
Und im Gegensatz dazu steht die katholische Religion, aber wir wollen katholisch bitte mit einem kleinen «k» schreiben, denn das große Problem der Katholiken besteht darin, dass sie nicht katholisch genug sind. Es gibt katholische Buddhisten, die viel katholischer als die Katholiken mit dem großen «K»[4] sind, und es gibt katholische Juden und katholische Muslime und katholische Hindus. Es gibt sogar katholische Atheisten, aber auch fundamentalistische Atheisten. Hier eben verläuft die Trennungslinie.[5]
Richtig verstanden, ist «katholisch» nicht das Markenzeichen einer bestimmten Gruppe von Christen ‒ «allumfassende Teilgruppe» ist ein offensichtlich widersinniger Begriff ‒, sondern kennzeichnet die Gemeinschaft aller, die mit dem uns Menschen angeborenen Ur-Glauben dem Leben vertrauen.
Wer sollte da ausgeschlossen sein? Selbst Tiere und Pflanzen haben ja auf ihre eigene Art dieses Ur-Vertrauen. Auch wenn dieser Glaube manchmal einem Menschen selber nicht bewusst ist, im tiefsten Herzen bleibt er immer lebendig.[6]
Es würde nicht der Wahrheit entsprechen, wenn wir behaupten wollten, die großen Traditionen der Spiritualität verhielten sich zueinander komplementär. Ja, es wäre falsch, sich vorzustellen, sie ließen sich alle «zum Richtigen» zusammenfassen. Jede von ihnen ist «das Richtige». Sie sind nicht komplementär, sondern interdimensional. Jede enthält jede, wenn auch mit den größtmöglichen Unterschieden bezüglich der Akzentuierung. Daher ist jede einmalig.
Jede ist in ihrer Art auch die höchste. Wo bleibt da der christliche Anspruch auf Universalität? Richtig verstanden, ist er nicht eine Art von kolonialem Anspruch, sondern er verweist auf innere Horizonte. Es verlangt nicht von den anderen, sondern von uns Christen, dass wir immer und immer wieder die vernachlässigten Dimensionen unserer eigenen Tradition wiederentdecken, damit wir wahrhaft universal, also wirklich katholisch werden.[7]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3, 5-7]
[Ergänzend:
1. Video Vom Ich zum Wir (2021): «Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität»: Bruder David im Interview mit Egbert Amann-Ölz im Rahmen des Online-Pfingstkongresses (14.-24. Mai 2021), siehe auch Transkription Pfingstkongress, 4-7:
(16:10) «Es ist mir bewusst geworden – im Laufe meines Lebens –, dass die verschiedenen Religionen Ausdrücke, Ausdrucksformen einer einzigen allgemeinmenschlichen Religiosität sind: Ich beginne mit der Einsicht – und es ist eine Einsicht, zu der jeder Mensch kommen kann –, dass wir als Menschen auf Religiosität – nicht auf Religion – angelegt sind.
Und unter Religiosität verstehe ich: Es macht uns erst zu Menschen, dass wir mit dem großen Geheimnis, das hinter allem steht, ringen müssen und uns mit ihm auseinandersetzen müssen im Lauf unseres Lebens. Wir sind die religiösen Tiere, unter den Tieren jene, die sich dieses großen Geheimnisses bewusst sind und mit ihm umgehen lernen müssen und darin besteht unsere Lebensaufgabe.»
Egbert Amann-Ölz: «Bei dir hat man es auf jeden Fall gespürt: Du bist im Herzen der Katholischen Kirche verankert und hast aber die Fühler ganz weit ausgestreckt. Ja, du hast eine Verbindung zu allen Menschen, unabhängig von der Religion, aber auf dieser Basis der Religiosität, hab ich den Eindruck.»
Bruder David: «Das ist eben die Basis: Die glühende Religiosität, die leider in den meisten Menschen nicht zu glühen ist, aber ein kleiner Funke wenigstens ist, den man wieder zur Flamme entfachen kann: Die sind in uns – unser größtes Interesse! – wenn es nur möglich gemacht wird, uns wirklich damit auseinanderzusetzen.»
2. Audios
2.1. Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018)
Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast:
(01:57) Der Begriff Religion ist zweideutig: «Einerseits bedeutet Religion ‹die Religionen›. Aber Religion hat auch noch eine zweite Bedeutung, nämlich ‹die uns Menschen angeborene Religiosität›. Und die drückt sich dann in den Religionen aus. So wie wir eine uns Menschen angeborene Sprachbegabung haben, die sich in den verschiedenen Sprachen ausdrückt. Man kann nicht Sprachbegabung sprechen, man kann nur Deutsch, Französisch oder Italienisch sprechen.
Und jede Sprache ist sehr wichtig, weil, wenn man mehrere Sprachen kennt, weiß man, wie schöne Einsichten man einfach gewinnt dadurch, dass man sich so ausdrückt. Man kann das in einer andern Sprache überhaupt nicht sagen. Es gibt viele deutsche Wörter, wo es keine Parallele gibt, z. B. ‹Vorfreude›: In keiner mir bekannten Sprache gibt es das Wort ‹Vorfreude›. Das muss man umschreiben. Das ist ein wunderschönes Wort: ‹Vorfreude ist die schönste Freude›. Das ist nur ein winziges Beispiel. Aber jede Sprache hat ihre Bedeutung und ihre Schönheit und ihre Einzigartigkeit, und so ist es mit den Religionen. Die haben auch jede ihre eigene Schönheit, aber die wachsen alle heraus aus diesem Mutterboden unserer Religiosität.»
(04:12) «Manche Leute nennen es Spiritualität [oder Ethik][8]. Ich nenne es gerne ‹Religiosität›, weil dieses Wort ‹Religion› ein sehr schönes Wort ist und außerdem zeigt es in dem Zusammenhang: aus der Religiosität wachsen die Religionen, das ist einleuchtend.
Und Religiosität heißt ja ‒ das ist nicht unbedingt stichhaltig ‒, aber die meisten Etymologen sagen, dass es mit ‹religare› zu tun hat, und das heißt, wie ‹re› ‒ ‹wieder› und ‹ligare› wie ‹Liga› und ‹Ligamente›, ‹wiederverbinden›.
Also Religion [im Sinn von Religiosität] ist das, was gebrochene Verbindungen wieder verbindet. Und zwar die Verbindung zwischen uns und dem großen Geheimnis Gottes, die Verbindung zwischen den Menschen untereinander und die Verbindung zwischen jedem und jeder von uns und unserm tiefsten wahren Selbst. Also das alles ist Aufgabe der Religion, uns wieder zu verbinden, wo wir zerbrochen sind.
Und diese Religiosität ‒ wenn wir sie pflegen, tut das. Also sie verbindet uns. Weil: es gibt nur eine menschliche Religiosität. Und viele, viele Religionen.
Und die Religionen sind zu ganz verschiedenen Zeiten entstanden und haben sich auf ganz verschiedene Weise fortgepflanzt, ganz verschiedene Geschichten usw.. Das muss man alles in Betracht ziehen und darum ist es nicht sehr leicht, die Religionen als verbindend anzusehen.
(06:09) Da kommt noch etwas dazu: Die Religionen sind alle heutzutage schon Institutionen geworden, und wir wissen alle, dass Institutionen für einen bestimmten Zweck gegründet werden ‒ sagen wir erzieherische Institutionen oder medizinische Institutionen oder politische Institutionen ‒, die werden für einen guten Zweck gegründet. In der kürzesten Zeit denkt niemand mehr an den Zweck, sondern nur mehr an die Institution und will die verwirklichen und verewigen. Und alles dreht sich um die Institution und der Zweck ist schon vergessen.
Das gilt auch für die Religionen als Institutionen. Die sind sehr in sich selbst verfangen. Ich bin ganz dafür, dass man so Begegnungen hat wie die in Assisi[9] usw.. Die Begegnung der Religionen ist äußerst wichtig, aber man darf nicht soviel davon erwarten. Und ich habe viel Erfahrung damit und so kann ich das aus Erfahrung sagen.
Aber von Meditation, wo Menschen sich auf ihre eigene Religiosität einlassen, kann man sehr viel erwarten. Im Augenblick, wo jemand wirklich ein spiritueller Mensch ist, versteht er sich mit allen andern spirituellen Menschen und nicht nur das: ist aufgeschlossen und nicht feindlich gegen andere, die er nicht so gut versteht, oder die sogar gegen uns feindlich sind.
Also das ist eine ganz andere Bewegung: Wir müssen in die Religiosität gehen oder in die Spiritualität, die uns verbindet, und von daher unsere Religionen, die ja sehr wertvoll sein können, immer wieder erneuern.
Wir sind verantwortlich dafür, unsere Religion immer wieder aus den Quellen unserer eigenen persönlichen Religiosität zu erneuern, zu beleben und in ihr das Leben einfließen zu lassen.
Und wenn man das macht, dann sieht man einerseits, wieviel Schönheit in der eigenen Religion … und wieviel Schönheit in den andern ist. Und immer wieder kommt mir unter, dass Leute, die Jahre und Jahrzehnte Buddhismus praktizieren und lange Christen waren, und das schon halbwegs vergessen haben, endlich sagen: Durch meine buddhistische Spiritualität ‒ nicht durch den Buddhismus, sondern durch meine Meditation ‒: endlich verstehe ich, was im Christentum wesentlich ist. Jetzt bin ich wieder offen für das Christentum. Immer wieder kommt das vor. Oder Judentum: genau dasselbe.
(11:08) «Und besonders auch, wenn Leute Schwierigkeiten haben mit ihrer Religion oder mit dem Religionsunterricht oder ihrer religiösen Erziehung usw., ist es ein sehr einfacher Kunstgriff, das einmal still liegen zu lassen und auf die Religiosität zu sprechen zu kommen, die man voraussetzen kann: Jeder Mensch hat diese tiefe Religiosität.
2.2. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 2-5:
«Worum geht es bei der Religiosität? Das ist uns unbedingt wichtig, wenn wir unser Thema beantworten wollen. Worum geht es bei der Religiosität und zwar jetzt, in Ihrem Erleben?»
3. Texte
3.1. Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit (2022): Interview von Stefan Seidel mit Bruder David:
«Mir wurden ungewöhnliche Gelegenheiten geschenkt, andre spirituelle Traditionen aus nächster Nähe kennenzulernen, besonders den Zen Buddhismus. Das gab meinem christlichen Glauben Anstoß, allumfassend, also im Vollsinn des Wortes ‹katholisch› zu werden. Ich sehe jetzt, dass die verschiedenen Religionen – meine eigene eingeschlossen – wie verschiedene Brunnen aus ein und demselben Grundwasser menschlicher Religiosität schöpfen. Diese Religiosität ist die uns als Menschen angeborene Beziehung zu dem großen Geheimnis, das wir Gott nennen. Ein solcher Brunnen, wie unsere christliche Tradition einer ist, stellt ein unermessliches Geschenk dar. ‹Geh nicht von einem zum andern›, warnt Swami Satchidananda: ‹Wenn du einen gefunden hast, grab‘ immer tiefer›. Das habe auch ich mir zu Herzen genommen. Es erweitert den Horizont und ist für das dringend notwendige gegenseitige Verständnis ungemein wichtig, andre Religionen kennenzulernen; es ist aber auch wichtig zu wissen, wo wir zuhause sind.»
3.2. «Die Religion religiös machen», in: Verbunden trotz Abstand (2021), 43-64; siehe auch: Die Religion religiös machen im Buch Andere Wirklichkeiten (1984), 195-204
3.3. Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt, Mystiker zu sein (2020): Interview von Evelyn Gander mit Bruder David:
Evelyn Gander: «Osttirol ist eine sehr traditionell katholisch geprägte Region und andere Religionen werden oft als Widerspruch zur eigenen wahrgenommen. Wie kann es gelingen zwischen den Religionen Verbindendes zu erkennen und damit Ängste abzubauen?»
Bruder David: «Das Herz jeder Religion ist die Religion des Herzens. Sie ist uns Menschen angeboren, und auf sie allein kommt es letztlich an. Sie wird uns als Ehrfurcht bewusst, wenn wir dem großen Geheimnis der Natur und des menschlichen Lebens begegnen, und drückt sich im Alltag aus durch ehrfürchtigen Umgang mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen. Die verschiedenen Religionen drücken diese eine uns allen gemeinsame Religiosität auf verschiedene Weise aus, weil sie in unterschiedlichen geschichtlichen Epochen entstanden sind und von ganz unterschiedlichen Kulturen geprägt wurden.
Bildlich gesprochen, sind die Religionen wie Brunnen, die alle aus ein und demselben unterirdischen Sammelbecken ihr Wasser heraufpumpen. Wenn es uns auf Äußerlichkeiten ankommt, werden wir uns am Baustil der uns fremden Brunnen stoßen. Wenn uns aber das Trinken das Wichtigste ist, werden wir den Geschmack des Wassers aus dem uns vertrauten Brunnen bei allen anderen wiedererkennen und uns an der vielfältigen Schönheit der verschiedenen Brunnen freuen.»
3.4. Von Augenblick zu Augenblick (2020): Interview von Esther Platzer mit Bruder David:
Esther Platzer: «Es gibt unterschiedliche Religionen auf dieser Welt. Warum stehen sie miteinander in Konkurrenz?»
Bruder David: «Ich möchte mit einer Definitionsfrage beginnen. Wir sollten zwischen Religion im Sinne von Religiosität und Religion als Institution unterscheiden. Auf der Ebene der Institution kann keine Vereinigung stattfinden. Eine Institution – und jede der großen Religionen ist eine Institution geworden – vergisst sehr bald, wofür sie gegründet wurde. Sie verwendet ihre Energie darauf, sich selbst zu verewigen.
Das ist allen Institutionen gemeinsam, sei es politischer, medizinischer oder auch akademischer Natur. Religion ist keine Ausnahme. Auf institutioneller Ebene tauscht man vielleicht freundliche Worte untereinander aus, und wenn wir Glück haben, bekämpft man sich nicht, doch Religionen werden auf institutioneller Ebene sicherlich nicht zusammenfinden.»
«Und worauf setzen Sie dann Ihre Hoffnung?»
«Das Einzige, was den Zwiespalt überwinden kann, ist die Rückbesinnung auf Religiosität. Sie verbindet uns alle, ist angeboren. Menschsein bedeutet, sich mit den Geheimnissen des Lebens zu befassen.»
«Was meinen Sie genau mit Religiosität?»
«Ich will es mit einem Bild veranschaulichen: Stellen wir uns Religiosität als eine Art Grundwasser vor. Im Laufe der Geschichte bauten die Religionsgründer Brunnen. Gautama Buddha baute einen, Jesus auch. Beide befördern Grundwasser, also Religiosität an die Oberfläche, beide mit Brunnen, die für ihre Kultur und in ihren Kontext passten.»
«Und was folgt daraus?»
«Im interreligiösen Dialog lassen sich entweder die verschiedenen Brunnen miteinander vergleichen, oder wir vergleichen das Wasser, das diese Brunnen ans Tageslicht bringen. Wer das tut, wird bemerken, dass das Wasser immer das Gleiche ist. Es ist also die Aufgabe von Religionszugehörigen, in der Begegnung mit anderen Glaubensrichtungen immer so tief hinunterzugehen, dass sie das lebendige Wasser herausholen. So schafft man es, Gemeinsamkeiten zu erkennen und nicht auf die Unterschiede zu achten.»
3.5. Es geht im Leben darum, unsere Verbundenheit zu feiern (2019): Interview von Michaela Gründler mit Bruder David:
Michaela Gründler: «Sie haben sich im Laufe Ihres Lebens immer wieder mit Vertretern anderer Religionen vernetzt. Was ist das Verbindende zwischen den Religionen?»
Bruder David: «Da müssen wir zunächst unterscheiden zwischen der allen Menschen angeborenen Religiosität und den Religionen.
Zu der Zeit, wo eine Religion gegründet wird, verfestigt sich eine von den vielen möglichen Ausdrucksformen der allgemein menschlichen Religiosität – der Begegnung mit dem großen Geheimnis.
Aber auf diese Religiosität kann man immer wieder von jeder der Religionen zurückgreifen. Auf dieser Basis kann ein Christ von einem Mohammedaner etwas lernen und umgekehrt, und sie können sogar gemeinsam beten.
Bei der Annäherung der verschiedenen Religionen als Institutionen sehe ich eher schwarz. Sie nähern sich vielleicht unter Druck an oder aus politischen Gründen, vielleicht auch mit guter Absicht, aber jede Institution will sich letztlich von der anderen abgrenzen.
Aber in der allgemein-menschlichen Religiosität, die das Leben als Ganzes sieht und jeder Religion auf verschiedene Weise zugrunde liegt, sind wir von Anfang an verbunden. Sich diese Verbundenheit bewusst zu machen, ist ungeheuer wichtig im interreligiösen Dialog.»
Michaela Gründler: «Worin besteht diese allgemein menschliche Religiosität genau?»
Bruder David: «Darin, dass wir als Menschen gar nicht umhinkönnen, uns mit dem großen Geheimnis des Lebens auseinanderzusetzen. Diese Beschäftigung kann man verschieben, solange man noch jung ist und andere Interessen hat. Aber für ein volles Menschenleben kann man nicht umhin, sich mit dem Warum, dem Was und dem Wie des Lebens auseinanderzusetzen. Warum gibt es uns überhaupt? Was schenkt uns das Leben und was verlangt es von uns? Wie sollen wir miteinander verbunden leben, um glücklich zu sein? Diese Grundfragen, die kein Mensch früher oder später umgehen kann, führen uns in das große Geheimnis hinein.»
3.6. Radikales, mutiges Vertrauen in das Leben (2019): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:
Anne Voigt: «Welche Rolle spielt die Religion?
Bruder David: «Hans Küng, der große Vertreter des ‹Projekts Weltethos›, betont, dass man eigentlich von Menschenpflichten und nicht nur von Menschenrechten sprechen sollte. Und auch der Dalai Lama spricht in seinem Buch ‹Ethik ist wichtiger als Religion› von Menschenpflichten. Institutionelle Religion steht ihnen oft im Wege. Mir ist wichtig, dass der religiöse Dialog eigentlich nicht ein Dialog zwischen Religionen ist, sondern ein Dialog zwischen Menschen, die verschiedenen Religionen angehören, sich aber auf der Ebene des gemeinschaftlich Menschlichen treffen. Darum ist der interreligiöse Dialog ganz wichtig.»
«Ist innerhalb dieses Dialogs die Religion also gar nicht so wichtig?»
«Ja, allerdings nicht in dem Sinne, wie es manchmal beschrieben wird. Es geht nicht um die Frage, was wir beispielsweise als Christen, Buddhisten oder Hindus glauben und was nicht. Vielmehr sollte der interreligiöse Dialog als ein Dialog aller Menschen verstanden werden.»
«Stehen religiöse Institutionen dem Dialog im Weg?»
Bruder David: «Die Institution ist dafür da, uns immer wieder an die Quelle zurückzuführen. Aber sie möchte sich als Institution auch selbst verewigen und vergisst sehr bald, wofür sie gegründet wurde. Das ist eine große Gefahr. Das gilt nicht nur für religiöse und spirituelle Institutionen, sondern etwa auch für akademische oder politische. Ich nenne es das Syndrom der rostigen Röhren, denn Institutionen verhalten sich so. Es sind rostige Röhren, die uns aber auch immer wieder das Wasser der ursprünglichen Quelle zuführen.»
3.7.1. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 35f., [bzw. Fülle und Nichts (2015), 33f.]:
«Ruhelos ist unser Herz.» So drückte Augustinus es aus.
Der Kern unseres Wesens ist ein unerbittliches Fragen, Suchen, Sehnen.
Selbst das Schlagen des Herzens in meiner Brust scheint lediglich das Echo eines tieferen Hämmerns in mir zu sein, eines Klopfens an eine verschlossene Tür.
Noch nicht einmal das ist mir klar: Klopfe ich, um hereinzukommen, oder klopfe ich, um herauszugelangen?
Eins aber ist gewiss: Ruhelos ist unser Herz. Und jene existenzielle Ruhelosigkeit ist das, was Religion religiös macht.
Jede Religion stellt nur den Rahmen für die Suche des Herzens bereit.
Innerhalb jeder Religion gibt es unzählige Wege, religiös zu sein.
Durch persönliches Suchen müssen wir unseren eigenen finden. Das kann niemand anders für uns erledigen.
Diese oder jene Religion mag den historischen, kulturellen, soziologischen Rahmen dazu liefern. Sie mag uns eine Interpretation unserer Erfahrung anbieten, eine Sprache, um darüber zu sprechen. Wenn wir Glück haben, liefert sie uns vielleicht Anreize, die uns bei unserer Suche wach und aufmerksam halten, und Kanäle, die ihre Antriebskraft davor schützen zu versickern, auszulaufen.
All dies ist von unschätzbarem Wert. Und doch sind das äußere Dinge.
Das Herz jeder Religion ist die Religion des Herzens.»
Am Schluss des Buches zum Schlüsselbegriff Religion
3.7.2. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 182f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 183f.] der Schlüsselbegriff «Religion»:
«Religionen sind Wege, religiös zu sein. Wir denken an die zugrundeliegende Religiosität, wenn wir von Religion im Gegensatz zu Religionen sprechen. Wir bräuchten ein Tätigkeitswort, ein Verb, um auszudrücken, worum es bei Religion geht. Aber während uns Wörter wie ‹Religion› und ‹religiös› zur Verfügung stehen, ist es nicht möglich zu sagen, jemand ‹religione›.
Beten ist das Tätigkeitswort im Zusammenhang von Religion. Beten (im weitesten Sinne) ist das, was verhindert, dass religiöse Erfahrung in bloßen religiösen Strukturen vertrocknet. Erfahrung ist der Ausgangspunkt von Religion. Es ist nicht zu vermeiden, dass Intellekt, Wille und Emotionen ‒ alle in der ihnen eigenen Weise ‒ mit der Erfahrung fundamentaler Zugehörigkeit ringen. Der Intellekt interpretiert die Erfahrung, und das führt zur religiösen Lehre. Der Wille erkennt die Implikationen an, was die ethische Seite begründet. Die Emotionen feiern die Erfahrung durch das Ritual.
Religion aber ist nicht automatisch religiös. Jene drei Hauptbereiche jeder Religion neigen immer dazu, zu Dogmatismus, Legalismus und Ritualismus zu schrumpfen, wenn sie nicht immer wieder von persönlicher Erfahrung belebt werden. Dieser Prozess ist das Gebet. Gebet in diesem Sinne macht Religionen religiös.»
3.8. Liebe ‒ die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017):
«Wir müssen unterscheiden zwischen Religion [im Sinn von Religiosität] und den Religionen. Die Religionen sind verschiedene Brunnen, die Wasser heraufholen aus dem allen gemeinsamen Grundwasser der Religion.
Religion, wenn wir dieses Wort vom lateinischen ‹re-ligare› herleiten wollen, ist das Wieder-Verbinden und Heilen zerrissener Beziehungen – zu unserem echten Selbst, zu unserer Mit- und Umwelt und zum großen Geheimnis, mit dem wir uns als Menschen unvermeidlich auseinandersetzen müssen, um Sinn im Leben zu finden.
Geheimnis ist kein vager Begriff, sondern bedeutet jene Wirklichkeit, die wir nicht durch Begriffe in den Griff bekommen können, die uns aber verständlich wird, wenn sie uns ergreift. Wir kennen diese Ergriffenheit von der Musik, deren Wesen sich ja auch unseren Begriffen entzieht.
Dem Geheimnis begegnen wir in allen ergreifenden Lebenserfahrungen, etwa in Gipfelerlebnissen, bei der Geburt eines Kindes, im Angesicht des Todes und vor allem in der Liebe, weil sie das Ja zum Leben ist und so das Ja zum Geheimnis. Das Herz aller Religionen ist die Religion des Herzens: die Liebe.
Das griechische Wort ēthos bedeutet in erster Linie unsere menschliche Natur, unsere grundlegende Veranlagung – unsere innerste Ausrichtung also auf das große Geheimnis, unsere Religiosität.
Weil aber die meisten Menschen heute an die Religionen denken, wenn von Religion die Rede ist, liegt es nahe, lieber das Wort Ethik zu verwenden statt Religion oder Religiosität. Aus dieser Erwägung gibt S.H. der Dalai Lama seinem Appell an die Menschheit den Titel ‹Ethik ist wichtiger als Religion›. Er will damit aber das Gleiche sagen wie: Religion ist wichtiger als die Religionen.
Wenn das Herz jeder Religion die Religion des Herzens ist, dann ist das Herz jeder Ethik die Ethik des Herzens – die Sehnsucht glücklich zu werden und – untrennbar davon – andere glücklich zu machen. In aller Welt drückt die Volksweisheit diese Einsicht ähnlich aus wie bei uns: ‹Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.›
Ob wir es Religion nennen, Ethik oder Spiritualität, immer geht es um ‹die elementarste aller menschlichen Urquellen in uns›, – wie der Dalai Lama sie nennt. Aus dieser einen Quelle schöpfen alle Religionen und alle Systeme ethischer Normen.»
3.9. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 177-182:
«Ein Bild, das ich manchmal verwendet habe, um die Beziehung zwischen der mystischen Erfahrung und der religiösen Tradition zu veranschaulichen, ist das eines Vulkanausbruchs. Da ist das heiße Magma, das aus den Tiefen der Erde emporschießt und dann an den Seiten des Vulkans herabfließt. Je länger es fließt, desto mehr kühlt es sich ab, und je mehr es sich abkühlt, desto weniger erinnert es an den ursprünglichen feurigen Zustand. Am Fuße des Berges finden wir dann lediglich übereinander gelagerte Felsschichten. Niemand würde denken, dass diese einst weißglühend waren. Da kommt nun aber der Mystiker. Er bohrt ein Loch durch die übereinander gelagerten Felsschichten, bis das Feuer, das ursprüngliche Feuer, wieder emporschießt. Da jeder von uns ein Mystiker ist, besteht darin unsere Aufgabe. Doch sobald wir zu dieser Verantwortung gereift sind, prallen wir unweigerlich mit der Institution zusammen.
Die Frage lautet: ‹Besitzen wir die Gnade, die Stärke und den Mut, unsere prophetische Aufgabe auf uns zu nehmen›?»]
____________________________
[1] Orientierung finden (2021), 64, 65f.
[2] Orientierung finden (2021): «Das System ‒ die Macht, die Leben zerstört», 41:
«Das ‹System› kann nicht lächeln. Es kümmert sich um keinen Menschen. Ihm ist alles egal. Wir haben es ja mit einer völlig unpersönlichen Machtstruktur zu tun, obwohl sie wie von einem irrsinnigen Machthaber gesteuert erscheinen mag. In seinem Wesen ist das ‹System› uneingeschränkte Unpersönlichkeit ‒ Inbegriff eines leeren Nichts mit mörderischer Macht. Wo es eindringt, zerstört es das Bewusstsein gegenseitiger Zugehörigkeit und die Anerkennung persönlicher Einzigartigkeit ‒ die beiden Voraussetzungen von Menschenwürde. Sich gegen das ‹System› aufzulehnen, heißt also ‒ kurz und positiv auf eine Formel gebracht ‒ für Menschenwürde einzutreten. Menschenwürde entspringt letztlich der Ehrfurcht vor dem Geheimnis.»
[3] Orientierung finden (2021): «Religionen ‒ verschiedene Sprachen für das Unaussprechliche», 69f.
[4] Katholisch identisch mit «Römisch-Katholisch»
[5] Der Mönch in uns (1978)
[6] Credo: «Ein Glaube, der alle verbindet» (2015), 189
[7] Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 9 «Unsere Suche nach dem letzten Sinn», 128f.
[8] Siehe Liebe ‒ die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017) in Ergänzend: 3.8:
«Weil aber die meisten Menschen heute an die Religionen denken, wenn von Religion die Rede ist, liegt es nahe, lieber das Wort Ethik zu verwenden statt Religion oder Religiosität.»
[9] Von 18. bis 20. September 2016 hatten sich in Assisi rund 500 Vertreter von einem Dutzend Religionen versammelt, um den Dialog zwischen den Glaubensgemeinschaften voranzutreiben. An der Zusammenkunft mit knapp 30 Podiumsrunden sowie Vorträgen und Gebeten nahmen insgesamt mehr als 10.000 Menschen teil. Neben dem Dialog der Religionen ging es auch um Themen wie Recht auf Nahrung, Migration und Bewahrung der Schöpfung.
Riechen, Düfte, Erinnerung
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Gerüche der Kindheit fallen mir viele ein, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.
Da ist zum Beispiel der Lavendelgeruch in der Wäschelade meiner Mutter. Sie hat immer Lavendel zur Wäsche gelegt, und beim Öffnen der Lade hatte man sofort diesen Lavendelduft in der Nase.
Oder der Geruch von Lindenblüten. Wir hatten zwei große Linden vor dem Haus, vor unserem Fenster. Das ist ein unvergesslicher Duft, der Duft von Lindenblüten.
Ein Geruch, der gar nicht so typisch ist, aber der mir auch sofort einfällt: der Geruch von zertretenem Unkraut, hinter dem Haus, hinter dem Stall. Ich bin zum Teil auf dem Land aufgewachsen, unser Nachbar hatte einen Bauernhof, und wenn wir da hinter dem Haus herumgerannt sind, bei unseren Schleichwegen, da kam immer wider der Geruch von zertretenem Unkraut. Die Brennnesseln riechen ja stark, und auch alle anderen Pflanzen haben ihren eigenen Geruch.
Der Kuhmist im Stall, der Heuboden, der Geruch der frischen, warmen Milch! Und dann erst die Jahreszeiten!
«Es riecht nach Schnee!»
Dieser Schneegeruch. Und der frische Luft-Geruch, dieser frische kalte Luft-Geruch in den Windjacken, wenn man sie in der Stube aufhängt im Winter!
Der Geruch der Bratäpfel auf dem Herd, der Geruch der Maroni!
Ein wichtiger Geruch für mich, das ist der Geruch von Mimosen. Früher hat man zu den Rosen immer Mimosen getan.
Bei allen Tanten- und Verwandten-Besuchen haben wir Blumen mitgebracht, und da waren auch diese kleinen gelben Mimosen dabei. Das ist für mich so ein Besuchs-Geruch von Mimosen.
Zu Ostern haben wir uns aus kleinen Blechdosen so Weihrauch-Schwinger gebastelt, mit glühenden Baumschwämmen als Holzkohle, darauf kam der Weihrauch, so sind wir umhergezogen, das war unser Ostergeruch.
Ich weiß bis heute, wie verschieden verschiedene Menschen riechen können. Ich hatte da ein interessantes Erlebnis mit so einem Geruch. Men Beichtvater in Heiligenkreuz, Pater Walter, der hatte einen eigenen Geruch, da war Weihrauch dabei, und auch der Geruch von altem Stoff. Die Gewänder hängen ja in so einem feuchten Raum, das riecht ein wenig stockig. Jedenfalls hatte mein Beichtvater einen eigenen, für ihn typischen Geruch, der mir sehr vertraut war.
Ich war dann schon jahrelang weg, weit weg, ich lebte schon in Amerika, da ist es mir ‒ zwei-, dreimal ‒ passiert, und zwar immer in Krisensituationen, dass ich ihn plötzlich gerochen habe.
Noch bevor ich überhaupt an ihn gedacht habe, war sein Geruch schon da. Dieser Pater Walter war so ein Seelenführer, ein Seelenhelfer für mich. Und komisch, immer in Krisensituationen war plötzlich sein Geruch da, als ob er gegenwärtig gewesen wäre im Zimmer.
So ein Geruch kann sehr tröstlich sein. Seine Anwesenheit zu spüren ‒ allein über den Geruch ‒, das hat mir schon geholfen.[1]
Die linden Lüfte sind erwacht,
sie säuseln und wehen Tag und Nacht,
sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muss sich alles, alles wenden.
Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
man weiß nicht, was noch werden mag,
das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste, tiefste Tal:
nun, armes Herz, vergiss der Qual!
Nun muss sich alles, alles wenden!Ludwig Uhland[2]
Gott ist zu einfach, um mehr als ein einziges Wort zu sprechen. Es ist wie bei Liebenden. Alles, was sie einander letztlich zu sagen haben, ist:
«Ich liebe dich.»
Das aber will wiederholt werden.
Gottes Botschaft ist immer die gleiche. Aber die Sprachen, in denen das ewige Wort ausgedrückt wird, sind unendlich vielfältig.
Vielleicht hörst du die Botschaft in einem Apfelgarten, der in voller Blüte steht. Doch die gleiche Botschaft spricht sich auch in einem Waldbrand aus.
Der Unterschied kann erschreckend sein, aber das gleiche Wort immer wieder in neuen Sprachen zu hören, macht aus dem Leben ein herrliches Spiel, ein göttliches Wortspiel.
Das auf der Wiese spielende Pferd spricht Gottes Wort aus, die auf meinem Schoß schlafende Katze tut dasselbe, nur anders.
Alles und jedes ist einzigartig und unübertragbar.
Gedichte können nicht übersetzt werden; im besten Fall kann man sich ihnen in einer anderen Sprache annähern.
In einem Gedicht zählt die Sprache so sehr wie die Botschaft.
Gott ist Dichter. Wenn wir wissen wollen, was Gott in einer Tomate sagt, dann müssen wir uns eine Tomate anschauen, sie fühlen, riechen, in sie hineinbeißen, den Saft und die Samen über uns spritzen lassen, wenn sie platzt.
Wir müssen sie auskosten und dieses Tomatengedicht in unser Herz aufnehmen.
Was aber Gott zu sagen hat, kann in Tomatensprache nicht erschöpfend zum Ausdruck gebracht werden.
Also gibt uns Gott auch Zitronen und spricht auf zitronesisch.
«Vom Wort Gottes leben» bedeutet, ein Leben lang Gottes Sprachen eine nach der anderen zu erlernen.[3]
ROSE, du thronende, denen im Altertume
warst du ein Kelch mit einfachem Rand.
Uns aber bist du die volle zahllose Blume,
der unerschöpfliche Gegenstand.In deinem Reichtum scheinst du wie Kleidung um Kleidung
um einen Leib aus nichts als Glanz;
aber dein einzelnes Blatt ist zugleich die Vermeidung
und die Verleugnung jedes Gewands.Seit Jahrhunderten ruft uns dein Duft
seine süßesten Namen herüber;
plötzlich liegt er wie Ruhm in der Luft.Dennoch, wir wissen ihn nicht zu nennen, raten ...
Und Erinnerung geht zu ihm über,
die wir von rufbaren Stunden erbaten.Rainer Maria Rilke[4]
Es heißt immer, dass in der Erinnerung besonders Düfte sehr heftig Erinnerungen auslösen: Wer kennt nicht viele, viele Kindheitserinnerungen, die mit Düften zu tun haben. Die Lade [Schublade] der Großmutter und die vielen Speisen zu besonderen Festzeiten. Das heißt doch, dass die Erinnerung zusammenhängt mit dem Geruchssinn. Das ist weitgehend bekannt. Aber hier geht’s noch um etwas Anderes:
Seit Jahrhunderten ruft uns dein Duft
seine süßesten Namen herüber ‒
das ist auch interessant ‒
plötzlich liegt er wie Ruhm in der Luft.
Dennoch, wir wissen ihn nicht zu nennen, wir raten …
Das ist der Augenblick, wo es wirklich wortlos ist.
Es ist nur die Begegnung mit dem Geheimnis durch das verkörperte Geheimnis in der Rose oder in irgendeinem anderen Gegenstand:
wir wissen ihn nicht zu nennen, wir raten …
Und dann kommt der nächste Schritt:
Und Erinnerung geht zu ihm über,
die wir von rufbaren Stunden erbaten.
Erinnerung ist dann eine rufbare Stunde, eine Erinnerung ist dann etwas, was wir benennen können und wir geben dem Duft dann einen Namen, aber eigentlich wissen wir nicht zu nennen, wir raten.
Und das ist oft sehr gut, diesen Augenblick einzuschieben: wenn man irgendetwas riecht: nicht es gleich benennen!
[Bruder David berichtet von einem Experiment in einer Gruppe von jungen Leuten, die über die Sinne und Sinneserfahrungen sprachen und über diesen Punkt]:
In mehreren, vielleicht so ein halbes Duzend oder mehr, kleinen Schüsseln ‒ das hat alles gleich ausgeschaut, war so eine Sauce oder so was, ‒ die haben aber ganz verschiedene Geschmäcker gehabt. Und dann konnte man mit einem Löffel von einer zur anderen Schüssel gehen und kosten. Solange man dem nicht einen Namen gegeben hat, war es ein großes Erlebnis.
Und dann sagt man «pille!»[5] und aus ist es, abgestempelt.
Aber solange man nicht benennt, hat es einen ungeheuren Effekt. Und so ist es auch nicht nur mit dem Geschmack, sondern auch mit dem Geruch. Und das sollte man immer wieder mal ausprobieren: nicht benennen: — erleben! — und dann ist es gut:
Erinnerung geht zu ihm über,
die wir von rufbaren Stunden erbaten.»[6]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Ein riesiges Feld meiner Sinneserfahrungen liegt fast völlig brach: die Welt der Gerüche. Die meisten lege ich fast unbeachtet in einer der beiden Karteimappen ab ‒ riecht gut; riecht schlecht.
Was ich schlecht nenne, war für mich als Kind spannend.
Meine kindliche Freude am Riechen möchte ich wiederfinden, um dem Fest, das Du unseren Sinnen bereitest, gerecht zu werden. Erst dann kann ich hoffen, auch im übertragenen Sinn ‹eine gute Nase zu haben› ‒ feines Gespür, Vorahnung, Urteilsvermögen.
Heute will ich wenigstens drei Gerüche bewusst feiern. Amen.»[7]
Woher kommt es eigentlich, dass unser Geruchsinn uns leicht zum Lachen reizt? Vielleicht hat es damit zu tun, dass im Bereich des Riechens Kindheitserinnerungen überall die Etikette der Erwachsenen durchbrechen. Gerüche zu erwähnen, gehört ja nicht zum guten Ton. Ich denke, dieses Lachen ist ein befreiendes Lachen. Das Kind in uns wird einen Augenblick lang frei und lacht; lacht uns vielleicht sogar aus.
Wir verdienen ja schon deshalb, ausgelacht zu werden, weil unsere Nasen so abgestumpft sind, unsere Sprache so verarmt. Umgeben von Salbei und Kamille und Kinderwindeln und Salzwind vom Meer; vom Fischmarkt am Mittag, von Nelken und neuem Sattelleder; vom Geruch alter Bücher und frischgebackenen Brotes; von Blumenläden und Auspuffgasen; von Wachs und Honig in der Imkerhütte, Leintüchern, die an der Sonne trocknen, Heringen im Fass, Heuschobern und Holzrauch in der Schneeluft; vertraut mit Kuhstall und zahnärztlichem Wartezimmer, mit Schweiß- und Sonnenölgeruch im Schwimmbad und mit dem Geruch der Kulissen, wenn der Vorhang aufgeht im Theater; umgeben von so unerschöpflichem Reichtum der Gerüche, haben die meisten von uns nur zwei Antworten gelernt: «Ah, das riecht gut!» oder «Pfui, das stinkt!»
Wir können uns gegen Sehen, Schmecken und Hören wehren, indem wir Augen und Mund schließen und uns die Ohren zuhalten. Aber wie lange können wir uns die Nase zuhalten? Sehr bald müssen wir ja doch nach Luft schnappen. Das wird zum Bild dafür, dass niemand sich der allesdurchdringenden göttlichen Gegenwart für immer verschließen kann.
So haben Mystiker es immer wieder verstanden, wenn die Braut im Hohelied dem Bräutigam zuruft:
Es riechen deine Salben köstlich;
dein Name ist eine ausgeschüttete Salbe,
darum lieben dich die Jungfrauen.[8]
Und der Bräutigam preist die Braut mit ähnlichen Worten:
Wie schön ist deine Liebe,
meine Schwester, liebe Braut!
Deine Liebe ist lieblicher denn Wein,
und der Geruch deiner Salben übertrifft alle Würze.Deine Lippen, meine Braut, sind wie triefender Honigseim;
Honig und Milch ist unter deiner Zunge,
und deiner Kleider Geruch ist wie der Geruch des Libanon.[9]
Begegnung mit Schönheit verwandelt. Und auch hier ist es bräutliche Begegnung.
Am berühmtesten ist wohl der mystische Vergleich der Braut mit einem Garten. Wenn auch die mittelalterliche Malerei nicht müde wurde, verschlossenen Garten und versiegelten Born bildlich darzustellen, in der Dichtung des Hoheliedes liegt die Betonung auf den Düften.
Meine Schwester, liebe Braut,
du bist ein verschlossener Garten,
eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born.Deine Gewächse sind wie ein Lustgarten von Granatäpfeln
mit edlen Früchten,
Zyperblumen mit Narden,Narde und Safran, Kalmus und Zimt,
mit allerlei Bäumen des Weihrauchs,
Myrrhen und Aloe
mit allen besten Würzen.Ein Gartenbrunnen bist du,
ein Born lebendiger Wasser,
die vom Libanon fließen.Stehe auf, Nordwind, und komm Südwind
und wehe durch meinen Garten,
dass seine Würzen triefen! [10]
Der Vergleich mit durchdringendem Duft wird im Neuen Testament bewusst wieder aufgenommen, wenn es in der Johannespassion heißt:
«Das Haus aber ward voll vom Geruch der Salbe»,
mit der Maria von Bethanien den Leib Jesu im Voraus für sein Begräbnis vorbereitet (Joh. 12,3).
Eine Vielzahl dichterischer und mystischer Themen klingen hier an, besonders aber das Motiv der göttlichen Weisheit,[11] die von sich sagt:
Wohlgeruch wie von Zimt und Akazien
hauche ich aus,
den Duft von feinster Myrrhe,
von Balsam, Stakte und Galban,
wie Weihrauch im Heiligtume.[12]
Für Paulus, wie für Johannes, ist Jesus Christus Gottes Weisheit in Menschengestalt und hat «sich selbst dargegeben für uns als Gabe und Opfer, Gott zu einem süßen Geruch.»[13]
«Wir selber aber», sagt Paulus, «sind Gott ein guter Geruch Christi». Denn Gott «offenbart den Geruch seiner Erkenntnis durch uns an allen Orten. Darum sind wir denen, die Christi Frohbotschaft nicht ausstehen können, ein tödlicher Gestank; denen aber, die sich daran freuen, ein lebenspendender Wohlgeruch.»[14]
Wer sich so sinnlich ausdrückt, hat offenbar nicht in Entfremdung von seinen Sinnen so tiefen Sinn gefunden.
Auch hier geht der Weg von argloser Sinnenfreudigkeit, für die jeder Geruch Geschenk ist, über die ehrfürchtige Begegnung mit dem Geber, den die Gabe versinnbildet, zur bräutlichen Vereinigung, wenn der Salbtiegel in Scherben liegt und der Duft das ganze Haus erfüllt, die ganze Welt, «wo immer die Frohbotschaft gepredigt wird».
Es ist unmöglich, Sinnliches und Übersinnliches
säuberlich auseinanderzuhalten.
Wir finden das eine im anderen. Das Hohelied ist zugleich erotische Dichtung und mystisches Bekenntnis, Zeugnis vergeistigter Sinnlichkeit und sinnlicher Geistigkeit. Nur glühend dankbare Lebensfreude kann diese Verschmelzung zustande bringen.[15]
«Duft ‒ unfassbarste aller Formen von Gegenwart, einer Gegenwart, die uns doch unausweichlich angeht.
Im Rauch herbstlicher Feuer weht er von Feldern herüber und stimmt mich schwermütig.
Unter der Jasminlaube berauscht er mich.
An blühenden Ligusterhecken und unter dem Lindenbaum am Juniabend weckt er Heimweh in mir.
Bitter steigt er von den Chrysanthemen auf und mir wird bang.
Mit Kinderfreude aber erfüllt er mich noch heute, wenn Leintücher an der Sonne bleichen oder beim Bleistiftspitzen.
Und immer noch lässt mich der Duft des Lavendelkissens sorglos einschlafen.
So flüchtig ist auch Deine Gegenwart in all ihren Formen, Du großes Geheimnis, und unnachgiebiger, als duftschwere Lüfte es sind in ihrem Anspruch an mich. Mach mein Herz bereit. Amen.»[16]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 6f., 15f.]
[Ergänzend:
1. Begegnung mit Gott durch die Sinne (1993); siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 5 ‹Gott durch die Sinne finden›, 82-90:
«Gottes unerschöpfliche Poesie kommt mir in fünf Sprachen entgegen: Gesicht, Gehör, Geruch, Gespür und Geschmack. Alles Übrige ist Deutung – genau genommen Textkritik, nicht die Poesie selbst, denn Poesie entzieht sich der Übersetzung. Sie kann nur in ihrer Originalsprache ganz erfahren werden, was für die göttliche Poesie der Sinnlichkeit umso mehr gilt. Wie kann ich also den Sinn des Lebens verstehen, wenn nicht durch meine Sinne?»
«Wann und worauf reagieren unsere Sinne am bereitwilligsten? Wenn ich mir diese Frage stelle, denke ich sofort an die Arbeit in meinem kleinen Garten. Wegen ihres Duftes habe ich dort Jasmin, Minze, Salbei, Thymian und acht Arten Lavendel. Welch eine Fülle köstlicher Düfte auf einem so kleinen Stück Erde!»
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(43:44) ‹Der Duft› (Rilke, aus dem Nachlass) – ‹Rose, du thronende› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, VI) / (51:09) Erinnerung und Ritual – ‹Köstlich ist der Duft deiner Salben. Dein Name: hingegossenes Salböl› (Hohelied 1,3):
Wer bist du, Unbegreiflicher: du Geist,
wie weißt du mich von wo und wann zu finden,
der du das Innere (wie ein Erblinden)
so innig machst, dass es sich schließt und kreist.
Der Liebende, der eine an sich reißt,
hat sie nicht nah; nur du allein bist Nähe.
Wen hast du nicht durchtränkt als ob du jähe
die Farbe seiner Augen seist.Ach, wer Musik in einem Spiegel sähe,
der sähe dich und wüßte, wie du heißst.Rilke, ‹Der Duft›
2.2. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(25:57) Riechen ‒ Duft im Hohelied. ‒ ‹Wir sind ein Wohlgeruch› (2 Kor 2,15)
2.3. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Riechen, Ahnen, Mörikes Frühlingsgedicht: ‹Er ist‘s›:
Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
‒ Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab’ ich vernommen!]
________________________
[1] Ein Geruch kann sehr tröstlich sein, Beitrag von Bruder David im Buch Salbei und Brot: Gerüche aus der Kindheit (1992), 86-88
[2] Ludwig Uhland: ‹Frühlingsglaube› in Osterbotschaft 2021
[3] Vom Worte Gottes leben ‒ Vom Festmahl des Lebens zur schmerzhaften Prüfung (2021)
[4] R. M. Rilke, Sonette an Orpheus 2. Teil, VI
[5] engl. für ‹bitter›
[6] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 45-48
[7] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 88
[8] Hohelied 1,3 (Lutherbibel 1912); Zürcher Bibel: ‹Ausgegossenes Salböl ist dein Name›
[9] Hohelied 4,10f. (Lutherbibel 1912);
[10] Hohelied 4,12-16 (Lutherbibel 1912)
[11] Siehe auch Weihnachtsgrüße 2017
[12] Jesus Sirach 24,15
[13] Eph 5,2
[14] 2 Kor 2,14-16
[15] Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 64f., 67-70
[16] Erwachende Worte (2023), ‹32 Duft›, 81
Rühmen ‒ Dasein ist Gesang
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Ein Gott vermags. Wie aber, sag mir, soll
ein Mann ihm folgen durch die schmale Leier?
Sein Sinn ist Zwiespalt. An der Kreuzung zweier
Herzwege steht kein Tempel für Apoll.Gesang, wie du ihn lehrst, ist nicht Begehr,
nicht Werbung um ein endlich noch Erreichtes;
Gesang ist Dasein. Für den Gott ein Leichtes.
Wann aber s i n d wir? Und wann wendet e ran unser Sein die Erde und die Sterne?
Dies ists nicht, Jüngling, daß du liebst, wenn auch
die Stimme dann den Mund dir aufstößt, ‒ lernevergessen, daß du aufsangst. Das verrinnt.
In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch.
Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind.»(Rilke: Die Sonette an Orpheus 1. Teil, III) (32)
Mit einer Frage beginnt dieses Sonett und führt zu ihrer Beantwortung. Dabei dreht sich alles um die Einsicht «Gesang ist Dasein.»
Für Orpheus gilt das.
Sein Dasein und sein Singen sind eins.
Orpheus aber ist für Rilke Urbild und Vorbild des Dichters, also des Menschen schlechthin. Unsere höchste Aufgabe als Menschen ist es ja, alles, was es gibt, zu rühmen. (33)
Und wenn Rilke von Gesang spricht, geht es nicht nur ums Singen, sondern ums ganze Leben:
«Gesang ist Dasein.» (74)
In Übereinstimmung mit vielen anderen seiner Aussagen dürfen wir das auch umdrehen:
Dasein ist Gesang.
«Gesang» ist in Rilkes Wortgebrauch gleichbedeutend mit «Rühmung»:
«Rühmen, das ists! Ein zum Rühmen Bestellter
ging er hervor …»(Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII)
Wir alle sind zum Rühmen bestellt. Rühmen ist unsre höchste Aufgabe im Leben. (79)
Wie aber soll es einem Menschen gelingen, sein ganzes Leben ‒ im Blick auf Orpheus ‒ in rühmendem Singen zusammenzufassen?
Dieser Frage gibt Rilke eine spannende Formulierung: «Wie aber, sag mir, soll ein Mann ihm folgen durch dich schmale Leier?»
Spannend ist daran, dass wir zwar fühlen, was mit dem «Folgen durch die schmale Leier» gemeint ist, uns aber nicht bildlich vorstellen können, wie es aussehen könnte. Dadurch wird das Gefühl der Fragwürdigkeit noch erhöht.
Rilke nennt Orpheus einen Gott. Im griechischen Mythos ist er ein Mensch. Hier zeigt sich wieder, wie bei Rilke, wohl weitgehend unbewusst, der christliche Gottmensch durch Orpheus durchschimmert.
Auch das Eigenschaftswort «schmal» echot das Wort im Evangelium:
«Das Tor, das zum Leben führt, ist eng
und der Weg dorthin schmal» (Matthäus 7,14).
Der Philosoph Sören Kierkegaard spricht von der Freude, dass gerade die Enge der Weg ist.
Ja, denn sooft das Leben uns durch Engpässe führt, dürfen wir uns darauf verlassen auf dem rechten Weg zu sein.
Freilich, solches Lebensvertrauen fällt uns schwer. Wir zweifeln. Unser «Sinn ist Zwiespalt».
Mag die «Kreuzung zweier Herzwege» die Gabelung unseres eigenen Weges bedeuten oder seine Überschneidung mit dem Weg eines anderen Menschen, wo Zwiespalt herrscht, da «steht kein Tempel für Apoll», den Gott der Harmonie.
Den Tempel, den das Singen des Orpheus baut,
kennen nur jene, deren Herzen eins sind ‒
mit sich selbst und untereinander.
Und nur aus diesem Einssein heraus
können wir «in Wahrheit singen» ‒
authentisch, also auf solche Art,
dass unser ganzes Leben zur Rühmung wird,
denn nur dann «sind wir» wahrlich. (33f.)«Rühmen» ist das Wort, das für Rilke zusammenfast,
worum es letztlich geht, in den «Sonetten an Orpheus»,
bei allem Dichten, ja im Leben überhaupt.
Solches Rühmen ist die Frucht unserer vollen Lebendigkeit,
einer Haltung, die Zwiespalt und Zweifel überwindet
durch Lebensvertrauen.
In der ersten Fassung des Sonetts «Rühmen, das ists!» hieß es vom rühmenden Sänger ausdrücklich: «Aber der Zweifel war ihm verächtlich», denn Orpheus, der Dichter, der Mensch schlechthin, ist seinem Wesen nach auf Lebensvertrauen angelegt und so «ein zum Rühmen bestellter». (39)
Alexandra Kreuzeder: Als Menschen liegt unsere höchste Aufgabe darin, alles, was es gibt, zu rühmen, sagst du. Gilt das auch für das Leiden, das Sterben und die Vergänglichkeit?
Bruder David: Durch alles Vergängliche sieht der Tiefblick des Dichters so klar das Unvergängliche leuchten, dass er sagen kann:
«Ach, das Gespenst des Vergänglichen,
durch den arglos Empfänglichen
geht es, als wär es ein Rauch.»(Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XXVII)
Das weiß auch ein anderer Dichter, Werner Bergengruen, für den
«nichts vergänglich ist als die Vergänglichkeit.»[1] (35)
Alexandra: Diesen Tiefblick zu erlernen, sollten wir uns wohl alle bemühen. Er ist tröstlich. Da bleiben uns aber trotzdem noch Leiden und Sterben und alles Schwere im Leben.
Bruder David: Rilke hat die Frage zum Schweren im Leben selber eingehend in einem Brief beantwortet, in welchem es letztlich um Lebensvertrauen geht:
«Möge das Leben Ihnen aufgehen, Tür um Tür;
mögen Sie in sich die Fähigkeit finden, ihm zu vertrauen,
und den Mut, gerade dem Schweren das meiste Vertrauen zu geben.Jungen Menschen möchte ich immer nur dieses eine sagen
[es ist fast das Einzige, was ich bis jetzt sicher weiß] ‒
dass wir uns immer an das Schwere halten müssen;
das ist unser Teil.Wir müssen so tief ins Leben hineingehen,
dass es auf uns liegt und Last ist;
Nicht Lust soll um uns sein, sondern Leben ...Was von uns verlangt wird, ist,
dass wir das Schwere lieben
und mit dem Schweren umgehen lernen.
Im Schweren sind die freundlichen Kräfte,
die Hände, die an uns arbeiten.Mitten im Schweren sollen wir unsere Freuden haben,
unser Glück, unsere Träume;
da, vor der Tiefe dieses Hintergrunds,
heben sie sich ab,
da sehen wir erst, wie schön sie sind.Und nur im Dunkel der Schwere
hat unser kostbares Lächeln einen Sinn;
da leuchtet es erst mit seinem tiefen, träumenden Licht,
und in der Helligkeit, die es für einen Augenblick verbreitet,
sehen wir die Wunder und Schätze,
von denen wir umgeben sind.»(aus dem Brief Rilkes an Emmy Hirschfeld vom 20. November 1904) (36 und 205)
Alexandra: Er ermutigt uns also dazu, das Wagnis des Lebens zu wollen und uns diesem Wagnis bewusst zu stellen.
In einem seiner Gedichte geht er sogar darüber hinaus: Wir Menschen können «einen Hauch wagender»[2] sein als das Leben selbst. (36)
Gerade wenn wir dieses Wagnis bewusst bejahen und dem Leben, «aus dem Gefühl des Ganzen»[3] heraus vertrauen, ohne Sicherheitsnetz, speist uns das Leben paradoxerweise aus der Quelle der Sicherheit, die in unserem Sein wurzelt: «ein Sichersein, dort, wo die Schwerkraft» der reinen Kräfte wirkt[4].
Bruder David: Immer, wenn wir uns mutig der Weite des Lebens zuwenden, das heißt «ins Offene»[5] schauen, anstatt vor dem Unvermeidlichen zurückweichen, sagen wir «Ja» zum Leben in seiner ganzen Fülle.
Offensichtlich meint Rilke mit Rühmen nicht so sehr den Lobpreis Gottes mit Hymnen und Liedern, sondern vor allem die Lebensfreude.
Die erreichen wir in einem Dreischritt: Lebensvertrauen ist die Grundlage. Ihr entspringt Lebensmut. Und dieser blüht auf in Lebensfreude. Dankbare Lebensfreude selbst ist schon Rühmung.
Alexandra: Dass Rilke selbst diese Haltung der dankbaren Lebensfreude tief verinnerlicht hat, zeigt sich auch am Ende seines Lebens, als er schon krank ist. Mitten in großen Schmerzen sagt er zu seiner Vertrauten Nanny Wunderlich-Volkart:
«Vergessen Sie nie, das Leben ist eine Herrlichkeit.»[6] (37)
«Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.Über dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.»(Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX) (53)
So vieles bleibt noch unvollendet in unserer Welt:
«Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,
ist nicht entschleiert.»
Wenn uns in einem dieser Bereiche Vollendetes gelingt ‒ sei's auch nur ein kaum bemerkter Augenblick vollendeter Liebe, liebend erduldeten Leidens oder vollendetes Durchstehen eines jener «Stirb-und-Werde»-Augenblicke[7], aus denen das Leben besteht ‒ dann fällt es heim zum Uralten, nimmt also teil an der Harmonie des großen Liedes überm Land, das allem Sinn gibt. (56)
Alexandra: Dankbare Menschen können auch deshalb im Unglück singen, weil sie dem Leben vertrauen. So verlieren sie nicht die Hoffnung und ihre tiefe Freude geht ihnen auch im Unglück nicht verloren.
Bruder David: Unglück ist ja nicht das Gegenteil von Freude, sondern von Glück. Das Gegenteil von Freude ist Mangel an Dankbarkeit.
Alexandra: Die Freude selbst ist ja der eigentliche Dank. (164f.)
Bruder David: Das Leben selbst scheint uns zuzurufen
«Rühme alles, was es gibt, einfach weil es da ist» ‒
und aus keinem anderen Grund.
Das ist eine tiefe Einsicht. Sie entspringt einem radikalen Lebensvertrauen, bestimmt Rilkes ganzes Denken und Dichten und kann auch unser Leben bereichern.
W. H. Auden hat diese Lebenshaltung in einem schrulligen, aber tiefsinnigen Gedicht zum Ausdruck gebracht, in dem er in fünf Strophen zu seinen fünf Sinnen spricht und sie in einer letzten Strophe alle zusammen anweist:
«Seid freudig, werte Fünf,
mein ganzes Leben lang.
Und fragt mich nicht, woran
ihr euch denn freuen sollt.»
Lasst euch halt irgendetwas einfallen,
aber gehorcht.
Ich könnte (was ihr nicht könnt)
schnell genug Gründe finden
in Wut und Verzweiflung
über die Zustände den Himmel anzubrüllen
und zu verlangen, dass er mir sage,
wer an allem schuld ist.
Der Himmel würde einfach warten
bis mir der Atem ausgeht,
und dann ‒ als ob ich nicht da wäre ‒
diesen einzigartigen, mir unverständlichen Befehl
wiederholen:
«Rühm, was es gibt, weil’s da ist!
Dem muss ich doch gehorsam sein:
Wozu denn sonst geboren sein,
einverstanden oder nicht.»(W. H. Auden: ‹Precious five›;
siehe auch das Gedicht in Segnen und Segen) (58)
Alexandra: So bedingungsloses Rühmen ist nicht nur für W. H. Auden, sondern auch für Rilke die entscheidende Herausforderung. (59)
[Video ab (33:55-38:14)]: Alexandra Kreuzeder liest die letzten sechs Verse des Sonetts (Die Sonette 2. Teil, X): ‹Alles Erworbene bedroht die Maschine, solange sie sich erdreistet, im Geist, statt im Gehorchen zu sein›:
«Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert
Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen
Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert.Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus …
Und die Musik, immer neu, aus den bebendsten Steinen,
baut im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus.»
Bruder David: Rilke hat gekniet und bewundert sein ganzes Leben lang. … Also das Dasein ist «ein Spiel von reinen Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert.»: «Es ist genug, das nach Hause zu nehmen, das ist für einen ganzen Abend genug.»
Wir spüren die Gegenwart von Stille, wenn Bruder David diese Verse wiederholt und … «bewundert»:
«Und zugleich sieht man da auch die tiefe Religiosität von Rilke.»
Alexandra: Und zugleich fällt mir ein, was sicher viele von euch kennen:
«Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben;
dass du weißt, was der Wind dir will,
eh noch die Birken beben.Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
lass deine Sinne besiegen.
Jedem Hauche gieb dich, gieb nach,
er wird dich lieben und wiegen.Und dann meine Seele sei weit, sei weit,
daß dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.»(Rilke: ‹Mir zur Feier›)
Bruder David berührt: Danke. ‒ Das ist wieder so ein unanschauliches kristallklares: … Nicht-Bild[8] … und es könnte für Dichtung im Allgemeinen stehen:
Die Dichtung breitet sich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.
[Obiger Text ist eine Komposition von Texten im Buch von David Steindl-Rast und Alexandra Kreuzeder: HerzWerk (2025): Freude finden mit Rainer Maria Rilkes ‹Sonette an Orpheus› und der Transkription der Passage (33:55-38:14) im Video zur Buchpräsentation des Buches HerzWerk]
[Ergänzend:
1. Der spirituelle Rilke (2025): Josef Bruckmoser über das Buch HerzWerk:
«In den ‹Sonetten an Orpheus› sind es zwei Themen, um die das spirituelle Denken des Dichters kreist: das Rühmen und der Doppelbereich. ‹Unsere höchste Aufgabe als Menschen ist es ja, alles, was es gibt, zu rühmen.›»
2. ‹Wandelt sich rasch auch die Welt wie Wolkengestalten› (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX); siehe auch Sterben und Wandlung: Ergänzend. 3.
2.1. Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(08:59) Ellinor Jensen (Sprecherin): ‹Wandelt sich rasch auch die Welt in Wolkengestalten›
2.2. Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(25:52) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt›: Bruder David deutet das Sonett mit Blick auf die Zeit und das Jetzt, das kleine Ich und das Selbst, Orpheus und Christus
2.3. Audio Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe …:
(36:58) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt›
2.4. Im Buch HerzWerk (2025): 6. ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Die Sonette 1. Teil, XIX): ‹Aufs uralte Lied überm Land horchen›, 53-59:
«Bei unserer Sinnsuche weist der Dichter uns an, nicht nur i n, sondern ‹ü b e r dem Wandel und Gang› der Welt den Sinn des Ganzen zu finden, auf einer höheren Ebene im ‹Lied überm Land›, wie er es so schön nennt.
Zweimal klingt das Wort ‹über› hier an. Was aber soll ‹Lied überm Land› bedeuten?
Bei genauem Hinhorchen gibt das Sonett selbst uns die Antwort: Das Uralte ist gemeint, das immer währt.» (54)
2.5. Das Sonett in Die Achtsamkeit des Herzens (2018): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›, 98f., siehe auch in Abschied, Wandlung, Aufheben und Altern: Ergänzend: 5.: ‹Unter Tränen lächelnd, willig dieses Lied singen›
3. Freude an den ‹Sonetten an Orpheus›
3.1. Audios Lebendige Spiritualität (2015) mit Bruder David und Pater Johannes Pausch in vier Gesprächsabenden mit Gedichten und Texten von Rilke
Verstehen durch TUN:
(20:22) Rühmen und die Gestalt des Orpheus, bei Rilke und den Kirchenvätern eine Christus-Figur – ‹Rühmen, das ists› (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII) ‒ Gott verherrlichen
(31:05) ‹Singe die Gärten, mein Herz, die du nicht kennst› (Die Sonette 2. Teil, XXI) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (hl. Augustinus)
(35:04) ‹Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn› (Die Sonette 1. Teil, VIII) – ‹Zwischen den Hämmern besteht unser Herz› (Die neunte Elegie)
Wort
(01:10:30) ‹Alles Erworbene bedroht die Maschine› (Die Sonette 2. Teil, X)
3.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft (2014), Transkription des Seminars Teil I und Teil II
4. Im ‹Raum der Rühmung› mit dem Buch HerzWerk (2025)
4.1. Ebd. 80-86, 10. ‹Alles Erworbene bedroht die Maschine› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, X): ‹Knien und bewundern›:
Alexandra: «Und das Rühmen beginnt mit dem Niederknien und Bewundern.»
Bruder David: «Auch die große US-amerikanische Dichterin Mary Oliver meint wohl diese Gebärde, wenn sie in ihrem Gedicht ‹Sommertag› sagt:
‹Ich weiß nicht genau, was ein Gebet ist.
Ich weiß aber, wie ich achtsam sein,
mich fallen lassen kann ins Gras,
niederknien kann im Gras ...›
Auch sie ‹kniet und bewundert›. Und sie spricht für viele der Religion entfremdete Menschen. Mit diesem staunenden Niederknien beginnt die Wiederentdeckung der Ehrfurcht.»
Alexandra: «Dieses Staunen vor dem Geheimnis des Lebens drückt Rilke auch in einem anderen Gedicht kraftvoll aus:
‹Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben …›(Rilke: ‹Mir zur Feier›)»
Bruder David: «‹Lauschen und Staunen› macht uns auch offen und empfänglich für die tiefe Frage, die Mary Olivers Gedicht uns am Ende stellt:
‹Sag mir, was hast du vor mit deinem einen, wilden und kostbaren Leben?›
Wir brauchen nur hinhorchen. Das Leben selbst wird uns die Antwort geben. Ein tröstlicher Gedanke.»
Alexandra: «Fast könnte unser Sonett schon enden mit der Wiederentdeckung der Ehrfurcht durch Knien und Bewundern. Aber die drei letzten Verse sind doch wunderschön. Wer wollte sie missen?» (85)
Bruder David: «Auch erscheint das Wörtchen ‹noch› hier zum dritten Mal und bindet diese letzte Strophe fest an das ganze Sonett. Der tröstliche Gegensatz zur Zerstörung durch die Maschine beginnt mit den Worten:
‹Aber noch ist uns das Dasein verzaubert.›
Dann heißt es: ‹Noch› ist es Ursprung. Und hier nun das dritte ‹noch›:
‹Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus ...›
Wenn wir dieses ehrfürchtige Verstummen, dieses Sprachlos-Werden beim Knien und Bewundern aus Erfahrung kennen, dann brauchen wir keinen weiteren Beweis, dass das Dasein immer noch verzaubert ist.
Die Musik, die immer neu aus den bebendsten Steinen im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus baut, ist ein Bild, das wir unschwer verstehen.
Zugleich ist dies aber auch eines der schönsten Beispiele für Rilkes kristallklare und zugleich unanschauliche Bilder.
Schon dieses eine Bild macht dieses Sonett unvergesslich.» (85f.)
4.2. Ebd. 38-44, 4. ‹Rühmen, das ists!› (Die Sonette 1. Teil, VII): ‹Weckruf zum Lebendigsein›:
‹Rühmen, das ists! Ein zum Rühmen Bestellter
ging er hervor wie das Erz aus des Steins,
Schweigen. Sein Herz, o vergängliche Kelter
eines den Menschen unendlichen Weins.›(Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII) (38)
«Die Kelter ist eine ‹vergängliche› Kelter, der Wein aber fließt unendlich, ist also unvergänglich. Das Leiden gehört zu unserem vergänglichen Leben in der Zeit. Es vergeht. Die Rühmung aber nimmt schon jetzt Anteil am Unvergänglichen. Das will das abschließende Bild zeigen: Der Rühmende hält ‹noch weit in die Türen der Toten Schalen mit rühmlichen Früchten›.
Dieses Sonett ist selber eine solche Schale voll Trauben in Rilkes ‹fühlendem Süden gereift›, die er uns hinhält.
Das reichste Geschenk, das er uns damit macht, ist dieses:
Er schenkt uns Mut, aus der vergänglichen Kelter unseres Lebens
in der Zeit unvergängliche Freude fließen zu lassen.
Denn Rühmen ist nicht nur spontane Antwort auf große Freuden,
sondern dankbares Rühmen keltert Freude
auch aus den unscheinbarsten Früchten unseres Alltags.» (40f.)
«In der christlichen Botschaft wurde das Leid zunehmend überbetont und die Freude, die ja der Mittelpunkt der Frohbotschaft sein sollte, vernachlässigt. … Ziel des Lebens war für Jesus keinesfalls das Leiden. Gott will Lebensfreude, nicht Leid. Nicht seine Leidensgeschichte war die eigentliche Passion Jesu. Seine Passion im Sinne überragender Leidenschaft war die Verherrlichung Gottes ‒ das Rühmen also.» (40)
4.3. Ebd. 158-165, 20. ‹Singe, die Gärten, mein Herz› (Die Sonette 2. Teil, XXI): ‹Singen als Herzwerk›; siehe auch das Geleitwort, 5:
«Denn des Anschauns, siehe, ist eine Grenze.
Und die geschautere Welt
will in der Liebe gedeihn.Werk des Gesichts ist getan,
tue nun Herzwerk …»(Rilke: ‹Wendung›)
Alexandra: «Mir fällt auf, dass Rilke in diesem Sonett das Herz anspricht.»
Bruder David: «Das kommt wirklich unerwartet. Gewöhnlich fühlen wir ja, dass in seinen Gedichten das Herz spricht. Hier wird es angesprochen, immer wieder.»
Alexandra: «Mit einem Imperativ nach dem anderen: ‹Singe›, ‹zeige›, ‹meide› ...»
Bruder David: «Auch: ‹Singe sie selig, preise sie …›»
Alexandra: «Und zum Schluss noch: ‹Fühl, daß der ganze, der rühmliche Teppich gemeint ist.›»
David: «Fühlen soll das Herz diese Einsicht, nicht nur wissen oder bedenken. Das Herz ist ja für Rilke ‹das ins Ganze geborne› (Die Sonette 2. Teil, II). Es ist Sinnbild für die Ganzheit von Denken, Fühlen und Wollen, ja, von Leib und Geist.»
Alexandra: «Sollten wir nicht all diese Aufforderungen an das Herz als Auftrag verstehen, ‹Herzwerk› zu leisten, wie Rilke es nennt?»
Bruder David: «Herzwerk ‒ das bringt alles auf den Punkt. ‹Herzwerk› tun, ist für Rilke eine ganz wichtige Aufgabe. Für Rilke ist ‹Rühmen› das eigentliche ‹Herzwerk› und statt Rühmen sagt er hier Singen.»
Alexandra: «Darum beginnt wohl dieses Sonett mit den Worten: ‹Singe ... mein Herz›. Singen ist eben für Rilke so viel mehr, als wir gewöhnlich mit diesem Wort meinen.» (162)
Bruder David: «Er sagt ja: ‹Gesang ist Dasein› (Die Sonette 1. Teil, III) und Gesang als ‹Herzwerk› ist erfülltes Dasein ‒ die Erfüllung der Aufgabe, für die wir da sind.» (162f.)
4.4. Ebd. 50, aus der neunten Duineser Elegie; siehe auch Lobpreis des Lebens, Weihnachtsgrüße 2014, Singen, Danken, preisen, segnen, Abschied, der Klang des Lebens:
«Zwischen den Hämmern besteht
unser Herz, wie die Zunge
zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch, die preisende bleibt.»
4.5. Ebd. 50f., Beginn des Sonetts 1. Teil, VIII:
«Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn.»
4.6. Ebd. 51 und 207, aus dem Brief Rilkes an Adelheid von der Marwitz vom 11. September 1919:
«… das Hiesige ist uns nun einmal gegeben und zugemutet
und wir müssen alles, was uns widerfährt,
in eine neue Vertraulichkeit und Befreundung
mit ihm umzuwandeln suchen,
denn wohin sollen wir uns abwenden mit Sinnen,
die doch für seine Erfassung und Bewältigung
vorzüglich eingerichtet sind, ‒
und wie dürften wir uns der Pflicht entziehen,
das uns von Gott Zugetraute zu bewundern, ‒
worin doch sicher alle Vorbereitung enthalten ist
für jede künftige und ewige Bewunderung!»
4.7. Ebd. 78 und 209, aus dem Brief Rilkes an seinen Schwager Helmut Westhoff vom 12. November 1901:
«Weißt du aber, was mir die Hauptsache dabei war,
lieber Helmuth:
Dass ich wieder mal sah, dass die meisten Menschen
die Dinge in der Hand haben,
um damit irgendeine Dummheit zu machen
[wie zum Beispiel sich zu kitzeln mit Pfauenfedern],
statt sich jedes Ding gut anzusehen
und statt jedes um die Schönheit zu fragen,
die es besitzt. So kommt es,
dass die meisten Menschen gar nicht wissen,
wie schön die Welt ist
und wie viel Pracht in den kleinsten Dingen,
in irgendeiner Blume, einem Stein,
einer Baumrinde oder einem Birkenblatt sich offenbart.
Die erwachsenen Menschen,
die Geschäfte und Sorgen haben
und sich mit lauter Kleinigkeiten quälen,
verlieren allmählich ganz den Blick für diese Reichtümer,
welche die Kinder, wenn sie aufmerksam und gut sind,
bald bemerken und mit dem ganzen Herzen lieben.»
5. Hymne auf das große Lied (2016): Trailer und deutsche Übersetzung von Bruder David in Hymne auf das große Lied (2016):
(00:17) «Es gibt wirklich nur ein Lied, und das ist das Große Lied, das kosmische Lied, das Lied, das alle Dinge, Tiere, Pflanzen und Menschen in ihrem tiefsten Herzen singen.
(00:32) Und jedes Lied, das ein Mensch mit seiner Stimme singt, ist nur ein Ausdruck dieses einen großen Liedes, das von Anfang an da ist und nach dem Ende da sein wird.
(00:51) Das große Lied, der große Klang kommt aus der Stille ‒ oder es ist nicht das Große Lied.
(01:00) Wenn man tief in die Stille hineinhorcht, entdeckt man das Lied.»]
______________
[1] Schlusszeile im Gedicht ‹Grabschrift›, in: Werner Bergengruen (1892-1964): ‹Die heile Welt: Gedichte›, Zürich, im Verlag der Arche 1952, 78
[2] Rainer Maria Rilke: ‹Wie die Natur die Wesen überläßt› (Aus dem Nachlass: Widmungen). Entstehung: 4. Juni 1924, Muzot.
[3] Aus dem Brief Rilkes an Henriette Löbl vom 2. Juli 1914:
«Denn gestern, Heute und Morgen sind nicht die eigentlichen Bestandteile unseres Daseins, es ist, mehr als wir glauben, aus einem Stück und wir müssen versuchen, aus dem Gefühl des Ganzen heraus, dem Einzelnen freundlich und unversöhnlich zu sein.»
[4] Rainer Maria Rilke: ‹Wie die Natur die Wesen überläßt›
[5] Ebd.
[6] J. R. von Salis: ‹Rilkes Schweizer Jahre› (= Suhrkamp-Taschenbuch, 289), Frankfurt a.M., Suhrkamp 1975, 277
[7] J. W. von Goethe: ‹Selige Sehnsucht› (West-östlicher Divan):
«Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.»
[8] ‹Nicht-Bild› drückt paradox aus, was Bruder David im Buch ‹HerzWerk›, 86, ‹kristallklare und zugleich unanschauliche Bilder› nennt. Siehe auch:
«Und dann kommt wieder eines jener gewagten klaren und doch unvorstellbaren Bilder: …» (51)
«Das ist wieder ein gutes Beispiel für einen Kunstgriff, der für Rilkes dichterisches Vorgehen typisch ist. Er schleudert uns in unmissverständlich klaren Worten ein Bild zu, das völlig unanschaulich ist: …» (43)
Alexandra: «… Bei Rilke stossen wir immer wieder auf solche ‹kristallklaren Unanschaulichkeiten› … Warum verwendet er dieses stilistische Mittel so oft?»
Bruder David: «Ich weiß nicht, ob ‹stilistisches Mittel› eine passende Bezeichnung für Rilkes ‹kristallklare Unanschaulichkeit› ist. Jedenfalls haben solche Verse ganz und gar nichts von Effekthascherei an sich, sondern sind das Ergebnis eines leidenschaftlichen Bemühens, über die Grenzen des Sagbaren hinauszugehen. Darum finden wir Beispiele dafür auch gerade dort, wo sein Dichten sozusagen in Weißglut gerät.» (104)
Rühmen, Er-innern, Aufheben
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren» (R. M. Rilke)
Haben Sie schon einmal mit angesehen, wie eine Honigbiene in den seidigen Abgründen einer Pfingstrosenblüte herumtorkelt und taumelt? Dann wird Ihnen ein Bild gefallen, das Rilke gebraucht, um von unserer Aufgabe zu sprechen, die Sinneserfahrung in eine über unsere Sinne hinausgehende Erfahrung umzusetzen. Beobachten Sie die Biene, wie sie im Duft unzähliger purpurner und weißer und rosa Blütenblätter schwelgt, bis sie schließlich, mit goldenen Pollen bestäubt, die im Herzen der Blume verborgene Quelle des Nektars findet. Sehen Sie mit an, wie die Biene mit totaler Hingabe aller ihrer Sinne an dieser Pfingstblütenwelt vorführt, was ihre Lebensaufgabe und zugleich ein ekstatisches Spiel für sie ist. Und dann lesen Sie, wie der Dichter unsere eigene Aufgabe in dieser Menschenwelt versteht:
Rilke schreibt in seinem Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz, 13. November 1925:
«So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden.
Verwandelt?
Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ‹unsichtbar› wieder aufersteht.
Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.
Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible: Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenkorb des Unsichtbaren anzuhäufen.»
Vom Bienenkorb zur blühenden Wiese und dann wieder heim fliegen unsere Herzen ihren Weg, vom Unsichtbaren durch das Sichtbare und dann ‒ ernteschwer wie Bienen mit vollen Pollenhöschen und von Nektar prallen Bäuchen ‒ wieder heim in den «großen goldenen Bienenkorb des Unsichtbaren». Das ist das Grundmuster der vielen Reisen unseres Herzens durchs Leben und der Suche, auf der wir unser Leben lang sind.
Kennen wir nicht dieses selbstvergessene Blütensaftsaugen aus der tiefsten Erfahrung unseres eigenen Lebens? So verwandelt unser Herz das Sinnliche unseres wachsten Erlebens und birgt es in seiner großen, goldenen Honigwabe als Sinn. Darum wird beim Altwerden jedes Weihnachtsfest reicher, gewichtiger, schwerer und süßer, weil Freude und Traurigkeit aller vergangenen Weihnachtsfeste von frühester Kindheit an im Erleben mitschwingt; weil in der Erinnerung Altes und Neues einander bereichern.[1]
«Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit ‒,
will tiefe, tiefe Ewigkeit!»F. W. Nietzsche: ‹Das trunkene Lied›
Unser Herz stimmt dieser Einsicht Nietzsches zu. Alles in uns sehnt sich nach Sinn.
Sinn hebt das Sinnliche auf; hebt es auf in allen drei Bedeutungen des Wortes:
Aufheben heißt ungültig erklären, wie eine Haltestelle, die schon lange niemand mehr benutzt.
Aufheben heißt erhöhen und überhöhen.
Aufheben heißt aber auch aufbewahren und bergen.[2]
So wird aller Wandel im Bleibenden ungültig erklärt, überhöht und doch für immer vor dem Verlorengehen bewahrt.
«W a s haben Augen einst ins umrußte
lange Verglühn der Kamine geschaut:
Blicke des Lebens, für immer verlorene.Ach, der Erde, wer kennt die Verluste?
Nur, wer mit dennoch preisendem Laut
sänge das Herz, das ins Ganze geborne.»Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, II (Sextett)
Selbst Galgenhumor kann unversehens zur Rühmung werden, Rühmung, die umso reiner klingt, weil sie sich des Rühmens selbst kaum bewusst ist.
Angesichts der Aufhebung unserer Sinnlichkeit ist Humor deshalb trotzdem noch möglich, weil
«nichts vergänglich ist, als die Vergänglichkeit.» ‒
Trunken von Beständigkeit,
stößt Werner Bergengruen mit dieser Einsicht tief in den Sinn des Sinnlichen vor.[3]
Damit stehen wir aber schon völlig «im Raum der Rühmung», wie Rilke ihn nennt.
Rühmend hebt der Dichter das Sinnliche auf, indem er es erhöht, überhöht, übertrifft.
«RÜHMEN, das ist's! Ein zum Rühmen Bestellter,
ging er hervor wie das Erz aus des Steins
Schweigen. Sein Herz, o vergänglicher Kelter
eines den Menschen unendlichen Weins.Nie versagt ihm die Stimme am Staube,
wenn ihn das göttliche Beispiel ergreift.
Alles wird Weinberg, alles wird Traube,
in seinem fühlenden Süden gereift.Nicht in den Grüften der Könige Moder
straft ihn die Rühmung Lügen, oder
dass von den Göttern ein Schatten fällt.Er ist einer der bleibenden Boten,
der noch weit in die Türen der Toten
Schalen mit rühmlichen Früchten hält.»Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, VII
Das ist der Dichter, der das Sinnliche aufhebt und über den Wandel hinaushebt, indem er es zu Sinn verdichtet.
Wir dürfen aber den Begriff Dichter nicht zu eng fassen.
Es gibt den Dichter in jedem von uns.
Wir alle sind dazu berufen, das, was wir durch unsere Sinne empfangen, im Herzen aufzuheben.
Menschliche Berufung ist es, das Nur-Sinnliche ungültig zu machen, indem wir es rühmend über sich hinausheben, es aber zugleich in seiner ganzen vergänglichen Einmaligkeit im immer Bleibenden geborgen halten und verwahren.[4]
«‹Rühmen, das ist’s!» Ja, alles, was ist, rühmt das Sein durch sein Dasein. Einfach da zu sein ist Rühmung. Dasein ist ein Ja-Sagen zum Sein. Und dieses Ja fasst alles Rühmen in einem einzigen Wort zusammen.
Jedes Sein ist ein Ja ‒ ein ‹aus dem Nein aller Verneinung gehobenes› Ja: Dasein ist Ja-Sein. Und dieses Ja-zum-Leben-Sagen heißt Rühmen.
Auch ich bin ‹ein zum Rühmen Bestellter›. Warum ist mein Ja zum Leben oft so zaghaft, so trüb, sogar oft widerwillige? Aus Furcht, Ja zu sagen zum Ganzen.
‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze!›[5]
Das will ich mir zu Herzen nehmen ‒ vertrauensvoll trotz allem. Amen.»[6]
Erinnerung ist es, die diese Aufgabe letztlich vollendet. Das Sinnliche, das im Humor gärt, klärt sich in der Dichtung und gewinnt seine volle Süße im Erinnern.
Wir müssen dem Wort «Erinnerung» hier seine volle Bedeutung zurückgeben. Er-innerung ist Ver-innelichung, Sinnernte unserer Sinnlichkeit ‒ Einbringung, Verwandlung.[7]
«Erinnern bedeutet mir so viel mehr als mir etwas zu merken. Nicht meinem Gedächtnis prägt das Erinnern ja Erlebnisse ein, sondern meinem Innersten, meinem Herzen. Mein Herz aber ist jene Mitte, in der ich vor Dir stehe, jener Ort, der Begegnung, an dem Du mir gegenwärtig bist.
Von dem vielen, das mir zufließt, fließt das meiste, kaum bemerkt, wieder ab von mir. Nur weniges erlebe ich wirklich ‒ das nämlich, was ich Dir erzähle. Im Erzählen bringe ich es in Dein Licht, halte es Dir hin, und es wird zur Erinnerung. Nicht im Gehirn ist Erinnertes aufbewahrt, sondern in Dir; weil ich Dir nicht gleichgültig bin, hälst Du es fürsorglich behütet. Auch wenn mir einmal alles aus dem Gedächtnis entschwindet, lass es in deiner verzeihenden Liebe aufgehoben sein. Amen.»[8]
Im Doppelbereich des Jetzt sind Zeit und Ewigkeit eins. Darum kann auch nicht die kleinste Einzelheit von allem, was mir hier lieb ist, je verloren gehen.
«Alles ist immer jetzt», sagt wieder T.S. Eliot, «All is always now»[9] ‒ und spricht damit eine Wahrheit aus, die sich nicht leugnen lässt, denn was nicht jetzt ist, ist nicht, es hat nur eine Schattenwirklichkeit in Vergangenheit oder Zukunft.
Im Jetzt aber kann es nicht verloren gehen, da ist es in einem dreifachen Sinn «aufgehoben»:
Es besteht nicht länger (wie etwa ein Gesetz, das aufgehoben wird),
es wird aber auf eine höhere Ebene hinaufgehoben
und bleibt dort bewahrt (wie ein Goldreif in einer Schatzkammer gut aufgehoben ist).[10]
In diesem Sinn verstehe ich, warum Rilke im Aufheben unsere Lebensaufgabe sieht:
«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Leidenschaftlich heimsen wir den Nektar des Sichtbaren ein in die große, goldene Honigwabe des Unsichtbaren.»
Bruder David im Gespräch mit Johannes Kaup: «Schon jetzt nimmt jedes Erlebnis im Doppelbereich an diesen beiden Aspekten teil. Wenn also Raum und Zeit wegfallen, ist das, was ich erlebt habe, damit nicht ausgelöscht. Das zeigt uns schon jetzt unsere Erinnerung, die Tatsache, dass wir uns überhaupt an etwas erinnern können.»
Johannes Kaup: «Aber Erinnern ist ein zeitliches Phänomen.»
Bruder David: «Erinnerung ist ein Phänomen in der Zeit, aber dass Erinnerung nur in der Zeit ist, ist eine sehr reduktionistische Vorstellung. Ja, es gibt etwas wie neuronale Konstellationen oder Engramme, Aufzeichnungen irgendeiner Art, die dann wieder aufgerufen werden. Da ist etwas dran, aber das ist nicht das Wesentliche von Erinnerung.
Erinnerung ist nicht Wiederbringung von Vergangenem, sondern ‹Er-inner‒ung›:
Etwas ist ins Innerste eingegangen und gehört nicht nur meinem persönlichen Innersten an, sondern dem Weltinnenraum.
Rilke fasst das in die dichterische Vorstellung, dass wir Menschen die ‹Bienen des Unsichtbaren› sind.
Unser ganzes Leben besteht darin, jeden Augenblick, jede Erfahrung in die ‹große goldene Honigwabe› des Weltinnenraums einzuheimsen.
Nichts kann dort je wieder verloren gehen. Was ich einheimse in diese große goldene Honigwabe, ist mein einzigartiger Beitrag.
Wir sind so verschieden voneinander, dass es wohl nie zwei Menschen gegeben hat, die, sagen wir, eine Rose angeschaut und dasselbe gesehen haben.
Mit meiner einzigartigen Sensibilität reichere ich den Weltinnenraum an.
Ich bereichere ihn mein Leben lang, nicht nur durch alles Angenehme, was ich erlebe, sondern auch durch jedes Leiden. Alles hat Wert und Bestand. Nichts geht verloren.»[11]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 4, 6-8,11]
[Ergänzend:
1. Video
Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975); siehe auch Transkription:
(40:09) ‹Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
Der Dichter Rainer Maria Rilke hat das so schön ausgedrückt. Er vergleicht uns Menschen mit Bienen, die den Nektar des Sichtbaren in die großen goldenen Honigwaben des Unsichtbaren sammeln. Das ist unsere große menschliche Aufgabe.
2. Audios
2.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 4 ‒ Nachmittag
‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
(21:24) Leben im Doppelbereich Leben-Sterben heißt Rühmen auch unter Schatten: ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus), ‹Seidener Faden kamst du hinein ins Gewebe› (Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XX), ‹Nur wer die Leier schon hob auch unter Schatten› (Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, IX) / (26:32) Leben im Doppelbereich Ich-Selbst heißt im Augenblick leben ‒ Warum das Ich? ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke): Nichts geht verloren: ‹All is always now› (T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V)
2.2. Audio Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun:
Rühmen und die Gestalt des Orpheus, bei Rilke und den Kirchenvätern eine Christus-Figur – ‹Rühmen, das ists› (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII) – Gott verherrlichen / ‹O trotz Schicksal: die herrlichen Überflüsse› (Die Sonette 2. Teil, XXII) – Wir sind die Treibenden (Die Sonette 1. Teil, XXII) / (31:05) ‹Singe die Gärten, mein Herz, die du nicht kennst› (Die Sonette 2. Teil, XXI) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (hl. Augustinus) / (35:04) Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn (Die Sonette 1. Teil, VIII) – Zwischen den Hämmern besteht unser Herz (Die neunte Elegie) / (39:35) ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Brief an Witold Hulewicz, 13. Nov. 1925) – ‹Preise dem Engel die Welt› – ‹Aber weil Hiersein viel ist› (Die neunte Elegie)
2.3. Audio Fülle und Nichts (1996)
Vortrag:
(30:42) In der Erinnerung verinnerlichen wir uns, was wir mit den Sinnen nicht mehr erreichen können – Beispiel einer blinden, 83jährigen, Frau / (32:04) ‹Wir Menschen sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke)
2.4. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Eröffnungsreferat Vortrag; siehe dazu auch Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens, 22f.:
(22:47) Verleiblichen des Geistigen und Vergeistigen des Leiblichen: Durch die Sinne Sinn finden – ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke) – Das Fronleichnamsfest ist das Fest der Verleiblichung des Göttlichen und der Vergöttlichung des Leiblichen
2.5. Audio Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
2.1 ‹Der Weg zu Fülle und Nichts› ‒ Vortrag und Kanon:
(00:00) Was Dichtung vermag und Einstimmung mit den ersten Zeilen aus Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII: ‹Sei allem Abschied voran› / (22:35) Singender steige …› ‒ der ‹reine Bezug› ‒ unter ‹Schwindenden› endlich Klang werden / (26:31) Bruder David liest und deutet das Sonett ‒ ‹Lebe doch, sagt der Tod, ich komme› (‹Das tanzende Mädchen›)
(33:30) ‹Wo ist dann unsere Verantwortung?› Darin, es zu feiern: Bruder David liest und deutet von Rilke: ‹Rühmen, das ists!› und die Schlussverse des Sonetts ‹Sei allem Abschied voran›
3. Weitere Texte
3.1. Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 64, in Riechen, Düfte, Erinnerung:
«Woher kommt es eigentlich, dass unser Geruchsinn uns leicht zum Lachen reizt? Vielleicht hat es damit zu tun, dass im Bereich des Riechens Kindheitserinnerungen überall die Etikette der Erwachsenen durchbrechen. Gerüche zu erwähnen, gehört ja nicht zum guten Ton. Ich denke, dieses Lachen ist ein befreiendes Lachen. Das Kind in uns wird einen Augenblick lang frei und lacht; lacht uns vielleicht sogar aus.»
3.2. Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019):
«Angesichts von Leid und Schrecken, sind ‹wir gerecht nur, wo wir dennoch preisen.›[12] Dieser Einsicht entspringt ein Motto des Benediktinerordens, das ich zum Abschluss erwähnen möchte. Geschichtlich ist es vielleicht das älteste. Es kennt Erschütterungen und Zerstörung, preist aber dennoch das Grünen:
‹succisa virescit› – ‹abgehauen grünt sie wieder.›
Das dazugehörige Sinnbild ist der Strunk eines uralten Baumes, aus dem ein neuer Schössling aufsprießt. Die Lebensfülle, die dem Gehorsam und der Dankbarkeit entspringt, wird – so wie das immer wieder neu erbaute Kloster Monte Cassino – nach jedem Niedergang wieder neu aufblühen. Gerade heute kann uns dies Mut machen.»
3.3. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 45-48:
«Es heißt immer, dass in der Erinnerung besonders Düfte sehr heftig Erinnerungen auslösen: Wer kennt nicht viele, viele Kindheitserinnerungen, die mit Düften zu tun haben. Die Lade [Schublade] der Großmutter und die vielen Speisen zu besonderen Festzeiten. Das heißt doch, dass die Erinnerung zusammenhängt mit dem Geruchssinn.»
3.4. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014): ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke), 105f.; ‹Rühmen›, 132-134:
«Das Thema der Elegien ist die Vergänglichkeit der Welt und die Köstlichkeit der Welt, weil sie ebenso vergänglich ist, und unsere Aufgabe als Menschen, sie zu rühmen.»]
_____________
[1] Komposition mit Abschnitten in Auf dem Weg der Stille (2023), 95-97 und Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 97f.
[2] «Aufheben» hat für Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) einen dreifachen Sinn: negieren (tollere) ‒ emporheben (elevare) ‒ bewahren (conservare)
[3] Werner Bergengruen: ‹Nichts Vergängliches vergeht› und ‹Magische Nacht›, in Die den Kurs begleitenden Gedichte, 37f. und Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 110f.
[4] Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 90, 93, 96f.
[5] Für Bruder David eines der liebsten Worte von Augustinus, die er immer wieder zitiert.
[6] Erwachende Worte (2023): ‹Rühmen› 31
[7] Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 97
[8] Erwachende Worte (2023): ‹Erinnern›, 57
[9] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten
[10] Siehe Anm. 2
[11] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9. Doppelbereich, 2006-2016›, 184f. ‒ ‹9. Dialog, 190; siehe auch Jetzt im Doppelbereich
[12] ‹Wir, gerecht nur, wo wir dennoch preisen,
weil wir, ach, der Ast sind und das Eisen
und das Süße reifender Gefahr.›
Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XXIII
Sakramentales Leben
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Es ist unmöglich, Sinnliches und Übersinnliches
säuberlich auseinanderzuhalten.
Wir finden das eine im anderen.
Nur glühend dankbare Lebensfreude kann diese Verschmelzung zustande bringen.
Eine hervorragende Metapher für die sinnliche Erfahrung dessen, was in seiner Sinnfülle unsere Sinne unendlich übersteigt, ist der brennende Dornbusch.[1]
Das wüstentrockene Dorngestrüpp steht in Flammen, trägt die Flammen und erträgt sie; es hat inmitten der Flammen Bestand.
«Wie kommt es, dass dieser Busch brennt und doch nicht verbrennt?»
Mit diesem «großen Gesicht» beginnt die Offenbarung eines unerschöpflichen Geheimnisses: Gottes Gegenwart in der Welt ‒ «non commixtionem passus, neque divisionem», wie die Antiphon der Weihnachtszeit[2] staunend singt:
«Unvermischt und doch untrennbar»,
wird das Göttliche uns zugänglich im Sinnlichen.[3]
Zwei Haltungen neigen dazu, uns für diese Begegnung blind zu machen: Weltlichkeit und Weltentrücktheit. Weltlichkeit sieht bloß den Strauch; Weltentrücktheit sieht bloß das Feuer.
Aber zu sehen, mit den Augen des Herzens, eines inmitten des andern, das ist das Geheimnis von Sakramentalität.
Das Geheimnis ist das Geheimnis von Sakramentalität, das Mysterium, dass das göttliche Leben sich durch alle Dinge vermittelt, genauso wie Sinn durch Worte vermittelt wird.
Die zwei gehören zusammen, Sinn und Wort, Gott und die Welt. Die zwei gehören zusammen, ohne Wenn und Aber, sind untrennbar: Sinn und Wort, Gott und die Welt.
Sakramentalität ist das Geheimnis, dass in unserem riesigen Erd-Haushalt alles mit allem in Verbindung steht, in Myriaden von verschiedenen Wegen, das Leben des heiligen Einen mitten in uns.
Die vielen Gemeinschaften, Kirchen, Kommunen weisen lediglich auf diese eine große Familie Gottes hin, mit mehr oder weniger erfolgreichen Modellen und bruchstückhaften Erkenntnissen davon. Ihre Feiern des Lebens sind auch auf eine Art Sakramente, weil das Leben selbst sakramental ist.
Richtig verstanden sind die Sakramente der christlichen Kirchen nicht in sich abgeschlossene Schachteln göttliche Gnaden vermittelnd.
Sie sind Brennpunkte dieses göttlichen Feuers, das alles Leben sakramental macht.
Es gibt nur eine Bedingung, um das Leben sakramental sehen zu können:
«Zieh’ deine Schuhe aus!»[4]
Erkenne, dass der Boden, auf dem wir stehen, heiliger Boden ist. Die Schuhe ausziehen ist eine Geste der Dankbarkeit und durch Dankbarkeit kommen wir in sakramentales Leben hinein.
Barfuß gehen hilft wirklich! Es gibt keinen direkteren Weg, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen als durch den direkten physischen Kontakt.
Zu fühlen wie verschieden es ist, ob man auf Sand geht oder auf Gras, auf glattem, von der Sonne erwärmten Granit, auf dem Waldboden; sich durch die Kieselsteine etwas wehtun lassen, Schlamm durch die Zehen quetschen.
Es gibt so viele Wege, durch die Erde Gottes heilende Kraft dankbar zu spüren.
Immer wenn wir die Abgestumpftheit des Gewöhntseins wegnehmen oder aufhören, Dinge als selbstverständlich zu nehmen, berührt uns das Leben mit seiner ganzen Frische und wir erkennen, dass alles Leben sakramental ist.
Wenn wir unsere Lebendigkeit messen könnten, so wäre der Maßstab sicher unser Berührtsein vom heiligen Einen, dem unerschöpflichen Feuer im Herzen aller Dinge.[5]
Es ist nicht so, als ob wir von weit her zum Ort der göttlichen Gegenwart hinpilgern müssten.
Von alters her geheiligte Orte wollen Pilger nur daran erinnern, dass auch jeder andere Ort heilig ist.
Schon mit dem ersten Schritt einer Pilgerfahrt betreten wir heiligen Boden.
Darum ruft die Stimme aus dem brennenden Busch Moses zu:
«Tritt nicht herzu!»
Komm nicht näher!
Eine rabbinische Auslegung sieht darin eine Zurückweisung unserer Neigung, Gott an diesen oder jenen Ort zu binden.
«Der Ort, darauf du stehst, ist ein heilig Land.»
Wo immer es auch sei, du stehst auf geheiligtem Ort.
Werde dir dessen bewusst!
«Zieh’ deine Schuhe aus von deinen Füßen!»
Der Schuh aus toter Tierhaut bedeutet für diese Auslegung: Gewöhnung, Abstumpfung.
Nichts sonst kann uns von Gottes Gegenwart trennen.
Im Exil sein, verbannt vom heiligen Land, heißt vergessen zu haben, dass wir auf heiligem Boden stehen.
Auch «an den Flüssen Babylons», oder wo auch sonst, stehen wir auf heiligem Boden, solange uns nicht Abstumpfung davon trennt.
Der Name unseres Exils ist nicht Babylon oder Ägypten, sondern Gewöhnung.[6]
Die Askese des Raumes fördert die Loslösung in Bezug auf den Ort, wo immer wir auch seien. Ihr Ziel ist,
da wirklich gegenwärtig zu sein,
wo wir gerade sind.
Dies ist der erste Schritt ‒ und wie oft gelingt er uns nicht!
Wir sind uns selbst voraus oder bleiben hinter uns zurück. Vielleicht aber schauen wir weder voraus in eine Zukunft, die noch nicht da ist, noch halten wir an einer Vergangenheit fest, die schon vorbei ist ‒ und sind doch nicht in der Gegenwart.
Wir sind hier und doch nicht hier, weil wir nicht wach sind.
Gegenwärtig zu sein, bedeutet,
zur Wirklichkeit des Ortes aufzuwachen.
«Die Schuhe ausziehen» ‒ das ist die Askese des Raumes.
«Die Schuhe auszuziehen» bedeutet, wirklich dazustehen, in voller Lebendigkeit.
Die Schuhe oder Sandalen, die wir ausziehen, sind aus der Haut toter Tiere gefertigt.
Solange wir sie tragen, ist etwas Totes zwischen den lebendigen Sohlen unserer Füße und dem Boden, auf dem wir stehen.
Dieses Tote abzustreifen bedeutet, Gewohnheit abzustreifen, jenes Gewohntsein, das Gleichgültigkeit und Langeweile mit sich bringt.
Es bedeutet, in ursprünglicher Frische für den Ort wach zu werden, an dem wir stehen.
Zuerst ist dies ein ganz besonderer Ort, der heilige Bezirk, den wir barfuß betreten.
Aber dann kommt der nächste entscheidende Schritt: Wir erkennen, dass wir auf heiligem Boden stehen, wo immer wir die Schuhe ausziehen.
«Rundum in jeder Richtung, soweit Raum reicht, reicht das Heiligtum.»[7]
Pater Damasus[8] wurde nie müde, diese Bibelstelle seinen Mönchen zu zitieren. Wir müssen nur einfach unsere Schuhe ausziehen, dann werden wir dies verstehen.
Ganz deutlich wird dies, wenn der Heilige Benedikt sagt, dass jeder Topf und jede Pfanne im Kloster wie ein heiliges Altargefäß behandelt werden sollte.[9]
Das heißt soviel wie:
«Zieht eure Schuhe aus und erkennt, dass ihr auf heiligem Boden steht; allerorten ist Gottes Tempel.»
Jeder Ort ist heiliger Boden, denn jeder Ort kann Stätte der Begegnung werden, der Begegnung mit göttlicher Gegenwart.
Sobald wir die Schuhe des Daran-Gewöhnt-Seins ausziehen und zum Leben erwachen, erkennen wir:
Wenn nicht hier, wo sonst?
Wann, wenn nicht jetzt?
Jetzt, hier oder nie und nirgends stehen wir vor der letzten Wirklichkeit.[10]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3, 5f., 10]
[Ergänzend:
Audio Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(26:54) Spüren, tasten ‒ Der brennende Dornbusch: ‹Zieh’ deine Schuhe aus› ‒
Deutung des Exils als ‹Gewöhnung›, ‹Abstumpfung›]
___________________________
[1] Exodus 3,1-5 (Lutherbibel 2017):
«Mose aber hütete die Schafe Jitros, seines Schwiegervaters, des Priesters in Midian, und trieb die Schafe über die Wüste hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb. Und der Engel des HERRN erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. Da sprach er: Ich will hingehen und diese wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt. Als aber der HERR sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!»
[2] «Mirabile mysterium declaratur hodie:
innovantur nature,
Deus homo factus est;
id quod fuit permansit,
et quod non erat assumpsit:
non commixtionem passus, neque divisionem.»
«Ein wunderbares Geheimnis wird heute verkündet:
Die Natur erneuert sich,
Gott wurde Mensch.
Das, was er war, blieb er,
und das, was er nicht war, nahm er auf.
Er erlitt keine Vermischung und keine Teilung.»
[3] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 69f.
[4] Exodus 3,5
[5] Sakramentales Leben ‒ «Zieh’ deine Schuhe aus!» (1979), aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Eve Landis; siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 8 ‹Auf heiligem Grund stehen›, 112-119
[6] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 70f.
[7] Ezechiel 43,12
[8] Pater Damasus Winzen, der Gründer des Klosters Mount Savour
[9] Siehe auch Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2018):
«Darum scheint mir manchmal, dass «dankbar leben» sogar unser Motto ‹Ora et labora› ersetzen könnte. Es geschieht ja durch dankbares Leben, dass die Arbeit selbst zum Gebet wird - und alle Geräte des Klosters zu heiligem Altargerät (RB 31,10).»
[10] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Umwelt als Guru (2021), 26f.
Schmecken, Ahnen, Weisheit
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Wenn etwas gut Gewürztes mir schmeckt, frage ich mich selten, warum. Und doch liegt in jedem einzelnen Gewürz nicht nur ein Geheimnis der Kochkunst, sondern die ganze Freude schenkende und heilende Kraft von Mutter Erde. Jedes legt uns einen Einfall von Dir in den Mund, auf den ihre Namen nur von Ferne hinweisen können. Deine Idee in Dillkraut, Ingwer oder Pfeffer zu erschmecken, heißt, immer neue Sprachen zu entdecken, in denen du zu mir sprichst. Heute will ich Dich in wenigstens einem Gewürz zu mir reden hören. Amen»[1]
Wie Ergriffenheit ursprünglich auf den Tastsinn zurückweist, so Weisheit auf den Geschmackssinn.
Hier ist das allerdings nicht so offensichtlich. Im Lateinischen ist es deutlicher. Da ist «sapientia», die Weisheit, jene Tugend, die wir durch «sapere» erwarben, durch ein verfeinertes, überhöhtes Schmecken.
Sehen können wir in große Entfernung, in unvorstellbar große Entfernung, wenn wir nachts unter dem Sternenhimmel stehen. Auch hören können wir noch weit. Riechen schon kaum mehr. Betasten setzt nächste Nähe voraus, bleibt aber doch immer oberflächlich, äußerlich.
Von allen unseren Sinnen ist der Geschmackssinn der innerlichste. So erschmeckt Weisheit den innersten Sinn einer Sache.
Wie aber sollen wir je dieses Ziel erlangen, wenn wir nicht damit beginnen, unseren Geschmack auf der sinnlichen Ebene zu entwickeln?
«Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist!» ruft der Psalmist uns zu (Ps.34,9).
Werden wir aber Übersinnliches zu schätzen wissen, wenn wir für Sinnliches undankbar sind?
«Mund auf! Augen zu!» spielten wir gern als Kinder. Solange wir dem Geschmeckten noch keinen Namen geben, wird es zum unmittelbaren Erlebnis:
«Wo sonst Worte waren, fließen Funde.»
Rilke fordert uns heraus in seinem Sonett: «Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.»[2]
Wir meinen etwas schon zu kennen, nur weil wir ihm einen Namen gegeben haben. Wenn wir uns aber dem Schmecken einmal wirklich hingeben, dann wird uns «langsam namenlos im Munde».
Voller Apfel, Birne und Banane,
Stachelbeere … Alles dieses spricht
Tod und Leben in den Mund … Ich ahne …
Lest es einem Kind vom Angesicht,
wenn es sie erschmeckt. Dies kommt von weit.
Wird euch langsam namenlos im Munde?
Wo sonst Worte waren, fließen Funde,
aus dem Fruchtfleisch überrascht befreit.
Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.
Diese Süße, die sich erst verdichtet,
um, im Schmecken leise aufgerichtet,
klar zu werden, wach und transparent,
doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig ‒:
O Erfahrung, Fühlung, Freude ‒, riesig!
«Lest es einem Kind vom Angesicht.»
Dem Kind in uns selbst. Was wir an jedem unserer Sinne verfolgen konnten, wird am Geschmackssinn vielleicht besonders deutlich: die Entfaltung der Dankbarkeit von kindlich arglosem Erkennen der Gabe, über ehrfürchtiges Anerkennen des Gebers, zum Bekennen der Gnade in Weisheit.
Die göttliche Weisheit hat ein Festmahl bereitet
Das ganze Erdenrund, auf seinen sieben Säulen ruhend, wird zur Festhalle. Alles, was unsere Sinne erfreuen kann, ist uns aufgetischt.
Alle Welt ist willkommen.
Die Weisheit baute ihr Haus
und hieb sieben Säulen,
schlachtete ihr Vieh,
und trug ihren Wein auf,
und bereitete ihren Tisch,
und sandte ihre Dirnen aus, zu rufen
oben auf den Höhen der Stadt;
‹Wer unverständig ist, der mache sich hierher!›
und zum Narren sprach sie:
‹Kommet, zehret von meinem Brot,
und trinkt den Wein, den ich schenke.›[3]
«Frucht ist mir schon seit langem ein wichtiges Wort. In seiner einen Silbe ballt es die Kraft, die schon in Frühling und Sommer anklingt, mit gesteigerter Wucht zusammen. Frucht weist auf Fülle und Erfüllung hin ‒ als Gabe und als Aufgabe. Als Gabe schenkst du mir diese Verkörperung vollkommener Reife, sooft ich eine plumpe Frucht in Händen halten und ihren süßen Saft verkosten darf. Aber auch als Hinweis auf meine eigene Aufgabe werden mir Früchte zum Bild eigenen Reifens und Fruchtbringens.
Lass mich jede Frucht bewusst und dankbar wie aus Deinen Händen empfangen, als reines Geschenk dieses Jahres. Und schenk mir Zeit und Gelassenheit, Frucht zu bringen für andere und in Herzensfrieden auszureifen, Dir entgegen. Amen.»[4]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3f.]
[Ergänzend:
1. Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 104-106, 117:
«Jeder unsrer Sinne kann aus verschlafener Stumpfheit aufwachen und sich an dem Reichtum freuen, den das Leben festlich vor uns ausbreitet. Dazu lädt Rilke in einem seiner ‹Sonette an Orpheus› unsren Geschmacksinn ein.
Mit der Herausforderung ‹Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt›, will er uns bewusstmachen, wie leichtfertig und anmaßend wir oft annehmen, etwas zu kennen, nur weil wir es benennen können.
Wenn wir uns stattdessen darauf einlassen, es wie Kinder einfach zu erschmecken, dann fragt uns der Dichter:
‹Wird euch langsam namenlos im Munde?›
Und wir werden zugeben müssen:
‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde.›
‹Doppeldeutig› sind diese Funde und darum ‹hiesig›, denn wir leben ja hier im Doppelbereich ‒ im Doppelbereich auch von ‹Tod und Leben›.[5]
Dieser Apfel, diese Birne, sie sind lebendig und sie sterben im gleichen Augenblick, in dem wir von ihnen leben.
Schon mit dieser Erfahrung, wenn wir sie auch nur ‹ahnen›, stehen wir mitten im großen Geheimnis.
Voller Apfel, Birne und Banane,
Stachelbeere ... Alles dieses spricht
Tod und Leben in den Mund ... Ich ahne ...
Lest es einem Kind vom Angesicht,
wenn es sie erschmeckt. Dies kommt von weit.
Wird euch langsam namenlos im Munde?
Wo sonst Worte waren, fließen Funde,
aus dem Fruchtfleisch überrascht befreit.
Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.
Diese Süße, die sich erst verdichtet,
um, im Schmecken leise aufgerichtet,
klar zu werden, wach und transparent,
doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig ‒ :
O Erfahrung, Fühlung, Freude ‒ riesig!
Das beseligte Stammeln der letzten Zeilen zeugt von Ergriffenheit.
Wer mit solcher Intensität ‹offen und Empfänger› wird ‒ der Ausdruck entstammt einem andren der ‹Sonette an Orpheus›[6] ‒, mit welchem der Sinne auch immer, den ergreift das Geheimnis, das der Dichter hier im Erschmecken der Früchte erahnt.
Es spricht ihn an, es ‹spricht (ihm) ... in den Mund›, wie er es so gewagt ausdrückt, aber nicht mit Worten:
‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde›:
Jetzt erwachen unsre Sinne und bemerken mit Staunen und Freude die unzähligen Gelegenheiten, aus Freudenquellen zu trinken: Wir können sehen, hören, riechen, schmecken, betasten ‒ Gelegenheiten, uns zu freuen, auf die wir bisher kaum geachtet haben. Unsre Sinne erwachen. Wir entdecken zunehmend mehr von der Fülle unsrer Lebendigkeit.»
2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 48-50 und 40, 81
3. Audios
Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(55:40) ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (R. M. Rilke, Die Sonette 1. Teil, XIII):
‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde›: ‹Worte: das sind Begriffe ‒ Funde sind Ergriffenheit›[7]
(58:41) Bruder David liest das Gedicht noch einmal
(59:56) ‹Kostet und seht, wie gut der Herr ist› (Ps 34,9) ‒ Das Wort ‹Sapientia› ‒ Weisheit ‒ kommt von ‹sapere›: schmecken, Geschmack für das Geheimnisvolle. Und das beginnt mit dem Schmecken lernen: sich Zeit lassen zum Essen
Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökologie: Pater Johannes und Bruder David im Dialog:
(00:00) Wie Spiritualität mit Ökologie zusammengehören / (03:58) Logos und Sophia im Prolog des Johannesevangeliums ‒ Weisheit, Weisung, Herzensweisheit und ein Name für Gott
Ökologische Grundprinzipien:
(07:25) Inkarnation der Weisheit in der Schöpfung, im Leben und im Alltag: Wenn die Weisheit alles geschaffen hat, dann begegnen wir in allem, was es gibt, der Wirklichkeit Gottes
(39:18) ‹Ihr Schlachtvieh hat sie geschlachtet, ihren Wein gemischt, auch ihren Tisch hat sie gedeckt› (Spr 9,2)
Spiritualität im Alltag in Dienten (1994)
Vortrag:
(40:29) «Das tägliche Brot ist nicht nur, was wir essen ‒ das tägliche Brot ist alles, was uns täglich zukommt. Das Gott will uns nähren mit allem, was uns täglich begegnet: Jeder Augenblick, jeder Mensch, jeder Gegenstand, alles, was uns begegnet ist Wort Gottes, auf das wir horchen können. Da kommt das Gehorchen herein, dieses tiefe Hinhorchen, aus dem die Antwort entspringt. Und das nährt uns: Wir können ‹vom Worte Gottes leben›. Und zu dieser Bitte ‹gib uns heute unser tägliches Brot› gehört die Geistgabe der Weisheit, ‹sapientia› vom lat. ‹sapere›, schmecken, und ist eigentlich der richtige Geschmack, das ‹Geschmeck› für das Wort Gottes, für die Gabe Gottes.»
Retreat-Woche in Assisi (1989)
Amen: Unsere Antwort auf die ‹amunah›, die Treue Gottes:
(05:29) Voller Apfel, Birne und Banane‘ (Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XIII): Br. David liest und deutet das Sonett Zeile für Zeile
Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt
Schmecken, Auskosten ‒ ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (R. M. Rilke, Die Sonette)]
__________________
[1] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 100
[2] R. M. Rilke: ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (Die Sonette, 1. Teil, XIII)
[3] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Durch die Sinne Sinn finden› (2021), 73-76; der Bibeltext nach der Lutherbibel 1912 ist aus Spr 9,1-5
[4] Erwachende Worte (2023): ‹14 Frucht›, 45
[5] DOPPELBEREICH, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 132f.:
«Ursprünglich bedeutet der Doppelbereich bei Rilke, der diesen Begriff prägte, die ‹Nicht-Zweiheit› (A-Dwaita) der Bereiche von Lebenden und Verstorbenen. In den ‹Sonetten an Orpheus› entwickelt der Dichter dieses Thema, zum Beispiel unter dem Bild der ‹Spieglung im Teich›. Das schöne deutsche Wort ‹Doppelbereich› lässt sich aber auf viele andre Gebiete anwenden. Was durch die Beziehung von ‹A-Dwaita› entsteht, ist immer ein Doppelbereich»
Bruder David geht auf die ‹Spieglung im Teich› ein in Orientierung finden (2021): ‹Innen / Aussen ‒ Zwei Aspekte der Wirklichkeit›, 76 und in TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 99-101
[6] «Blumenmuskel, der der Anemone
Wiesenmorgen nach und nach erschließt,
bis in ihren Schoß das polyphone
Licht der lauten Himmel sich ergießt,
in den stillen Blütenstern gespannter
Muskel des unendlichen Empfangs,
manchmal so von Fülle übermannter,
dass der Ruhewink des Untergangs
kaum vermag die weitzurückgeschnellten
Blätterränder dir zurückzugeben:
du, Entschluss und Kraft von w i e viel Welten!
Wir, Gewaltsamen, wir währen länger.
Aber w a n n, in welchem aller Leben,
sind wir endlich offen und Empfänger?»
R. M. Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, V
Siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 81 und TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 86
[7] Orientierung finden (2021), 42:
«Nur durch Ergriffenheit verstehen wir Musik, und auch das Geheimnis verstehen wir nur in Augenblicken von Ergriffenheit. Beides wird uns geschenkt: Wir müssen uns nur willig ergreifen lassen.
‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise›,
sagt der große mittelalterliche Mystiker Bernhard von Clairvaux (1090-1153). Weisheit ist das Ziel unsrer Bemühungen um Orientierung. Dabei wird es also letztlich um unsre Beziehung zum Geheimnis gehen.»
Schönheit
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Schönheit verwandelt den Betrachter. Schönheit wirkt anziehend. Sie zieht dich auf ihre Seite.
Selbst Güte und Wahrheit können das menschliche Herz nicht völlig gewinnen, wenn sie nicht mit einer Anmut und Leichtigkeit ausgestattet sind, die sie schön sein lassen.
Wenn Jesus sagt: «Betrachtet die Lilien» (Matthäus 6,28), dann ist das eine Einladung an jeden einzelnen von uns.
Im Augenblick aber, da wir diesen Lilien unser Herz schenken, geschieht etwas Überraschendes.
Wir meinten die Lilien zu betrachten, doch plötzlich betrachten die Lilien uns.
Rilke fängt diese Erfahrung in seinem Gedicht «Archaischer Torso Apollos» ein.
Er verwendet vierzehn Zeilen, um uns das Gefühl zu geben, wir betrachteten die Skulptur, die er eher vor uns hinstellt, als sie beschreibt.
Wir sind ganz Auge.
Plötzlich kehrt der Dichter die Perspektive um und sagt:
«da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht.»
Unvermittelt endet das Gedicht nun mit:
«Du musst dein Leben ändern.»[1]
Die Lilie schaut dich an, und jedes einzelne Blütenblatt wird zu einer Zunge, die dich schweigend herausfordert.
Mit dieser Herausforderung beginnt die Verwandlung unserer Welt. Sobald wir uns der Herausforderung der Schönheit stellen und das Wagnis auf uns nehmen, schlägt uns die Verwandlung in ihren Bann.
Dies beginnt mit einem Wandel in unserem Herzen und geht dann seinen Weg bis zur Umwandlung selbst der sozialen Ordnung, ja bis zur Transformation der Materie. [FN 1) 132f.; 2-5) 134-136; 6) 134-136]
Die Natur ist einfach da; sie hat keinen unmittelbaren Nutzen. Sie ist ein reines Geschenk der Schönheit und des Lebens.
Gerard Manley Hopkins sagt:
«Tief drinnen in den Dingen lebt die kostbarste Frische.»
Und diese ursprüngliche Frische wird jeden Morgen erneuert.
Denise Levertov hat das freudige Staunen über diese Frische in einem Gedicht eingefangen, das offenbar ganz speziell für Pendler im morgendlichen Berufsverkehr geschrieben ist.
Es beginnt mit allen Schwierigkeiten und der ganzen Spannung und Negativität, die am Morgen auf einen Pendler zukommen.
Dann aber erhascht das Auge wie zufällig einen Schimmer von Schönheit.
Wenn wir uns Zeit nehmen, so lange bei diesem Anblick zu verweilen, als wir brauchen, um den zweiten Vers zu lesen, dann wird dieses beflügelnde Gedicht unser Herz erheben, so wie es sich auf den melodischen Schwingen der Gesänge erheben kann.
Der Schrecken eines jeden Tages,
beinahe eine Form von Langeweile ‒
Wahnsinnige
Am Steuer und
Mit dem Fuß aufs Gas, und
Die Bremsen taugen nichts ‒
Und täglich eine am Morgen erblühte
Purpurwinde, manchmal zwei,
makellos, blau
oder rotgesprenkelt, und jede
erstrahlt wie von innen
mit dem ersten Sonnenstrahl.
Das Gegenteil von Dankbarkeit ist, alles als selbstverständlich anzusehen.
Solange wir unserer Wege gehen und die Dinge als selbstverständlich hinnehmen, werden wir das Licht nie sehen; die Wirklichkeit bleibt undurchlässig wie Klosterfenster, bevor die Sonnenstrahlen sie zu Wänden aus Licht machen.
In dem Maß, in dem wir Überraschungen in unser Leben hineinfließen lassen, wird unser ganzes Leben lichtdurchlässig.
Musikhören oder Singen heißt: etwas tun, was keinem praktischen Zweck dient. Es ist nur Feiern und Lobpreisen. Es heißt, nur die Freude und Schönheit des Lebens, die Herrlichkeit Gottes zu kosten. [MS 5) 54f., 25]
… Hände reden. Sie können aber auch horchen.
Das hat mich Sen Soshitsu gelehrt, der Groß-Teemeister Japans, dessen Urahne Sen Rikyu, im 16. Jahrhundert der Teezeremonie ihre klassische Form gab.
In einer vornehmen Privatwohnung in New York wurde das Ehepaar Sen an jenem Abend mit einem Empfang geehrt. Man wollte den Gästen aus dem Osten das Beste westlicher Kultur darbieten. Ein berühmter Cembalist sollte auf einem Instrument spielen, das eigens für diese Gelegenheit ausgeliehen worden war.
Da stand es in seiner schlichten Schönheit, glänzend im Licht der vielen Kerzen, aber versperrt. Der Schlüssel zum Deckel der Tastatur war einfach unauffindbar.
Verwirrung, Geflüster, peinliche Stille.
Mit heiterer Gelassenheit geht Sen Soshitsu auf das Cembalo zu, lässt seine Hand bewundernd über das seidige Holz gleiten.
Völlig gesammelt scheint er dankbar zu sagen:
«Ist das nicht schon mehr als genug?»
Dann lächelt er, und alle atmen auf.
Alle nur mögliche Musik war aus dem Instrument durch seine horchende Hand in dieses Lächeln gestiegen und darin Wirklichkeit geworden. [AH 1-2) 73f.; 3-5) 72f.
Mit etwas Schönem tritt unser ganzes Wesen in Resonanz, so wie vielleicht ein kristallener Lampenschirm jedes Mal klirrt, wenn man auf dem Klavier ein Cis-Dur anschlägt.
Wenn dieses Gefühl der Resonanz (oder unter anderen Umständen der Dissonanz) unsere Interaktion mit der Welt bestimmt, sprechen wir von Emotionen.
Wie freudig treten die Emotionen mit der Schönheit unserer mystischen Erfahrung in Resonanz!
Je stärker sie anschlagen, desto intensiver genießen wir diese Erfahrung. Es kann dann sein, dass wir uns noch nach vielen Jahren genau an den entsprechenden Tag und die Stunde erinnern.
Vielleicht gehen wir dann wieder zu der Gartenbank, auf der uns der Gesang einer Drossel ganz hingerissen hatte.
Auch wenn wir diesen Vogel womöglich nie mehr hören, kann uns das trotzdem zum Ritual werden, und damit ist dann eine Art von Pilger-Ritual an einem für uns ganz persönlichen heiligen Ort entstanden.
[Auf dem Weg der Stille (2016), 137f.]
_________________________
[1] Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft / CH:
Die den Kurs begleitenden Gedichte (2014), 7, siehe auch AH 1-2) 47f.; 3-5) 45-47]
Schöpfer ‒ Ursprung
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
[Audio ‹Schweigen› (52:10)] Bruder David: «In unseren stillen Stunden, in unseren Stunden des Hinhorchens, in alldem, was wir bisher gesprochen haben, nähern wir uns diesem Geheimnis des Ursprungs, des Springens aus der reinen Möglichkeit in die Wirklichkeit.
‹Warum gibt es irgendetwas und nicht nichts›?
Kinder fragen das immer, das ist eine zutiefst philosophische Frage.
Die Antwort ist: Ursprung.
Es springt aus dem Geheimnis.
Alles springt aus dem Geheimnis hervor,
und zwar im Dunkel.
Der Ursprung ereignet sich immer im Dunkel.
Man muss den Samen in die Erde legen,
ganz dunkel,
und dann kommt der Keim heraus.
Der Mutterschoß ist dunkel.
Unsere besten Einfälle kommen aus dem Dunkel.
Und darum sagt Rilke:
‹Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden:
Aus ihnen kommt mir Wissen, dass ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.›
In unseren Dunkelstunden wird uns das bewusst, dass dieses Leben: es ist mehr dran, als wir immer meinen.
‹Ich habe Raum›
‒ wieder diese Offenheit:
‹Ich habe Raum zu einem zeitlos breiten Leben.›
Und darum liebt er die Dunkelstunden und liebt er die Dunkelheit, aus der wir selber unsern Ursprung nehmen: diesen UR-SPRUNG.
Wir kommen aus dem Dunkeln, wir wissen nicht, woher wir kommen ‒ letztlich.
Wo kommen wir her?
Selbst die Wissenschaft: Urknall ist eine Theorie, wird vielleicht einmal überholt werden, aber heute ist es noch so die führende Theorie: Bis zu einer hundertstel Sekunde nach dem Urknall können wir noch wissenschaftlich gewisse Aussagen machen, aber dann: nichts ‒ dunkel ‒ weite Offenheit ‒ nichts.»[1]
Hinter dem Wort URSPRUNG steht das Bild eines Sprunges. Was springt da? Das Sein springt aus Nicht-Sein ins Dasein.
«Aus nichts wird nichts», heißt es im Volksmund ganz richtig. Der Quell allen Seins ist aber nur insofern «Nichts», dass er «nicht etwas» ist.
Er ist aber kein leeres Nichts. Dieses göttliche Nichts, das Angelus Silesius in seinem Zweizeiler «ein Nichts und Übernichts» nennt, ist der mütterliche Urgrund, schwanger mit unbegrenzten Möglichkeiten.
Der URSPRUNG ist dann der Sprung von Möglichkeit in die Wirklichkeit, aus reinem Möglich-Sein ins So-Sein.
«Die zarte Gottheit ist ein Nichts und Übernichts.
Wer nichts in allem sieht, Mensch, glaube, dieser sieht’s.»
Sieht was? Die göttliche Wirklichkeit in allem: das Große Geheimnis, das beide Pole des URSPRUNGS umfasst, das Sein und das Nicht-Sein und zugleich das Springen selber.
Der Name Schöpfer verweist mehr auf das Sein, der Name URSPRUNG mehr auf das Springen aus dem Nicht-Sein.
Ja, wir können lernen, in allem, was wir anschauen, zugleich das Große Geheimnis zu «sehen», es wirklich zu spüren als Nichts, hinter dem Ursprung ‒ als Hintergrund gleichsam.
So können wir ja auch bei Musik die Stille mithören lernen, nicht als etwas Zusätzliches, sondern als Voraussetzung.
Als Kind warst du ‒ wie alle Kinder es sind ‒ ein kleiner Philosoph. Kannst du dir erlauben, zu dieser Einfalt (nicht Einfältigkeit) zurückzufinden? Traue es dir doch zu, und dann lies nochmals aufmerksam diese Erwägung zum Gottesnamen URSPRUNG.[2]
Die Ahnung, die sich im Namen SCHÖPFER ausdrückt, steigt in uns auf, wenn wir die Schönheit der Welt sehen und die Gesetzmäßigkeit entdecken, die alles bis ins Kleinste ordnet.
Der Künstler in uns denkt unwillkürlich an die Kreativität eines überragenden Meisters und der Wissenschaftler in uns kann sich nicht genug wundern über die Kraft, die sich da ausdrückt. Was uns so beeindruckt, ist die Schaffenskraft einer höheren Wirklichkeit, die wir daher SCHÖPFER nennen.
Wir dürfen aber dichterische Bilder nicht wörtlich nehmen. Auch das Bild vom SCHÖPFER nicht. Wir haben es schon gesagt: Gott wirkt nicht «von außen» auf die Welt ein. Der Name SCHÖPFER weist auf die Größe des Geheimnisses hin, aus dessen kreativer Kraft alles, was es gibt, hervorgeht.
Auf welchem Gebiet bist du selber schöpferisch?
Vielleicht willst du heute einen Kuchen backen oder das Fahrrad reparieren. Je mehr wir unsere eigene Schöpferkraft entdecken und sie als Begabung, also als Gabe und Aufgabe erleben, umso ähnlicher werden wir dem SCHÖPFER.[3]
Alle Namen, die wir Gott geben, sind wie Brücken zwischen Nennbarem und Unnennbarem. Wir müssen es schaffen, zugleich auf beide Brückenköpfe zu schauen.
Nur ins unnennbare Licht zu schauen, das macht blind.
Aber nur Nennbares zu sehen, ist Kurzsichtigkeit.
Dass SCHÖPFER und URSPRUNG, Sein und Nicht-Sein, ein und dieselbe letzte Wirklichkeit bezeichnen, geht uns nur dann auf, wenn beide uns zugleich begeistern und erschaudern lassen.
Oder um ein anderes Bild zu gebrauchen: Im Strom erkennen wir die Quelle und in der Quelle den Strom, aber nur dann mit voller Wirkkraft, wenn wir uns der Strömung hingeben. Und diese Strömung ist eine FORMENDE: Sie greift ins Gestein wie ein reißender Wildbach.
Durch alles, was uns widerfährt, durch «Schönheit und Schrecken»[4], formt uns der FORMENDE, und doch nur so, wie wir es zulassen.[5]
In Rilkes Stunden-Buch findet sich ein wunderschönes Gedicht, das speziell für die Laudes[6] geschrieben sein könnte.
«Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken
Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.»[7]
Es ist fast ein kleiner Schöpfungsmythos. Hier hört der Dichter, wie Gott im Schoß der Dunkelheit zu jedem von uns spricht, noch bevor wir geboren werden, bevor er uns vollendet. Dann begleitet Gott uns hinaus aus der Nacht.
«Von deinen Sinnen hinausgesandt,»
weist er uns an,
«geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.»
Gott findet seine Äußerung in dieser Welt durch die Art und Weise, wie wir mit der geheimnisvollen Stille und Finsternis umgehen, aus der wir kommen.
Jeder ist dazu bestimmt, das göttliche Geheimnis
in seiner ganz persönlichen Eigenart auszudrücken.
Und während er uns ins Licht führt, spricht Gott zu uns:
«Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehen: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.»
Und zum Abschied sagt er uns:
«Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.Gieb mir die Hand.»
Dieses neue Land, in das wir gesandt werden, ist Gottes Geschenk: Sein erhabenes Geschenk, das Geschenk des Seins.[8]
Wir sind mit dem Großen Geheimnis zuinnerst geeint.
Wir erleben den FORMENDEN als unsere eigene innerste Sehnsucht zur Lebensgestaltung.
Fühlst du eine Stelle in deinem Inneren,
wo sich etwas verändern will?
Veränderung kann schmerzen. Aber wie gut, sich dessen bewusst zu werden, dass dein Leben nicht von äußeren Umständen getrieben seine Form erhält, sondern,
«wie es dir selber gefällt».[9]
Die Tiefe, das Schweigen, das Mysterium, der Mythos, das Dunkel muss sich aussprechen in Wort, Logos, Erhebung, Licht, Auge. Die beiden Bereiche gehören zusammen. Sie zusammenzubringen, das ist unsere eigentliche Arbeit. Jede andere Arbeit ist unbedeutend, oberflächlich, aber hier ist unsere wahre Arbeit. In der biblischen Sprache heißt sie Schöpfung. Rilke spricht davon, wenn er zu Gott betet:
«Du hast dich so unendlich groß begonnen
an jenem Tage, da du uns begannst, ‒
und wir sind so gereift in deinen Sonnen,
so breit geworden und so tief gepflanzt,
daß du in Menschen, Engeln und Madonnen
dich ruhend jetzt vollenden kannst.»[10]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-3, 5, 7-10]
[Ergänzend:
1. ‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht› (Rilke: Das Stunden-Buch)
Audio Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen:
(56:08) ‹Gott spricht zu jedem nur …›
Text in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil 1 (2014), 32
2. Sensibilität für dichterische Sprache in Schöpfungsmythen
Bruder David im Vortrag Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (21. Oktober 2010) im Kardinal Wendel Haus, München:
(30:00) Der Schlüsselsatz ‹Es gibt mich› im Kontext von Schöpfungsmythen ‒ ein Schöpfungsmythos der Apachen
3. Urknall, ein moderner Schöpfungsmythos
Dem Welthaushalt freudig dienen (2011)
Audio ‹Spiritualität und Ökumene›: Dialog und Fragerunde mit Pater Johannes und Bruder David:
(21:10) Schöpfungsmythen und Naturwissenschaft
4. «Dichtung verdichtet unser Erlebnis und zerredet es nicht.»[11]
4.1. TAO der Hoffnung (1994)
Vortrag:
(20:41) Rabbi Sussja von Hanipol (Martin Buber in: Die Erzählungen der Chassidim): Es ist genug an einem Worte – ‹mit e i n e m Worte kann man die Welt erheben, mit e i n e m Worte kann man die Welt entsühnen› – Gott spricht ein einziges Wort (Thomas von Aquin): ‹Ich liebe› – ‹Du kannst das doch!› – Das ist es jetzt!
4.2. Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(37:58) Rabbi Sussja in der Deutung von Martin Buber und einem Axiom von Thomas von Aquin
4.3. Auf dem Weg der Stille (2023), 31f., mit einem Zitat von Martin Buber (1878-1965) in seinem Buch ‹Die Erzählungen der Chassidim› (1949): ‹Das Wort›, 375; siehe auch Religionen ‒ drei Innenwelten:
«Gott sprach und die Welt wurde erschaffen.
Das ist eine mythische Art und Weise, die Weltsicht der Bibel zum Ausdruck zu bringen:
Alles, was existiert, lässt sich als Wort Gottes verstehen. Diese Vorstellung ist derart zentral, dass man zu Recht sagen könnte, die Religionen Judentum, Christentum und Islam seien alle drei wie in einem Samenkorn in der Aussage ‹Gott spricht› enthalten.
In einer der chassidischen Erzählungen, die Martin Buber überliefert hat, kommt recht deutlich zum Ausdruck, welchen Vorrang in der westlichen religiösen Tradition das Wort hat.
Von Rabbi Sussja, einem der großen chassidischen Mystiker, wird erzählt, er sei nicht imstande gewesen, sich die Predigten seines Lehrers zu merken. In der Erzählung wird dieses bedenkliche Unvermögen folgendermaßen erklärt:
Rabbi Sussjas Lehrer hatte die Gewohnheit, vor seinen Predigten immer zuerst einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift vorzulesen. Der Lehrer begann also damit, die Tora-Rolle aufzurollen, ‹Und Gott sprach› zu sagen und dann mit Lesen zu beginnen.
Aber an diesem Punkt ‒ als der Lehrer erst gesagt hatte: ‹Und Gott sprach› ‒ hatte der arme Rabbi Sussja bereits mehr gehört, als er aushalten konnte. Er begann sich so wild zu gebärden, dass man ihn aus der Synagoge führen musste. Da stand er dann im Flur oder im Holzschuppen und schrie: ‹Und Gott sprach! Und Gott sprach!› Das reichte ihm schon.
Martin Buber vermutet, dass Rabbi Sussja den Sinn von Gottes Wort tiefer als alle diejenigen verstand, die sich den Inhalt der Predigten ihres Lehrers merken konnten. Er schreibt:
‹Mit e i n e m Worte kann man die Welt erheben, mit e i n e m Worte kann man die Welt entsühnen.›»
4.4. An welchen Gott können wir noch glauben? (2008): Bruder David wiederholt die Erzählung von Martin Buber und fügt an:
«‹Das Wort ist Fleisch geworden›, das ist unsere christliche Botschaft, unsere westliche Botschaft, alles aufs Wort konzentriert. Und ‹der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt›, und so wird in dieser Tradition alles, was es gibt, als Wort, verstanden, indem Gott zu uns spricht. Und weil Gott so einfach ist, hat Gott nur eines zu sagen, und weil Gott die Liebe ist, hat Gott einfach nur zu sagen: ‹Ich liebe›, ‹Ich liebe dich.›»
4.5. Bruder David (30:54) im Vortrag Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (27. Oktober 2010) in Wien im Zusammenhang mit dem Gedicht ‹Piet Beauty›, deutsch: ‹Gescheckte Schönheit› von Gerard Manley Hopkins (1844-1889), einem britischen Lyriker und Jesuiten, der Bruder David sehr lieb ist; siehe die Mitschrift mit dem Zitat von Thomas von Aquin in Anm. 2:
«Für die unter Ihnen, die sich für theologische Feinheiten interessieren, ist es ganz wunderbar, dass Gerard Manley Hopkins, der auch ein großer Theologe war, hier sagt:
‹Er zeugt es hervor›,[12] im Englischen: ‹his fathers forth›, denn Thomas von Aquin (1225-1274) sagt, dass der Akt, in dem Gott das ewige Wort spricht: das eine, den Logos, derselbe Akt ist, in dem Gott die Welt erschafft.
Gott ist zu einfach, um zwei Akte zu haben: In e i n e m Schwung kommt aus dem Nichts, dem trächtigen Nichts, dem schwangeren Nichts des göttlichen ES, alles hervor. Das ist der Logos und die ganze Schöpfung in einem Schwung.»
Thomas von Aquin: «Das Wort: Kommentar zum Prolog des Johannes-Evangeliums (lat.-dt.)» (= Einführende Schriften, Bd. 1), übersetzt von Josef Pieper; hrsg. von Hanns-Gregor Nissing und Berthold Wald, München, Pneuma-Verlag [2017], 9:
«Wir nämlich sind unvermögend, alle unsere Erfahrungen in einem einzigen Worte auszusprechen; so müssen wir viele unvollkommene Worte bilden, durch die wir getrennt alles das aussprechen, was in unserem Wissen ist. In Gott aber ist es nicht so: weil er sich selbst und alles, was er durch seine Wesenheit erkennt, in einem einzigen Akt erkennt, darum spricht das einzige göttliche WORT alles aus, was in Gott ist, nicht nur die göttlichen Personen, sondern auch die Schöpfung; sonst wäre es unvollkommen. So sagt Augustinus: ‹Würde das WORT irgend weniger umfassen, als in dem Wissen dessen ist, der es spricht, so wäre das WORT unvollkommen. Nun aber ist gewiss, dass es auf die höchste Weise vollkommen ist; also ist es nur eines.› Und im Buche Hiob heißt es: ‹E i n Mal spricht Gott.› (Hiob 33,14).»
5. Die Sophia, die alttestamentliche Weisheit und der Mutterschoß des Nichts
5.1. ‹Schöpfer› hat einen ausgesprochen männlichen Klang. Berührend ist der weibliche Ton in der Seminarreihe (2011) mit Pater Johannes Pausch und Bruder David. Man spürt die Beziehung von Pater Johannes zu Heilpflanzen und Heilkräutern und wie Bruder David den Reichtum der Schöpfung auskostet.
Die Seminarreihe ist nachzuhören in den Audios Dem Welthaushalt freudig dienen (2011).
Die Begriffe ‹Ökologie›, ‹Ökumene› und ‹Ökonomie› bedeuten darin viel mehr als im Sprachgebrauch heute üblich. Sie beziehen sich im Sinn des altgriechischen Wortes ‹oikos› auf die Gesetzmäßigkeiten, das Zusammenleben und die Verwaltung unserer bewohnten, uns allen gemeinsamen, einzigen und unteilbaren Welt.
Auf der Basis dieser Seminarreihe ist das Buch Erkenntnis (2023) entstanden:
«Gott ist Weisheit. Weisheit ist Gott. Das eröffnet uns völlig neue Perspektiven. Wir können uns fragen, wohin es uns führt, wenn wir sie im Kosmos entdecken und betrachten, die heilige Weisheit namens sophia.» (82f.)
«Gott ist das Nichts. Aber er ist kein leeres Nichts. Er ist das schwangere Nichts, das alles in sich trägt.» (83)
«Manchmal höre ich von einem Menschen: ‹Ich glaube an nichts!› Und ich antworte ihm dann: ‹Da ist Ihr Glaube ja schon sehr weit fortgeschritten. Ich brauche immer noch ein Wort, ein Bild oder eine Erfahrung. An das Nichts zu glauben ist der Anfang der Weisheit, denn aus dem Nichts hat Gott alles erschaffen.» (83f.)
«Die Ökologie ist die Inkarnation der göttlichen Weisheit. Wenn sie alles geschaffen hat durch Wort, durch Bild, durch Erfahrung, begegnen wir in allem um uns herum der Wirklichkeit Gottes.» (84)
«Die Natur ist göttliche Weisheit. Wenn wir das sehen, begreifen wir, dass wir mit unserer Umwelt gerecht umgehen müssen.» (84)
«Wir sollten allem auf Gottes Erde mit liebevoller Ehrfurcht begegnen. Jedem Menschen, jedem Tier jeder Pflanze, all unseren äußeren und inneren Erfahrungen.» (85)
«Die Weisheit ist der Lebensatem des Geistes. Deshalb sind die drei Elemente der Weisheit, Geist und Vernunft in der Sprache des Neuen Testamentes gleichbedeutend.»
5.2. Bruder David (09:35) im Vortrag Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (27. Oktober 2010) in Wien:
«Das zweite im ‹ES gibt mich› ist das m i c h: Ich bin Teil einer unübersehbaren Vielfalt von Dingen: alles, was es gibt. Das ES weist auf das unmanifeste Göttliche hin, wie es im Hinduismus heißt, auf das Nichts, aus dem alles hervorkommt, aber nicht ein leeres Nichts, sondern ein mütterlicher Schoss, ein fruchtbarer Schoss des Nicht-etwas, aus dem alles, was etwas ist, hervorgeht.»]
___________________
[1] Transkription des Abschnittes in der Gesprächsreihe von Pater Johannes Pausch mit Bruder David in Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen:
(52:10) ‹Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden› – ‹Du Dunkelheit, aus der ich stamme› – ‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht› (Das Stunden-Buch)
[2] 99 Namen Gottes (2019): ‹12 al-Bāri’, der Schaffende, der URSPRUNG›, 30f. Das Zitat von Angelus Silesius in: ‹Cherubinischer Wandersmann: Erstes Buch, 111›
[3] Ebd. ‹11 al-Hāliq, der Schöpfer›, 28f.
[4] Orientierung finden (2021): ‹Religiosität ‒ was uns verbindet und heilt›, 63; siehe auch Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht:
«Rudolf Otto (1869-1937) hat die Begegnung mit dem Geheimnis unter dem Aspekt des ‹Heiligen› gründlich untersucht. Er beschreibt die beiden Gefühle, die das Heilige in uns auslöst, als ‹tremendum› ‒ das heißt, es lässt uns ehrfürchtig erschaudern ‒ und ‹fascinans› ‒ das heißt, es löst begeistertes Entzücken aus.
Das Ruhen in einer stets schon unbewusst ersehnten Gegenwart zieht uns unwiderstehlich an; doch das schwindelerregende Anderssein dieser Gegenwart lässt uns erschaudernd zurückweichen.
Wir können das Widerspiel dieser beiden Gefühle an einem kleinen Kind am Strand beobachten: Sooft sich die Wellen zurückziehen, kräht das Kleinkind vor Freude und versucht, ihnen nachzulaufen, wenn aber die Wellen zurückkehren, schreit es erschreckt auf und krabbelt schleunigst auf trockenes Land.»
Bruder David ebenso im Zusammenhang mit den Versen zu Beginn von Rilkes Achter Duineser Elegie in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil 1 (2014), 35-37
[5] 99 Namen Gottes (2019): ‹13 al-Muṣawwir, der FORMENDE, der jedem Ding seine Form gebende›, 32f.
[6] MUSIK DER STILLE (2023): ‹Laudes ‒ TAGESANBRUCH›, 48:
«DIE KLÖSTERLICHE STUNDE der Laudes führt uns aus der Finsternis hinaus ins Licht. Mit den Laudes bekommen wir bei Sonnenaufgang den neuen Tag geschenkt. Die Vigil begleitete uns durch die feierliche Finsternis und die dunkle Ewigkeit der Nacht; jetzt feiern wir das Licht.»
Jetzt im Stundengebet: Haupttext und Ergänzend: 2. zu ‹Laudes ‒ TAGESANBRUCH›, 50:
«Die Musik schwingt sich empor: Es ist ein Gesang der Freude und ein Gesang der Dankbarkeit. Diese festliche Stimmung der Dankbarkeit und Freude zieht sich den ganzen Tag durch die Gesänge hindurch, sogar dann, wenn sie gemessener und zurückhaltender werden. Welche Gesänge wir uns auch anhören, es ist ein Widerhall dieser tiefen Freude darin zu hören, weil Freude selbst mitten im Leiden und mitten im Schmerz angebracht ist.»
[7] Rilke: Das Stunden-Buch, das Gedicht vollständig in Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 35f.; Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil 1 (2014), 32, und Sinnenfreudiges Morgenlob
[8] MUSIK DER STILLE (2023): ‹Laudes ‒ TAGESANBRUCH›, 48f.
[9] Fortsetzung und Schluss des Textes in Anm. 5
«wie es dir selber gefällt» bezieht sich auf die 2. Strophe des Kirchenliedes von Joachim Neander: ‹Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren›:
«Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret,
der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet,
der dich erhält, wie es dir selber gefällt;
hast du nicht dieses verspüret?»
Siehe auch Gotteslob 392 und Gotteslobvideo (GL 392): Lobe den Herren
[10] Bruder David in Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation im Buch Geist und Natur (1989), 290; siehe auch Dunkelstunden
[12] Siehe auch Schöpfung ‒ ES gibt: Ergänzung: 2.: ‹Der springende Punkt: Schöpfung ist Selbstmitteilung Gottes› mit Anm. 17:
Das Große oder Nizäno-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis, das in der Liturgie verwendet wird, spricht von Jesus Christus als
‹Deum de Deo, ‹Gott von Gott
Lumen de Lumine, Licht vom Licht
Deum verum de Deo vero, wahrer Gott vom wahren Gott,
genitum non factum, gezeugt, nicht geschaffen,
consubstantialem Patri, eines Wesens mit dem Vater
per quem omnia facta sunt. durch ihn ist alles geschaffen.›
Der Gegensatz von ‹gezeugt, nicht geschaffen› könnte den Eindruck erwecken, als ob zwischen Jesus Christus: ‹gezeugt› und der Schöpfung: ‹geschaffen› eine dualistische Spaltung bestehe. Auch die Schöpfung, wie alles Lebendige, wird nicht e r zeugt, sondern g e zeugt. Wenn wir so tief in den Namen Jesu eintauchen wie Bruder David im Herzens- oder Jesus-Gebet, begegnen wir dem kosmischen Christus, der die Schöpfung einschließt:
«Wenn ich jedem Ding und jedem Menschen, den ich treffe, diesen Namen gebe, wenn ich ihn mir in jeder Lage vergegenwärtige, dann erinnere ich mich daran, dass all dies nur Erscheinungsformen der unerschöpflichen Fülle des einen ewigen Wortes Gottes, des Logos sind.»
Schöpfung – ES gibt
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Die Tatsache «Es gibt mich» ist schon ein Ansatz für die Schöpfungsgeschichte, eine Schöpfungsgeschichte liegt schon da drinnen, noch gar nicht in Bilder ausgeformt, aber wunderschön, ansatzweise wunderschön da.[1]
Wenn wir um uns schauen, so erleben wir die Welt als sinnträchtig: schwanger mit Bedeutung. Jedes Ding sagt etwas aus ‒ manchmal so überwältigend wie ein sommerliches Gewitter, manchmal so zart wie ein Kücken, das soeben aus dem Ei geschlüpft ist.
In jedem Ding spricht uns etwas an, wenn auch nicht in Worten und Begriffen, so doch unserem Herzen vernehmlich.
Diese Erfahrung ist uns zugänglich; wir müssen nur unsere Scheu überwinden, und ‒ Selbsttäuschung vermeidend ‒ ein wenig introspektiv experimentieren.
Wir sollten vielleicht ein paar stille Minuten ohne Ablenkung mit einem Stein oder einer Blume verbringen und uns Rechenschaft darüber geben, was wir da erleben.
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt!Die Vielfalt der Welt, die mich umgibt,
ist eines Deiner größten Geschenke.
Ich aber verunehre diese unerschöpfliche Vielfalt,
indem ich verallgemeinere.
Du sagst ‹Birke, Weide,
Tanne Linde, Föhre …›
Ich sage ‹Baum›.
Jeder dieser Bäume hat
sein unbenennbares
ureigenes Farbenspiel;
ich nenne sie alle ‹grün›.
Ich habe nur ‹Blatt› oder ‹Nadel›
als Namen für all das Sonderbare,
das jedes Zweiglein mir entgegenstreckt,
meine Fingerspitzen mit immer neuen
Überraschungen zu beschenken.
Dankbar für Vielfalt, will ich heute
wenigstens einmal einen Allgemeinbegriff
bemerken und vermeiden.
Amen.»[2]
Wenn wir nun in Stille um uns blicken und ergriffen werden von Staunen, was es doch alles gibt, dann eröffnet sich uns das Geheimnis als Weite ‒ als die unerschöpfliche Fülle des Seins, die aus dem Quellgrund hervorquellt.
Diese Weite ist in ihren Möglichkeiten ebenso grenzenlos wie die Tiefe, aus der sie hervorquillt. Wohin wir uns auch wenden, überall
«gibt es etwas»
und noch und noch etwas, und ich selbst gehöre ja auch dazu, denn es gibt auch mich: Das Geheimnis schenkt mich mir selbst und der Welt. In allem, was es gibt, wird das Geheimnis zum Geschenk, es schenkt sich selbst in allen Dingen.
Sonderbar, dass es kaum jemandem einfällt, nach dem ES zu fragen, das dies und das und alles gibt.[3]
«Denn wer ist denn dieses ES, das mich gibt? Meine Eltern. Aber wo kommen sie her? Aus der Evolution. Und wo kommt die her? Vom Urknall. Aber woher entstammt der Urknall? Keine Ahnung. Da bleibt immer ein unauflösliches Mysterium.»
Und doch wissen wir: ES gibt mich. Mich. Sage ich nun ‹Ich›, dann setzt das ein ‹Du› voraus. In dieser Ich-Du-Beziehung ist alle Spiritualität verankert. Wir im Westen reden hier auch von ‹Gott-Bezogenheit›, doch sollten wir das Wort Gott nur mit größter Vorsicht verwenden. Denn ‹Gott› ist nur ein Name für etwas Unnennbares, für das Mysterium ‒ das Mysterium,[4] dass sich jeder Mensch in einer Beziehung zu einer letzten Wirklichkeit befindet.
Diese Ich-Du-Beziehung ist das große Wunder ‒ unaussprechlich, unfassbar, unerforschbar.»
Christoph Quarch: «Was bedeutet das für unsere Lebenswirklichkeit?»
Bruder David: «Aus dieser Beziehung zu leben führt zu einer ganz neuen, anderen Lebenshaltung gegenüber Menschen und Tieren. Nun dominiert nicht mehr ‒ wie in unseren Breiten üblich ‒ die Ich-Es-Beziehung, sondern die Ich-Du-Beziehung.»
«Wovon wir aber noch weit entfernt sind.»
«Ja, denn wir haben die Ich-Du-Beziehung verdrängt und uns die Welt als ein Es untertan gemacht. Wir haben die Welt verobjektiviert, vergegenständlicht. Und nicht nur die Welt, sondern auch unsere Mitmenschen. Wir haben sie zu Dingen gemacht, zu Zahlen.»
«Wenn Sie hier ‹Wir› sagen, meinen Sie dann die westliche Zivilisation oder die Menschheit im Ganzen?»
«Ich bin in meinem Leben viel herumgekommen. Dabei habe ich nur selten ‒ bei nordamerikanischen Indianern oder in Afrika ‒ Menschen gefunden, die ursprünglich in dieser Ich-Du-Beziehung leben, und das sogar gegenüber den Dingen, dem Feuer, den Pflanzen.
Ansonsten steckt die Welt in toto in dieser Ich-Es-Beziehung. Der nun anstehende Bewusstseinswandel[5] wird das rückgängig machen: weg vom Ich-Es, hin zum Ich-Du; hin zu einer Haltung, bei der die Umwelt zur Mitwelt wird. Auch hier haben wir es wieder mit dem Geist des Wir zu tun.»
«Das ist eine Veränderung, die nicht allein unser Denken betrifft, sondern uns auch emotional und körperlich verwandeln wird; weil sich ‒ wie Sie sagten ‒ Spiritualität durch alle Dimensionen des Lebens hindurch erstreckt.»
«Richtig, und eben hier kann eine spirituelle Praxis ansetzen, um den Veränderungsprozess zu beschleunigen.»
«An welche Praxis denken Sie dabei?»
«An eine Praxis, die ich selbst seit langem übe und hilfreich finde. Sie ist sicher nicht die einzige, aber doch eine, die sich wunderbar mit allen anderen spirituellen Traditionen verbinden lässt, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Es ist die Praxis der Dankbarkeit ‒ gratefulness. Alle Menschen verstehen dies.»
«Schon, aber wie wird daraus eine spirituelle Praxis?»
«Indem Sie Dankbarkeit methodisch üben. Indem Sie Dankbarkeit als innere Haltung kultivieren. Die Voraussetzung dafür haben wir schon besprochen: diese einfache Erfahrung des Es-gibt-mich. Hören wir genau hin:
Das ist nicht: ‹Ich bin da.›[6] ‒ Da ist ein ES, und von diesem ES ist gesagt, dass ES g i b t , und zwar m i c h .»
«Und Dankbarkeit ist meine Haltung ‒ als Gegebener ‒ gegenüber dem, der mich gegeben hat. Richtig?»
«Ja, denn ich habe mich ja nicht gemacht
und nicht entworfen.
Ich habe mich empfangen.
Und ich tue es jeden Augenblick aufs Neue.
Und nicht nur ich tue dies,
sondern auch alles andere.
Alles, was ist, kommt ständig
als ein Geschenk aus diesem ES heraus.
Alles ist sich und einander geschenkt.
Wenn Sie sich das klar machen und in Dankbarkeit annehmen, dann bekommen Sie eine ganz andere Haltung zu Ihren Mitmenschen und zur Welt. Denn dann entsteht dieser Geist des Wir. Er ist ein Kind der Dankbarkeit.»[7]
«Ich finde dich in allen diesen Dingen,
denen ich gut und wie ein Bruder bin;
als Samen sonnst du dich in den geringen,
und in den großen gibst du groß dich hin.»Rilke: Das Stunden-Buch
Es ist geradezu ein mystischer Blick, der hier den Dichter in allen Dingen das große Du erkennen lässt.
Hinter den Dingen begegnen wir einer Gegenwart, die uns «entgegenwartet», wie Rilke es ausdrückt: einer Gegenwart, die uns etwas sagt, oder schweigend auf unsere Antwort wartet.
Diese allgemein menschliche Erfahrung steht hinter dem
«Gott sprach … und es ward»
im biblischen Schöpfungsbericht.
Wir haben es da mit einem dichterischen Ausdruck zu tun, dafür dass jedes Ding und jede Begebenheit als Wort verstanden werden kann.
Ein horchendes Herz weiß sich von Gott angesprochen in allem, was es gibt.[8]
Auch ein Mystiker aus der chassidischen Tradition des Judentums, Rabbi Yitzchak Berditchev (1740-1810), schaut alles mit diesem Blick an:
Wo ich auch gehe ‒ Du!
Was ich auch sehe ‒ Du!
Überall nur Du, immerdar Du. Du, Du, Du.
Wenn mir die Sonne scheint ‒ Du!
Wenn alles in mir weint ‒ Du!
Nur Du! Allezeit Du! Du, Du, Du.
Der Himmel nur Du! Die Erde nur Du!
Du oben! Du unten!
Wohin ich mich wende, so Anfang so Ende,
Nur Du, immerfort Du!
Aber verwischen wir hier nicht die Unterscheidung zwischen Menschen und Dingen? Nein.
Diese Art, die Welt zu sehen, heilt den klaffenden Schnitt der Trennung zwischen zwei Welten ‒ zwei Welten, die wir unterscheiden können, nicht aber trennen dürfen: Du-Welt und Es-Welt.[9]
Wir haben die Ich-Du-Perspektive und die Ich-Es-Perspektive nicht nur unterschieden, sondern gewaltsam getrennt. Die Ganzheit der Welt zerfällt durch diese extreme Spaltung. Überall um uns herum wird dadurch die Natur zum Objekt und wir erdreisten uns, sie beliebig zu manipulieren.
Wer aber je in den Bergen gewandert ist, das Schweigen des Waldes erfahren hat oder auch nur einen Baum im Park als Freund hat, weiß, dass die Natur mehr ist als nur Objekt. Sie steht uns zugleich auch als Subjekt gegenüber.
Martin Buber beschreibt dies am Beispiel eines Baumes, den er nicht als Gegenstand, sondern als Gegenüber zu sehen beginnt.[10]
«Ich betrachte einen Baum. Ich kann ihn als Bild aufnehmen ... Ich kann ihn als Bewegung verspüren ... Ich kann ihn einer Gattung einreihen und als Exemplar beobachten ... als Ausdruck der Gesetze, nach denen die Stoffe sich mischen und entmischen. Ich kann ihn ... zum reinen Zahlenverhältnis verflüchtigen ... In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand ...
Es kann aber auch geschehen, durch Entscheidung und Geschenk zugleich, dass ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihm eingefasst werde, und nun ist er kein Es mehr ... Er hat mit mir zu schaffen, wie ich mit ihm ‒ nur anders ... Beziehung ist Gegenseitigkeit. So hätte er denn ein Bewusstsein, der Baum, dem unsern ähnlich? Ich erfahre es nicht ... Mir begegnet keine Seele des Baums und keine Dryade (ein Baumgeist), sondern er selber.»
Was hat sich hier ereignet? Hat der Philosoph Martin Buber einfach sein eigenes Bewusstsein auf diesen Baum projiziert und ihn so personifiziert? Auf die Frage nach dem Bewusstsein des Baumes antwortet Buber bescheiden: «Ich erfahre es nicht.»
Es geht gar nicht darum, was der Baum erfährt oder nicht erfährt: Es geht darum, was wir erfahren. Uns wird das Einbezogenwerden in eine Beziehung bewusst.
Beziehung ist Gegenseitigkeit.
Bei dieser Gegenseitigkeit spielt aber mehr mit als dieser einzelne Baum, so wie bei der Begegnung mit einem Menschen mehr mitspielt als dieses einzelne Du. So wie mir in dem Du eines andern das Ur-Du begegnet, so in der Gegenseitigkeit mit dem Es eines Baumes das Ur-ES, dem wir schon in dem Satz
«ES gibt mich»
begegnet sind ‒ jenes ES, das alles gibt, «was es gibt».
Diese Erfahrung kommt, wie Buber sagt,
«durch Entscheidung und Geschenk zugleich»
zustande.
Beides ist nötig: dass wir uns entscheiden, willig unser Herz dieser Erfahrung zu öffnen, und dass wir sie als Geschenk empfangen.
«Alles ist Gnade», sagt Augustinus, alles ist Geschenk des Lebens.
Und das Leben ist die abenteuerliche Geschichte unsrer Begegnungen mit dem Geheimnis.[11]
Sie schwingt mit, wann immer ich einem Du begegne. Anfangs mag dies kaum mehr sein als eine Ahnung, aber ich kann mir darüber Gedanken machen und einsehen, warum dies so sein muss:
«Wir tanzen rätselnd rundum im Kreis;
Das Geheimnis sitzt in der Mitte und weiß.»
Mein Ur-Du ist das Herz des Geheimnisses, das, wie Robert Frost (1874-1963) sagte, in der Mitte sitzt, während wir rätselnd rundum im Kreis tanzen.
Somit ist das große Du für uns alle ein und dasselbe. Diese schwerwiegende Einsicht können wir uns so tief zu eigen machen, dass sie unsre Haltung allen Mitmenschen gegenüber bestimmt, sie schwingt aber unterschwellig schon von Anfang an mit.[12]
Unsre Beziehung zum großen Geheimnis können wir nicht nur als Beziehung zum Ur-Du erleben, sondern auch zum Ur-ES.
Begegnungen, wie Buber sie mit dem Baum erlebte, können wir nicht selten mit Tieren erleben. Wer jemals einem Hund oder einer Katze tief in die Augen geschaut hat, weiß dies. Manchmal wird uns sogar eine tiefere Beziehung zu Pflanzen bewusst ‒ wie eben Buber zu seinem Baum.
Wenn uns eine solche Begegnung geschenkt wird,
heilt dadurch eine abgerissene Verbindung.[13]
Die Unterscheidung zwischen der Ich-Du und der Ich-Es-Welt wird nicht aufgehoben, aber die gewaltsame Trennung zwischen den beiden Beziehungswelten beginnt zu heilen.
In der ungebrochenen Welt, in der wir von da an leben dürfen, überschneiden sich die beiden Perspektiven und gehen allmählich ineinander über. Freilich dürfen wir nicht erwarten, dass wir ununterbrochen eine wache Ich-Du-Haltung zu Tieren, Pflanzen und Dingen beibehalten können.
Das gelingt uns ja auch Mitmenschen gegenüber nicht ununterbrochen. Aber wir können immer wieder zur rechten Beziehung zurückfinden und so zur Heilung der klaffenden Wunde beitragen, die wir unsrer Umwelt zugefügt haben, weil wir sie nicht zugleich auch als Mitwelt[14] behandelt haben.[15]
In der Schöpfungsgeschichte gibt es diesen schwierigen Satz:
«Macht euch die Erde untertan.»
Es klingt, als seien wir die Herrscher über die Erde. Es klingt, als sei die Erde unsere Befehlsempfängerin oder gar unsere Sklavin.
Nehmen wir also die Bibel zur Hand und lesen wir noch einmal genau nach. Wir erkennen, dass es nicht nur einen, sondern zwei Schöpfungsberichte gibt. Der erste, Genesis 1,28 [1 Mose 1,28], spricht tatsächlich vom Befehl Gottes an die Menschheit, die Erde zu bevölkern und sie sich untertan zu machen. Blättern wir aber weiter, folgt ein anderer Ansatz. In Genesis 2,15 [1 Mose 2,15] steht geschrieben:
«Bebauet die Erde und behütet sie.»
Diese Sorgfalt im Umgang mit der Erde finden wir an vielen Stellen des Heiligen Buches, auch im Neuen Testament. Die Bibel ist da nicht ganz eindeutig, sie zeigt uns zwei verschiedene Einstellungen zur Natur, die sich gegenseitig korrigieren.
Vielleicht sind die beiden Haltungen absichtlich nebeneinandergestellt. Vielleicht sollen wir uns selbst entscheiden. Wie wollen wir als Menschen leben? Wie wollen wir meint dem Geschenk der Schöpfung umgehen?[16]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-3, 7-9, 11f., 15f.]
[Ergänzend:
1. Schöpfungsmythen antworten auf die Frage: Wer bin ich?
2. Der springende Punkt: Schöpfung ist Selbstmitteilung Gottes
2.1. Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription; siehe auch Sinne und Sinn:
(06:45) «… Wenn es zum Beispiel heißt in der Schöpfungsgeschichte: ‹Gott sprach und es ward Licht.› Und ‹Gott sprach und da war ein Firmament›, und ‹Gott sprach›, und er schafft so ein Ding nach dem andern …, dann heißt das in unserer gegenwärtigen Sprache eigentlich, dass wir dann Sinn finden im Leben, wenn wir alles, was es gibt, als Wort verstehen durch das die göttliche Gegenwart uns anspricht: Also mit allen unsern Sinnen uns darauf einstellen, dass Gott spricht.»
2.2. Audio Wie uns «dankbar leben» heil und gesund macht (2011); siehe auch die Mitschrift des Vortrags:
(37:18) «Ein neues Gottesverständnis: Jeder von uns muss sagen: ‹Es gibt mich.› Darin können wir alle übereinstimmen. Es ‒ Was ist dieses Es? Das große Geheimnis, aus dem alles hervorfließt. Nicht in dem engen Sinn von Schöpfung mit einem Schöpfer irgendwo da droben: das war Bildersprache. Wem das hilft ‒ fein. Wem das nicht hilft: Bilder sind Bilder! Aber: ‹ES gibt mich›. Das ist dieses Geheimnis, mit dem sind wir alle als Menschen konfrontiert. Das ist die göttliche Quelle.
Und mein innerstes Selbst
ist das e i n e Selbst,
ist das göttliche Selbst,
das mich mit allen Menschen,
mit allem, was es gibt
und mit der göttlichen Wirklichkeit
verbindet, vereint:
‹ES g i b t › ‒Was kann ES g e b e n ?
Diese göttliche Wirklichkeit
kann nur s i c h s e l b s t geben.
Und alles, was gegeben ist,
ist Ausdruck
dieser göttlichen Wirklichkeit.»
2.3. Im Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015): ‹Schöpfer des Himmels und der Erde›, 54f.:
«Aber Vorsicht: Auch Schöpfung ist nur ein bildlicher Ausdruck; auch SCHÖPFER ist nur ein Bild, und bildliche Vorstellungen können irreführen. Beim Schöpfungsbegriff müssen wir uns vor dem Irrtum hüten, es handle sich um einen Anstoß von außen. Die schöpferische Kraft im Weltall ist zwar Geschenk, wirkt aber als Be-gabung von innen her. Sie ist eins mit dem Selbstverwirklichungsimpuls von allem, was es gibt. Gott ist kein kosmischer Uhrmacher, obwohl wir das Universum als Kosmos, als bis in die letzte Einzelheit geordnetes Ganzes erleben.»
«Im biblischen Schöpfungsmythos geht es anders zu als in Collodis ‹Pinocchio›, wo Geppetto eine Puppe schnitzt, die ihm davonläuft. Der biblische SCHÖPFER haucht dem Werk seiner Hände seinen Lebensatem ein.
Könnten wir (und so der ganze Kosmos) inniger verbunden sein mit Gott?
Hier muss das Bild von Gott als unser Vater das Bild von Gott als unser SCHÖPFER ergänzen und berichtigen.
Es geht hier um ein Gegenüber,
mit dem wir doch im Innersten eins sind.
Weil Lebendiges nicht e r zeugt, sondern g e zeugt wird, verlangt etwas in uns danach, dass auch Pinocchio zuletzt nicht Puppe bleibt, sondern in der Geschichte Collodis der Fleisch-und-Blut-Lausbub wird, der er eigentlich schon von Anfang an war.
‹Gezeugt, nicht geschaffen; eines Wesens mit dem Vater›,
sagt eine andere Fassung des Glaubensbekenntnisses.»[17]
2.4. Bruder David bietet in seinem Vortrag anlässlich der Salzburger Hochschulwochen 1972 Jesus als Wort Gottes, abgedruckt im Buch Die Frage nach Jesus (1973), 9-67, eine Gesamtschau auf die Bibel, die christliche Lehre mit Blick auf die primitiven Religionen, den Buddhismus und Hinduismus, aus der Erfahrung unseres eigenen Strebens nach Sinn.
S. 62, wie auch im Auszug Wir leben vom ureigensten Leben Gottes; ebenso im Haupttext von Es gibt mich und in Heiliger Geist ‒ Lebensatem Gottes: Ergänzend: 2.2.:
«Wenn wir den biblischen Schöpfungsbericht nacherzählen sollen, erinnern wir uns vielleicht an mehr oder weniger Einzelheiten, aber es stellt sich in 99 von 100 Fällen heraus, dass wir den springenden Punkt vergessen. Man wird immer wieder erzählen, dass Gott den Menschen erschafft und dann mit ihm spricht, dann sich ihm offenbart, dann mit ihm in Kommunikation eintritt. Aber da ist schon der springende Punkt verfehlt. Denn was die Bibel uns berichtet, ist nicht, dass Gott den Menschen da draußen erschafft, mit dieser Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern was Gott zunächst erschafft, ist noch gar nicht Mensch, nur etwas, das so aussieht wie ein Mensch, eine kleine Ton Puppe, leblos. Und jetzt kommt der eigentliche Schöpfungsakt, indem der Schöpfer in ganz drastischer biblischer Bildsprache dieser leblosen Figur sein eigenes Leben gibt, indem er seinen Geist, seinen Atem diesem leblosen Ding einhaucht [1 Mose 2,7]. Es gibt also nach der biblischen Anthropologie keinen Augenblick, in dem der Mensch nicht schon in Gemeinschaft mit Gott steht.»
2.5. Begegnung mit Gott durch die Sinne (1993):
«So verblüffend der Gedanke anmuten mag: Was ich als meine Sehnsucht nach Gott erlebe, ist Gottes Sehnsucht nach mir.»
«Die Bibel drückt solche Einsichten in den Worten ‹Gott spricht› aus. Da ich in der biblischen Tradition aufgewachsen bin, ist mir diese Sprache vertraut, doch würde ich sie ungern jemand anderem aufdrängen. Was zählt ist, dass wir zu einem gemeinsamen Verständnis kommen, was diese oder irgendeine andere Sprache ausdrücken will. ‹Gott spricht› ist eine Art, auf meine persönliche Beziehung mit der göttlichen Quelle hinzuweisen. Diese Beziehung lässt sich als Dialog verstehen: Gott spricht, und ich kann antworten.
Aber wie spricht Gott? Durch alles, was es gibt. Jeder Gegenstand, jede Person, jede Situation ist letztlich WORT. Das Wort sagt mir etwas und fordert mich auf zu antworten. Jeder Augenblick mit allem, was er enthält, spricht das große Ja auf neue und einzigartige Weise aus. Indem ich darauf anspreche, Augenblick für Augenblick, Wort für Wort, werde ich das WORT, das Gott in mir und zu mir und durch mich spricht.»
2.6. Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 20; siehe auch Jesus-Gebet:
«Um das an mich gerichtete Wort, das Wort, das ich zugleich bin, zu verstehen, muss ich die Sprache des Einen, der mich anspricht und ausspricht, sprechen. Wenn ich Gott überhaupt verstehen kann, so ist dies nur möglich, weil Gott mir am Geist des göttlichen Selbstverständnisses Anteil schenkt.[18]
Das Hinhorchen und Antworten, das unser geistliches Leben[19] ausmacht, ist also keine dualistische Angelegenheit, sondern vielmehr Feier dreieiniger Verbundenheit: das Wort, das aus der Stille entspringt, führt im Verstehen heim in die Stille.
Mein Herz, wie ein Gefäß, das im Meer versinkt, ist voll von Gottes Leben und zugleich völlig darin eingetaucht. All das ist reines Geschenk. Meine Antwort ist Dankbarkeit.»
3. «Großvater, wirst du immer bei mir sein?»
Siehe den Vortrag von Bruder David Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (21. Oktober 2010) im Kardinal Wendel Haus, München mit dem Schöpfungsmythos der Apachen (30:00-35:31) und der Transkription dieses Abschnittes am Schluss des Haupttextes in Es gibt mich, sowie die Audios in Schöpfungsmythen: Ergänzend: 1. und 2.]
__________________________
[1] Bruder David im Vortrag Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010) (27. Oktober 2010) in Wien (07:33 und 27:08); siehe auch die Mitschrift
[2] Der einleitende Text zu Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹21 ‒ Vielfalt›, 30, ist aus dem Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015): ‹Schöpfer des Himmels und der Erde›, 54
[3] Orientierung finden (2021):‹Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ergreift›, 47 und 43
[4] Schweigen und Wort: Ergänzend: Auf dem Weg der Stille (2023), 124, und Suche nach dem Sinn (2019):
«Der aus dem Griechischen abgeleitete Begriff dafür, ‹Mysterium› ist vom Tätigkeitswort ‹myein› abgeleitet, das bedeutet ‹still bleiben› oder ‹den Mund halten›.
Ein Mysterium, ein Geheimnis ist keine Leere, sondern die unfassbare Präsenz, die uns anrührt und uns sprachlos macht, indem sie uns Sinn erschließt.»
[5] Zum Stichwort ‹Bewusstseinswandel› siehe Vom Ich zum Wir: Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021): Videointerview von Egbert Amann-Ölz mit Bruder David; siehe auch die Transkription des Videointerviews:
«Wir haben uns eine Eigenständigkeit und eine Selbständigkeit und ein Ich-Bewusstsein erworben, und wir müssen unseren Vorfahren da sehr dankbar sein, dass sie das erreicht haben: Das war eine ungeheuer schwierige Aufgabe, zu der heutigen Unabhängigkeit sich durchzuringen aus einem völligen Verstrickt-sein im Wir – nicht nur Verstrickt-sein, sondern keine persönliche Identität! Also wir müssen den Vorkämpfern da sehr dankbar sein, dass sie uns soweit geführt haben.
Aber jetzt haben wir diese Unabhängigkeit zu so einem hohen Maß erreicht und übertrieben schon, dass wir nicht nur selbständig, sondern vereinsamt sind – vereinsamt und abgeschnitten von allen anderen: Vereinzelung. Und unsere große Aufgabe wäre es nun, alles das Positive beizubehalten, was uns da geschenkt wurde, was die Menschheit sich errungen hat an Unabhängigkeit des Einzelnen, aber das zu verbinden mit einer Vernetzung, mit einem Bewusstsein der Gemeinschaft, mit einem wieder Eintreten in die Verbundenheit mit allen andern – und damit meine ich nicht nur alle anderen Menschen, sondern alle Tiere, alle Lebewesen und das ganze Universum. Wir müssen uns wieder eingebettet wissen und danach handeln.»
[6] Der Unterschied der beiden Ausdrucksweisen ‹Ich bin da› und ‹Es gibt mich› ist tiefgreifend, wie Bruder David schon zu Beginn seines Buches Orientierung finden (2021): ‹Das Ich ‒ mein Dasein als Geschenk›, 17f., ausführt. Siehe den Text S. 18 in Es gibt mich: Ergänzend: 1.4.
[7] Das Wir wächst aus der Dankbarkeit (2013): Interview von Dr. Christoph Quarch mit Bruder David
[8] Orientierung finden (2021): ‹Immer Du ‒ denn alles Leben ist Beziehung›, 30, in Verbindung mit Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2015), 54f.
[10] Buber Martin: ‹Ich und Du›, Gerlingen, Schneider 131997
[11] Orientierung finden (2021): ‹Das ES ‒ in allem den Zauber des Daseins entdecken›, 32f.
[12] Ebd. im Kapitel: ‹Immer Du ‒ denn alles Leben ist Beziehung›, 28, mit Bezug auf die Verse von Robert Frost, Ebd. 14
[13] Siehe eine Herleitung des Wortes ‹Religion›, etwa in Dankbarkeit ist der Spitzenkandidat, oder in Religiosität ‒ ethische Urquelle:
«Religiosität ‒ vom lateinischen re-ligare, wiederverbinden ‒ weist auf das Wesen dieser Beziehung hin: auf die Heilung unserer gestörten Verbindung zum Urgrund, zur Um- und Mitwelt und zu unserem wahren Selbst.»
[14] MITWELT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 150:
«MITWELT nennen wir gewöhnlich jenen Teil unsrer Umwelt, mit dem wir uns besonders eng verbunden fühlen ‒ unsre Mitmenschen, unsre Zeitgenossen, unser gesellschaftliches Umfeld, unsren Lebenskreis im engeren Sinn. Diese Einengung übersieht die Tatsache, dass wir mit unsrer ganzen Umwelt ‒ mit dem gesamten Universum ‒ so eng verbunden sind, wie mit dem, was wir als unsre Mitwelt erkennen. Jedes Atom in unsrem Körper ist, wie es auch oft ausgedrückt wird, kosmischer Sternenstaub. Wenn wir uns dessen bewusst bleiben, dann werden wir unsre Umwelt ganz anders würdigen und ihr mit der Ehrfurcht begegnen, die unsre Mitwelt verdient.»
[15] Orientierung finden (2021): ‹Das ES ‒ in allem den Zauber des Daseins entdecken›, 33f.
[16] Erkenntnis (2023): Kapitel 5: ‹Dem Welthaushalt freudig dienen: Unsere Wohngemeinschaft›, 116
[17] Das Große oder Nizäno-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis, das in der Liturgie verwendet wird, spricht von Jesus Christus als
‹Deum de Deo, ‹Gott von Gott
Lumen de Lumine, Licht vom Licht
Deum verum de Deo vero, wahrer Gott vom wahren Gott,
genitum non factum, gezeugt, nicht geschaffen,
consubstantialem Patri, eines Wesens mit dem Vater
per quem omnia facta sunt. durch ihn ist alles geschaffen.›
Der Gegensatz von ‹gezeugt, nicht geschaffen› könnte den Eindruck erwecken, als ob zwischen Jesus Christus: ‹gezeugt› und der Schöpfung: ‹geschaffen› eine dualistische Spaltung bestehe. Auch die Schöpfung, wie alles Lebendige, wird nicht e r zeugt, sondern g e zeugt. Wenn wir so tief in den Namen Jesu eintauchen wie Bruder David im Herzens- oder Jesus-Gebet, begegnen wir dem kosmischen Christus, der die Schöpfung einschließt:
«Wenn ich jedem Ding und jedem Menschen, den ich treffe, diesen Namen gebe, wenn ich ihn mir in jeder Lage vergegenwärtige, dann erinnere ich mich daran, dass all dies nur Erscheinungsformen der unerschöpflichen Fülle des einen ewigen Wortes Gottes, des Logos sind.»
[18] Wie der hl. Paulus in 1 Kor 2,10-16 argumentiert, ist für Bruder David der Schlüssel zum Verständnis unserer Gottesbeziehung. Immer wieder bezieht er sich in Vorträgen auf diese Bibelstelle.
[19] Siehe Hl. Geist ‒ Lebensatem Gottes: Ergänzend: 1.2.:
«Geistliches Leben, das ist ‒ im Deutschen ‒ ein schwieriges Wort und missverständlich, weil man gleich an ‹die Geistlichen› denkt. Was heißt also ‹Geistliches Leben›?»
Schöpfungsmythen
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Es gibt Tausende von Schöpfungsmythen, die den Anthropologen bekannt sind. Aber alle haben eine ganz ähnliche innere Struktur, wenigstens dort, wo sie uns noch voll erhalten sind, wo sie gesund sind. Es ist gut, diese Struktur des Mythos zu verstehen, denn nur wenn wir die kennen, werden wir den Mythos auch dort erkennen, wo das Kind diesen Mythos selber dichterisch schafft. Ich werde Ihnen später ein Beispiel dafür geben.
Der uns bekannteste Schöpfungsmythos ist gewiss der Schöpfungsbericht aus dem Buch Genesis. An ihm sieht man die typische Form ganz deutlich. Der erste Bestandteil jedes Schöpfungsmythos ist selbstverständlich der Schöpfer, dessen Existenz nicht weiter hinterfragt wird.
Der Mythos beginnt also mit unserem ewigen Gegenüber, das wirklich ist. Der Mythendichter bemüht sich um immer neue Namen, um dieses absolute Dasein dichterisch auszudrücken: Vater, Großvater, der Uralte. Oder der Mythos nennt den Schöpfer: Vater im Himmel. Mit Himmel ist hier das Firmament gemeint, der blaue Himmel, der immer da ist. Dann ist der Schöpfer ein Vater, der so ist wie der Himmel, über alle Veränderungen erhaben. Mutter oder Großmutter wird der Schöpfer auch manchmal genannt, aber das ist selten in unseren Mythen, weil diese schon durch Jahrtausende patriarchalischer Kultur gefiltert wurden; da können wir uns im Augenblick nicht helfen, wir müssen einfach darauf schauen, was dahintersteht.
Dahinter steht nicht Vater oder Mutter, sondern jenes Gegenüber, das ganz anders als wir sagen kann:
«Ich bin».
Der Schöpfungsmythos muss jetzt eine Antwort geben auf die Frage:
«Wie bin ich»?
‒ bezogen auf dieses wahre «Ich bin» des Ewigen.
Da kommt nun der zweite Bestandteil jedes Schöpfungsmythos ins Spiel, nämlich das Material, aus dem alles geschaffen wird, auch ich. Hier geht nun die Bemühung des Mythendichters dahin, das Material so nichtig, so bedingt, so gegenstandslos wie möglich darzustellen.
Beim ersten Bestandteil des Mythos zeigte sich das Bemühen, das, was ist, so absolut und bleibend wie nur möglich darzustellen. Darum erhebt sich auch niemals die Frage: «Ja, woher kommt denn der Schöpfer her»? Das ist keine Frage. Der Schöpfer ist einfach da. Damit beginnt der Mythos. ‒ Jetzt aber, wenn das Geschöpf in den Blick kommt, da zeigt sich in der mythischen Erzählung das Bemühen, das Material so gering wie möglich zu machen, so nahe wie möglich an nur potentielles Sein heranzukommen.
In dichterischen Bildern lässt sich reine Möglichkeit freilich nur schwer ausdrücken, daher spricht der Genesismythos etwa von Erde, vom Ackerboden ‒ Möglichkeit des Wachsens. Oder er spricht von Lehm, aus dem etwas geformt wird: reine Möglichkeit der Formgebung.
Auch in anderen Schöpfungsmythen, die gar nichts mit dem biblischen Mythos zu tun haben, finden sich ähnliche Bilder. Das menschliche Herz erfindet diese Mythen ja immer wieder neu, unabhängig. Es sind im Grunde immer wieder die gleichen Antworten auf die gleichen Urfragen.
Aber es kommt noch ein dritter Bestandteil dazu. Dieses dritte Element in jedem Schöpfungsmythos ist die innige Verbindung zwischen dem, der ist, und uns, die wir reine Möglichkeit sind; die eigentlich nicht sind, aber auf dem Weg sind, göttlich zu werden, auf dem Weg sind, wirklich zu sein. Die dadurch auf dem Weg sind, dass sich das Göttliche in uns entfaltet. Das ist die tiefste Erfahrung unseres Herzens. Und das Herz drückt diese Erfahrung dann dichterisch aus.
Das sind also die drei Bestandteile des Schöpfungsmythos: Der, der ist; wir, die ‒ als Material ‒ reine Möglichkeit sind; und die innigste Verbindung dieser beiden Faktoren, die man jetzt irgendwie in einer Geschichte ausdrücken muss.
Wir kennen das vom Genesismythos.
Der beginnt mit: «Am Anfang Gott.» Das will sagen: nichts vorher. Der Schöpfer kann nicht hinterfragt werden. Das wird schon sehr früh so ausgedrückt: Nichts vorher, nichts darüber, nichts darunter, hier ist der Beginn. Am Anfang Gott.
Dann: Das Material, die Erde vom Ackerboden oder der Lehm, aus dem der Töpfer etwas macht, das aber noch nicht lebendig ist.
Und schließlich diese innige Verbundenheit: Lebensatem. Unserem Leben wird das göttliche Leben zuteil.
Das wird ganzbildkräftig im Genesismythos ausgedrückt. Der Schöpfer bläst diesem Lehmklotz, dieser Lehmfigur, durch die Nasenlöcher den Lebensatem ein. Eine innigere Verbindung zwischen uns, die wir reine Möglichkeit sind, und dem, was wirklich ist, lässt sich dichterisch kaum ausdrücken.
Wir sind die, die mit dem Lebensatem Gott lebendig sind.
Und nun, wie ich versprochen habe, ein Beispiel der mythenschöpferischen Kraft der Kinder, ein besonders schönes Beispiel. Ein Kind zeigt auf in der Rechenstunde, ein achtjähriger Bub, und er fragt den Lehrer: «Wie entstehen eigentlich Edelsteine?»
Das passt natürlich nicht zum Einmaleins und darum sagt der Lehrer: «Das erzähle ich dir dann später.» Wenn aber Kinder solche Fragen stellen, dann muss man immer tief hinhorchen und warten. So etwas zu fragen ist eine Form, die große Frage des Herzens auszudrücken:
«Wer bin ich eigentlich?»
Diese Frage wird vom Kind nie so abstrakt ausgedrückt. Sie wird dadurch ausgedrückt, dass wir fragen: «Was ist denn das? Wie entsteht es denn?» Und wir identifizieren uns mit dem Ding ‒ hier mit dem Edelstein. Der Lehrer vergisst, wie wir das so oft tun, nach der Stunde auf die Edelsteine zurückzukommen.
Das Kind kommt am nächsten Tag in die Schule und sagt: «Erinnern Sie sich an meine Frage nach dem Edelstein? Ich hab die Antwort selber gefunden; hier ist ein Gedicht, das ich gemacht hab.»
Was dem Kind eingefallen ist, das hat es jetzt in einem Gedicht ausgedrückt. So etwas muss ja in einem Gedicht ausgedrückt sein, denn anders lässt sich eine so tiefe Einsicht gar nicht ausdrücken.
Wie lautet nun das Gedicht? Es ist in der ersten Person Einzahl geschrieben und beginnt gleich mit «Ich» (es handelt eben vom Kinde selber) und es heißt
«Der Edelstein»
Ich liege tief, im Abgrund tief
und strahle alles an.
Die gute Sonne, die mich rief,
die sagt, ich bin ein Edelstein.
Die Schlangen kriechen um mich her,
die dunkle Erde drückt mich schwer.
Doch glänz ich wie der Sonnenschein.
Ich bin ein Sonnenedelstein.Ich liege tief, im Abgrund tief
und strahle alles an.
(Das Ich ist reine Möglichkeit, ein Stein, fast nichts, wertlos, und noch dazu tief im Abgrund.)
Die gute Sonne,
(Sonne ist ‹Schöpfer›, immer da, so wie ‹Himmel›; sehr häufig ein Symbol für das, was ist und das Leben spendet.)
die mich rief,
(Das ‹rief› zeigt jetzt die intime Beziehung als Angerufensein.)
die sagt,
(Sie gibt mir einen Namen, sie macht mich erst zu dem, was ich bin.)
ich bin ein Edelstein.
(Das ist grammatisch nicht richtig, aber so drückt es das Kind aus.)
Die Schlangen kriechen um mich her,
(Ich liege ja da tief im Abgrund.)
die dunkle Erde drückt mich schwer.
Doch glänz ich wie der Sonnenschein.
Ich bin ein Sonnenedelstein.
In diesem einen Wort «Sonnenedelstein» ist der ganze Schöpfungsmythos zusammengefasst.
Sonne: für das Kind die, die da ist; Stein: reine Möglichkeit, fast nichts.
Die innigste Verbindung zwischen Sonne und Stein: der strahlende Edelstein.
Wenn wir darauf vertrauen, dass Kinder aus dem tiefsten Herzen so etwas hervorbringen können, dass sie das wirklich können, dann können sie es auch. Denn mit diesem Vertrauen schaffen wir Raum, in dem sie sich entfalten können.
Sie kennen wohl alle einen anderen Schöpfungsmythos des Kindes: in der frühen, oft vorsprachlichen Zeit ist eine der ersten typischen Zeichnungen des Kindes: die Sonne, meist oben, immer wichtig; das ist der Schöpfer. Das Bild ist zutiefst verankert in unserem Unterbewusstsein, das Schöpfersymbol, die lebenspendende Sonne.
Darunter eine Blume, die meist ähnlich wie die Sonne aussieht, und oft sogar ein Gesicht zeigt. Da bin ich, reine Möglichkeit, das, was durch die Sonne aus der Erde hervorgebracht wird und selber zu einer kleinen Sonne wird.
Da ist der ganze Schöpfungsmythos auf einem Blatt abgebildet. Das was reine Möglichkeit ist und die intimste Verbindung der beiden.
Die Sonnenblume ist Ebenbild der Sonne, ist eine neue Sonne.
Ich bin ein Sonnenedelstein.
Ich bin eine Sonnenblume, sagt das Kind, bevor es noch sprechen kann.
[Im Paradoxen Sinn erfahren im Buch: Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 63-67, anlässlich der 38. Internationalen Werktagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989), siehe auch: Ergänzend 2.]
[Ergänzend:
1. Video Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010) und
Audio des Vortrags Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden
Vortrag
(31:58) Wer bin ich? – der Schöpfungsmythos antwortet mit drei Bestandteilen, die allen Schöpfungsberichten gemeinsam sind / (37:38) Ein Schöpfungsmythos der Apachen / (40:59) Ein Schulkind: ‹Ich bin ein Sonnenedelstein›
2. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Im Paradoxen Sinn erfahren:
(17:09) Die Antwort des Schöpfungsmythos / (18:38) Die drei Bestandteile des Schöpfungsmythos / (25:47) Der Genesismythos / (27:12) Ein Apachen Schöpfungsmythos / (31:58) Ich bin ein Sonnenedelstein' (achtjähriger Bub)
3. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Demut ‒ der Mut zum Gipfel:
(01:14:52) Das Gänseblümchen ‒ eine kleine Sonne]
Schuldgefühle
Video, Audio und Text von Br. David Steindl-Rast OSB
[Video 30:53] Isha Johanna Schury: «Jetzt hast du ja bestimmt auch viel mit Sterbenden schon in deinem Leben zu tun gehabt, mit Menschen, die am Ende ihres Lebensweges sind. Ich könnte mir vorstellen oder vielleicht kannst du uns sagen, was ist es denn, was diese Menschen am Ende unzufrieden macht, warum sie dann am Ende vielleicht doch irgendetwas bereuen. Was äußern sie, was sagen sie, was benennen sie?»
David Steindl-Rast: «Also ich muss zugeben, ich habe nicht sehr viel Erfahrung mit Sterbenden, Sterbehilfe oder so, das habe ich nicht gemacht. Ich war am Tod von Menschen dabei, aber alte Menschen, die sich irgendwie vor dem Tod fürchten, denen bin ich natürlich begegnet und dieses Gefühl, dass man etwas versäumt hat oder dass man etwas schlecht gemacht hat oder so, das ist schon oft ein Problem. Wie soll man damit umgehen?
Ich kann es mir nur so vorstellen, wie man mit Schuldgefühlen überhaupt im Laufe des Lebens umgehen kann, ganz gleich, wie nahe man dem Tod ist.
Und mein Rat ist immer, einerseits die Schuld anzuerkennen: Da war ich mir nicht selber treu, da war ich einem Andern nicht treu, da hab ich etwas versäumt, was ich tun hätte können, und es zunächst einmal eingestehen, dann mit festem Entschluss gleich aus diesem Gefühl, es ist ja ein ungutes Gefühl, eine Energie, diese Energie gleich verwenden, um zu sagen, nächstes Mal mache ich es besser, und von dem Augenblick an keinerlei Energie mehr in dieses Erlebnis einfließen zu lassen, denn das ist alles verschwendete Energie, über meine Fehler nachzudenken, sondern von da an nur vorwärts und alle Energie ‒ : Jetzt besser machen.
Das ist das Entscheidende. Und ganz gleich, wie nahe man dem letzten Augenblick steht, ich kenne keine andere Methode, damit umzugehen.
Wenn dann jemand sagen wird, ja, die Ärzte sagen mir, ich habe nur noch ein paar Tage oder ein paar Stunden zu leben, dann würde ich sagen, in den paar Stunden alles, Menschen und Tiere und Pflanzen dir vorzustellen und Ja zu sagen und dankbar zu sein dafür und das Leben zu rühmen und zu preisen und nicht auf meine kleinen Fehler überhaupt einzugehen.
Das Leben ist viel großzügiger als wir es sind.
Sogar in der christlichen Bibel, im Neuen Testament, das ja sonst sehr verrufen ist, diese Schuldgefühle immer wieder aufzubringen und den Menschen aufzuladen, sogar dort steht ganz ausdrücklich:
‹Wenn dein Herz dich anklagt, Gott ist größer als dein Herz.›
Die Vergebung Gottes ist immer größer. Darauf kann man sich sogar als Christ verlassen.»[1]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer dem alles zuströmt!
Je wacher ich werde, umso klarer erkenne ich meine persönliche Schuld.
Nicht im Sinne kindischer Schuldgefühle und Angst vor Strafe, sondern so:
Das Leben verschenkt sich an mich, ich aber knausere.
Ich bleibe dem Leben etwas schuldig:
mein Ja zur Welt, wie sie ist ‒ herrlich und schrecklich zugleich.
Aus Furcht versage ich meine volle Hingabe.
Heute aber will ich beginnen, meine Schuld zurückzuzahlen ‒
an einer Stelle wenigstens will ich mich großzügig verschenken.
Zeig du mir die rechte Stelle. Ich werde tatbereit Ausschau halten. Amen.»[2]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Jeden Morgen erwache ich zum Geschenk eines neuen Tages,
aber auch zu allem Elend der Welt.
Unheil, das wir Menschen anrichten, ist entsetzlich genug.
Aber Erdbeben, Epidemien, Tsunamikatastrophen, wo kommen die her?
Ich will keine rosa Brille, will Dich nicht nach meinen Wunschträumen erfinden.
Ich möchte Dich kennenlernen, wie Du bist.
Lebensfülle und Vernichtung ‒ beides stammt von Dir, Du Unergründlicher. Mich schaudert.
Ich kann verzweifeln oder vertrauen. Ich wähle vertrauen.
Alles Böse ist das Noch-nicht-Gute.
Mit diesem Vertrauen will ich heute Schreckensnachrichten hören. Amen.»[3]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Audios in Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 2.1. und 2.6.
1.2. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 1 ‒ Vormittag:
Drei Grundfragen Warum? Was? Wie? (Bruder David):
(32:10) Unsere Aufgabe: ‹Rühmen, das ists› (Rilke: Sonette an Orpheus ‒ ‹Ich geh doch immer auf dich zu› (Rilke: ‹Du wirst nur durch die Tat erfasst›) ‒ Kann man denn alles rühmen? ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus) ‒ ‹Zwischen den Schlägen besteht unser Herz› (Rilke: Die Neunte Elegie) ‒ Die Dunkelheit, der Schatten des Geheimnisses und unser eigener Schatten gehören zum Ganzen dazu ‒ ‹Du Dunkelheit aus der ich stamme› (Rilke: Das Stunden-Buch)
(37:37) Das Böse, das noch nicht Vollendete ‒ Und so gehen wir aus dem Schweigen in das Wort und durch das Verstehen wieder ins Schweigen zurück auf einer andern Ebene ‒ In der liebenden Dunkelheit sind wir versöhnt mit dem Schweigen
(58:30) Gibt es falsche Antworten? Mit Situationen umgehen, in denen wir versagten oder die Gelegenheit versäumten: Sich erinnern, den Fehler eingestehen, aber keine Energie verschwenden mit Schuldgefühlen
1.3. Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
‹Das Böse mit den Augen einer Mutter anschauen›
1.4. Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag und wortgetreue Mitschrift in den folgenden 8 Audios:
‹Was hindert gesundes spirituelles Wachstum›; siehe auch Mitschrift:
(03:36) ‹Die Sünde ‒ ein sehr gefährliches Wort, aber ich verwende es in dem Sinne: Es bedeutet ‹die Absonderung›. ‹Sünde› und ‹sondern› gehören sprachlich zusammen: Die Sünde sondert uns ab von unserem eigenen wahren Selbst, von den Anderen, von dem MEHR. Sie wird nun juristisch verstanden. Denn wenn da so ein Machthaber oben sitzt, dann muss das juristisch interpretiert werden. So wird die Sünde zur Schuld und muss bestraft werden. Wir dürfen diese Sünde aber auch entwicklungsgeschichtlich verstehen, in unserer eigenen persönlichen Entwicklung als das noch nicht Geglückte. Und dann ‒ statt Strafe: lernen, nachlernen ‒ etwas ganz Anderes!›
1.5. «Wähle das Leben» (5 Mose 30,19) (1992)
Vortrag; siehe auch Sterben und Tod:
(03:59) Sich in Gottes Hände fallen lassen / (05:21) ‹Die Blätter fallen› (Rilke) / (07:14) ‹Gott ist grösser als unser Herz› (1 Joh 3,20)
2. Weitere Texte
2.1. Erwachende Worte (2023): ‹Rühmen›, 31; siehe auch Rühmen, Er-innern, Aufheben:
«‹Rühmen, das ist’s!›[4] Ja, alles, was ist, rühmt das Sein durch sein Dasein.
Einfach da zu sein ist Rühmung.
Dasein ist ein Ja-Sagen zum Sein.
Und dieses Ja fasst alles Rühmen in einem einzigen Wort zusammen.
Jedes Sein ist ein Ja ‒ ein ‹aus dem Nein aller Verneinung gehobenes› Ja:
Dasein ist Ja-Sein. Und dieses Ja-zum-Leben-Sagen heißt Rühmen.
Auch ich bin ‹ein zum Rühmen Bestellter›.[5]
Warum ist mein Ja zum Leben oft so zaghaft, so trüb, sogar oft widerwillig?
Aus Furcht, Ja zu sagen zum Ganzen.
‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze!›[6]
Das will ich mir zu Herzen nehmen ‒ vertrauensvoll trotz allem. Amen.»
2.2. Das Vaterunser (2022): ‹Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern›, 76; siehe auch Erlösung ‒ Sünde und Heil:
«Meine Scham lässt mich fühlen, dass mein Versagen die zarte Vernetzung zerreißt, durch die alles mit allem verbunden ist ‒ verbunden auch mit dir. Das Wort ‹Sünde› kommt ursprünglich von ‹absondern›. Sünde meint einen Riss im Gewebe des Ganzen. Sie trennt, was zusammengehört, und das ist buchstäblich herzzerreißend. Denn das Herz ist ‒ wie Rilke das so wunderbar ausdrückt ‒
‹das ins Ganze Geborne.›[7]
Wenn wir aus unserm Herzen leben, dann gehören wir dem Ganzen, dann werden wir ganz, dann werden wir auch das, was uns am Ganzen so schwierig erscheint, in uns aufnehmen, dann werden wir mit dem Ganzen auskommen. Das Herz ist jener Bereich, wo wir am tiefsten und innigsten mit allem und allen und mit dem Göttlichen verbunden sind. Darum findet sich das Herz nicht ab mit der Trennung und es mahnt uns, die Trennung zu überwinden.
Aber auch dort, wo unser Herz uns anklagt, dürfen wir dir vertrauen, denn du bist ‹größer› als unser Herz und kennst uns durch und durch› (1 Joh 3,20). Auf dein grenzenloses Verzeihen lass mich vertrauen und es freigebig weiterschenken.»
2.3. Weihnachtsbotschaft 2022:
«Mutter und Kind sind das Urbild von Gemeinschaft und bleiben ihr Leitbild. Die Mutter sieht das Böse im Kind als das Noch-nicht-Gute. Wir können lernen, mit den Augen einer Mutter das Böse in der Welt – ohne es zu beschönigen – als das Noch-nicht-Gute zu sehen. Dann heißt es alles aufzubieten, um einfallsreich damit umzugehen. Was kann ich persönlich ganz konkret tun, um irgendwo eine gesellschaftliche Kluft zu überbrücken – ganz gleich was es mich kostet? Dazu bereit zu sein, ist unser unerlässlicher Beitrag, um das Versprechen der Weihnachtsengel Wirklichkeit werden zu lassen: ‹Friede den Menschen auf Erden!›»
2.4. Orientierung finden (2021), 59f.:
«Projizierte Gottesvorstellungen sind leider allzu häufig. Es gibt zwei Grundtypen: einen überdimensionierten kosmischen Weihnachtsmann und einen Superpolizisten mit den gleichen kolossalen Ausmaßen. Diese beiden können sogar miteinander verschmelzen. Die sich entwickelnde Beziehung eines Kindes zum großen Du kann durch diese beiden Projektionen irregeführt und verzerrt werden. Wenn das große Du die Maske des Superpolizisten trägt, wird das Kind möglicherweise sein Leben lang mit Schuldgefühlen und Angst zu kämpfen haben. Und wenn das Bild eines wunscherfüllenden Weihnachtsmanns den Platz des großen Du in der kindlichen Vorstellung einnimmt, wird eine bittere Erfahrung früher oder später den Schrei auslösen: ‹Wie kann ein liebender Gott solche Dinge tun›? In beiden Fällen wird eine echte Gottesbeziehung verlorengehen.
Dass ein Kind ein gesundes Verhältnis zum großen Du entwickelt, wird wohl weitgehend davon abhängen, wie sein Verhältnis zum maßgeblichen kleinen Du sich gestaltet. Für Eltern bedeutet das die schwierige Aufgabe, weder in die Rolle des Weihnachtsmannes zu verfallen noch in die des Superpolizisten. Vor allem aber wird es darum gehen, dem Kind die persönliche Beziehung zu Gott vorzuleben und so eine spontane Beziehung zu Gott ernst zu nehmen und zu fördern. Kinder aus ihrer Gotteserfahrung heraus auf eigene Weise zu Gott sprechen zu lassen, ist weit besser, als ihnen mit vorgegebenen Gottesbildern den freien Blick zu verstellen.»]
________________
[1] Videointerview Was am Ende wirklich zählt (2022); siehe auch Transkription, 10f.
[2] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹Schuld›, 23; siehe auch Erlösende Kraft
[3] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹Das Böse›, 12; siehe auch Sinne und Sinn
[4] R. M. Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, VII
[5] Ebenda
[6] Für Bruder David eines der liebsten Worte des Kirchenvaters Aurelius Augustinus, die er immer wieder zitiert.
[7] R. M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, II:
«Ach, der Erde, wer kennt die Verluste?
Nur, wer mit dennoch preisendem Laut
sänge das Herz, das ins Ganze geborne.»
Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Geheimnis, auch ‹großes Geheimnis› bezeichnet die letzte Wirklichkeit ‒ die Kraft, die in allem wirkt. Wir können diese Kraft nicht begrifflich erfassen, wohl aber erleben, wenn wir sie auf uns einwirken lassen.
Anders ausgedrückt: Wir können das Geheimnis nicht begreifen, aber verstehen.
Wir Menschen erfahren die Wirkkraft des Geheimnisses zunächst als Leben. Auch das Leben können wir nicht durch Begriffe in den Griff bekommen, wir können es aber verstehen lernen – einfach dadurch, dass wir leben.
Für das Geheimnis sowie für das Leben gilt auch dies: Das Leben ist in uns und wir sind im Leben, trotzdem aber sagen wir auch, dass das Leben uns entgegenkommt und uns gegenübersteht.
Wir sind ganz im Geheimnis und das Geheimnis ist in uns, trotzdem stehen wir mit dem Geheimnis in Beziehung. Hierher gehört auch das Wort Gott, das auf unsre persönliche Beziehung zum Geheimnis hinweist.» (138f.)
«Stille hängt nicht davon ab, ob die Umgebung ruhig oder lärmerfüllt ist. Das wird verständlicher, wenn wir die Vorstellung von Lärm und Ruhe durch den Gegensatz Tumult und Gelassenheit ersetzen.
Stille ist eine heiter gelöste, gelassene Haltung des Herzens.
Innere Stille, und um die geht es hier, kann sich auf zweifache Weise bekunden: durch Schweigen und Wort ‒ durch ein Wort, das nicht das Schweigen bricht, sondern ein Wort, in welchem das Schweigen zu Wort kommt.
In unserem ganzen Alltag sollte unser Schweigen sowie alles, was wir sagen, aus der Stille kommen.
Dies lässt sich üben und Menschen, denen es im täglichen Leben gelingt, strahlen Frieden aus.
Bisher haben wir von Wort und Schweigen gesprochen, die aus unserer eigenen Stille aufsteigen. Aber auch unsre Antwort auf ein Wort, das wir hören, wird nur dann durch gehorsames Tun zum Verstehen führen, wenn sie aus der Stille kommt.» (157f.)
«Ruhe wollen wir von Stille unterscheiden. Es gibt ja auch ruhelose Stille. Andererseits gibt es auch Ruhe die Stille nicht unbedingt voraussetzt. Diese innere Ruhe, auch inmitten eines bewegten und geräuschvollen Alltags beizubehalten, ist ein herausforderndes Ziel, das wir aber anstreben müssen.
Ruhe in diesem Sinne ist nicht eine Art Grabesruhe, sondern ganz im Gegenteil Ausdruck höchst dynamischer Lebendigkeit.
Sie entspringt dem Bewusstsein, jeden Augenblick dem Großen Geheimnis gegenüberzustehen, ja mehr: ihm mit jedem Atemzug zu begegnen.
Bernhard von Clairvaux (1090-1153), der das Große Geheimnis Gott nennt, sagt über diese Begegnung:
Der ruhige Gott beruhigt alles
und wer sich in die Ruhe Gottes versenkt,
ruht.» (154)
«Schweigen ist eine der beiden Weisen, auf welche Stille sich bekundet.
Die zweite Weise ist das Wort. Im Wort äußert sich die Stille ‒ sie drückt sich aus, geht aus sich heraus, indem sie ‹zu Wort kommt›.
Im Schweigen bleibt die Stille bei sich selbst.
Ein Bild kann das veranschaulichen.
Ein Gong, den wir betrachten, bleibt bei sich; ein Gong, den wir anschlagen, ‹äußert sich› ‒ sein innerstes Wesen wird äußerlich offenbar.
Um Stille in ihrem Wesen zu erfahren, müssen wir mit ihr einswerden, dadurch, dass wir uns ins Schweigen versenken, uns ins Schweigen hinablassen.
Schweigen kann zu einem wirkungsvollen Mittel werden, um im Tumult des Alltags immer wieder stille Gelassenheit zu finden, indem wir Schweigepausen in unsren Tagesablauf einbauen.» (155)
«Wort als spirituelles Phänomen hat zugleich zwei verschiedene, einander entgegengesetzte Funktionen:
Es definiert einen Begriff und es offenbart eine unbegreifliche Wirklichkeit, die über Begriffe hinausgeht.
Dahinter stehen zwei gegensätzliche Bewegungen. Im Dienste der Wissenschaft fängt das Wort Begriffe ein, im Spiel der Dichtung aber setzt es Sinn frei.
In beiden Bereichen ‒ Verstand und Weisheit ‒ können wir unsre Empfänglichkeit üben. Dann erst werden wir die Macht des Wortes voll zu würdigen wissen.
Die Macht des Wortes zeigt sich aber auch auf einer andren Weise ganz handgreiflich und oft schmerzlich: Worte lassen sich nicht zurückrufen und was sie in Bewegung setzen, lässt sich nicht leicht rückgängig machen.
Darum ist es eine wichtige Aufgabe, schweigen zu lernen, bis für das rechte Wort der rechte Augenblick gekommen ist.» (164)
«Verstehen wird oft irrtümlich gleichbedeutend mit dem Wort ‹begreifen› verwendet.
Diese beiden Formen intellektuellen Erfassens ergänzen einander, entspringen aber zwei unterschiedlichen Haltungen.
Beim Begreifen greifen wir willkürlich und einseitig nach dem zu Erfassenden, beim Verstehen gehen wir aber darüber hinaus und lassen uns selber unwillkürlich ergreifen ‒ in jener gegenseitigen Umarmung, die wir Ergriffenheit nennen.
Beim Begreifen bekommen wir immer nur einen Teil dessen in den Griff, was wir erfassen wollen.
Was uns aber in Ergriffenheit ergreift, ist das Ganze ‒ letztlich das große Geheimnis.» (162)
«Ergriffenheit ist zunächst ein Zustand, den wir fühlen.
Das schließt aber nicht aus, dass sie auch eine höchst wichtige intellektuelle Komponente hat.
Begreifen und ergriffen werden sind einander entgegengesetzte Bewegungen.
Wie Begriffe zum Begreifen führen, so führt Ergriffenheit zum Verstehen.
‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise›, schreibt Bernhard von Clairvaux (1090-1153) in seinem Kommentar zum Hohen Lied.
Ergriffenheit geht über das Begreifliche hinaus, indem sie auch das Unbegreifliche versteht.
Darin besteht Weisheit.
Ergriffenheit und Begreifen dürfen keinesfalls gegeneinander ausgespielt werden.
Sie ergänzen einander, so wie Emotionen und Intellekt nur gemeinsam unsrer Welterfahrung gerecht werden.
Wo eine anti-intellektuelle Atmosphäre vorherrscht, besteht immer die Gefahr, klares Denken durch sentimentale Schwärmerei ersetzen zu wollen.
Ergriffenheit aber ist, auch wenn sie bis zum Gefühlssturm ansteigen kann, klar und nüchtern.» (135)
[Schlüsselbegriffe Geheimnis, Stille, Ruhe, Schweigen, Wort, Verstehen, Ergriffenheit im Buch Das ABC der Schlüsselworte, im Buch Orientierung finden (2021), 135-158]
[Ergänzend:
1. Die interreligiöse Spannweite von Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen
1.1. Audio-Vortrag Interreligiöser Dialog (2014):
(19:57) Wir sind auf Gemeinschaft angewiesen: Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen durch Tun in den verschiedenen Religionen: Der Buddhismus und das Schweigen: Die Blumenpredigt des Buddha / (23:50) Die Wort- oder Amen-Traditionen Judentum, Christentum und der Glaube: Das Vertrauen auf die ‹amunah›, die Verlässlichkeit Gottes: ‹Im Herzen aller Dinge ist Verlässlichkeit› (Reinhold Niebuhr) ‒ Das Wort aus dem Schweigen oder das Gespräch im Unterschied zum Wortwechsel / (26:08) Der Hinduismus und das Verstehen durch Tun: ‹Yoga ist Verstehen› (Swami Venkatesananda) / (27:13) Der Rund- oder Reigentanz der Trinität ‒ Religion von ‹religare›: Wieder verbinden, was zerrissen und abgebrochen ist / (29:24) Die Methode: Stop ‒ Look ‒ Go, Innehalten ‒ Innewerden ‒ Tun: Unsere täglichen buddhistischen Augenblicke, unsere ‹amunah›-Spiritualität und unser Yoga
1.2. Audio-Vortrag Das Gottesbild der modernen Menschen (2009)
Teil 2;
(33:10) Die drei Bereiche der Sinnsuche, die drei Ausformungen der Religionen und die drei Gebetsformen eröffnen ein nachvollziehbares Verständnis des dreifaltigen Gottes in der Praxis dankbaren Lebens im Unterschied zum Pantheismus;
dieser Vortrag in der Basilika Graz-Mariatrost folgt weitgehend dem früheren Vortrag in Wien: An welchen Gott können wir noch glauben? (2008), siehe oben unter 3.2.; siehe auch Religionen ‒ drei Innenwelten: Ergänzend: 1.2.
2. Die Erfahrung der Dreieinheit von Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen
Bruder David bietet in seinem Vortrag anlässlich der Salzburger Hochschulwochen 1972 Jesus als Wort Gottes, abgedruckt im Buch Die Frage nach Jesus (1973), 9-67, eine Gesamtschau auf die Bibel, die christliche Lehre mit Blick auf die primitiven Religionen, den Buddhismus und Hinduismus, aus der Erfahrung unseres eigenen Strebens nach Sinn.
In diesem Vortrag ist die dynamische Dreiheit von Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen nicht nur ein Schlüssel zur Deutung unseres Sinnstrebens, sondern Erfahrung des großen Geheimnisses selbst, das sich in den Hochreligionen mit verschiedenen Schwerpunkten manifestiert und uns erlaubt, unser Leben als Teilnahme am dreifaltigen Leben Gottes selbst zu verstehen in drei Formen der Begegnung mit dem großen Geheimnis im Gebet.
Deshalb enden auch die wegweisenden Vorträge von Bruder David zum Thema Glaube, der alle verbindet, mit dem Sinnbild des Reigentanzes der Dreifaltigkeit, der sich manifestiert im Reigentanz der religiösen Traditionen, eingebettet im kosmischen Tanz des ganzen Universums:
«Und wenn Sie sich jetzt vorstellen, dieser Reigentanz geht hier vor, und Sie stehen außerhalb dieses Reigentanzes wie die Religionswissenschaftler, und wollen das also von a u ß e n betrachten, dann sehen Sie immer, dass die Ihnen am nächsten in einer Richtung gehen, und die Ihnen am fernsten in genau der entgegengesetzten Richtung gehen. Und wo immer Sie außerhalb des Kreises stehen, ist genau das richtige Bild, lässt sich nicht bestreiten:
Die einen gehen in einer Richtung, die andern, die entfernteren, gehen in der entgegengesetzten Richtung. Im Augenblick, wo Sie nicht mehr das von außen sehen wollen, sondern die Hände halten und s e l b e r in den Kreis eintreten ‒ und dazu sind wir aufgefordert durch unsere Gläubigkeit ‒, auf einmal sehen wir, dass alle in einer Richtung gehen.»[1]
Wenn wir uns auf die Interdimensionalität[2] dieser drei Schlüsselworte einlassen, dann fassen wir Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen als Komponenten, Innenwelten, Dimensionen dieser Ganzheit auf, die einander bedingen, freilich mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, Betonungen oder Schwerpunkten. Und wir können so die Unterschiede ‒ zum Beispiel der religiösen Traditionen ‒ nicht nur nachvollziehen, sondern zustimmen, «dass die einander brauchen»[3]
Die Dreieinheit von Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen erschließt folgende Themenbereiche:
1) Das menschliche Sinnstreben ‒ 2) Drei Grundfragen ‒ 3) Mystische Erfahrung und Wendezeit ‒ 4) Gebet ‒
5) Kreislauf der Dankbarkeit ‒ 6) Ur- und Hochreligionen ‒ 7) Dreifaltigkeit ‒ das Zentralgeheimnis im Christentum
1) Im Buch Orientierung finden (2021), 45:
«Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen durch Tun sind grundlegende Schlüsselwörter, die wir unbedingt brauchen, um Sinn zu finden.»
Siehe auch Sinn ‒ dreifaltiges Mysterium: Haupttext und Ergänzend: 2.1.
2) Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen in der Begegnung mit dem Geheimnis mit drei Grundfragen: Warum? Was? Wie?
Wegleitend dafür ist das Buch Orientierung finden (2021): ‹Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ergreift›, 42-49; siehe auch Geheimnis: Haupttext und in Ergänzend: Film, Audios und 3.1.:
«Es gibt drei existenzielle Fragen, um die wir Menschen nicht herumkommen. Früher oder später müssen wir uns ihnen stellen: Warum? Was? und Wie?» (43)
«Alle drei werden uns also, wenn wir beharrlich genug fragen, ins Geheimnis hineinführen, aber auf drei verschiedenen Wegen. Das Warum fragt nach den Wurzeln, dem Ursprung von allem und führt uns so hinunter in den unaussprechlichen Abgrund des Seins ‒ ins Geheimnis als Schweigen.
Das Was fragt nach dem innersten Wesen der Dinge und hört es am Ende heraus aus der geheimnisvollen Art und Weise, in der jedes Ding seine Einmaligkeit ausspricht, indem es ‹selbstet›[4]‒ Geheimnis als Wort.
Das Wie fragt nach dem dynamischen Aspekt, nach der Kraft, die das Leben antreibt. Aber diese Kraft lässt sich von außen nur beobachten. Verstehen können wir sie nur, indem wir sie in uns selbst erfahren, indem wir ‹das Leben leben› ‒ Geheimnis als Verstehen durch Tun.
Diese drei Zugangswege zum Geheimnis werden aufmerksame LeserInnen in diesem Buch in immer neuen Abwandlungen wiederfinden.» (45)
Diese drei Grundfragen sind auch Ausgangspunkt der Vorträge im Flüeli-Retreat Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), siehe Titelblatt: Schweigen (Montagmorgen), Wort (Montagnachmittag), Verstehen durch Tun (Dienstagmorgen)
Siehe auch das Felsentor-Retreat mit Vanja Palmers (2016) in Fragen, denen wir uns stellen müssen
3) Mystische Erfahrung und Wendezeit:
Audio-Vortrag Gottesbild und Glaubenszweifel (2003):
(36:45) Jeder Mensch erlebt in seiner mystischen Erfahrung Gott als das Schweigen, als das Wort und als das Verstehen
Vortrag An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):
«Worum handelt es sich bei diesem Bewusstseinswandel? Es handelt sich um einen Übergang von einem analytischen zu einem integrierenden Bewusstsein, von einem anthropozentrischen zu einem kosmozentrischen Bewusstsein, von einem Bewusstsein, das aufspaltet und trennt, zu einem Bewusstsein, das sich völlig eingebunden weiß und Trennungen leicht nimmt, eigentlich ein ganzheitliches Weltverständnis. Und ganz entscheidend für diesen Übergang, für dieses neue Bewusstsein, ist auch, dass es große Betonung legt auf die Erfahrung, auf die persönliche Erfahrung.»
Audio-Vortrag Kirche und Spiritualität heute (1994):
(09:12) Spiritualität beginnt in der mystischen Erfahrung
(40:30) Wir stehen in der Wendezeit
(54:49) Der Vortrag schließt mit dem Hinweis auf
4) Drei Innenwelten des Gebetes:
Gebet ‒ drei Innenwelten: Haupttext und Ergänzend: 3.4.
Video Wort & Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992), sowie die Transkription von Werner Binder † in Wort und Schweigen ‒ über den Sinn des Gebets (1992):
«Die drei Bereiche: Wort, Schweigen und Verstehen machen die Welten des Gebetes aus. Und das hängt zusammen mit dem, was Christen die Dreieinigkeit Gottes nennen.»
Weitere Links: die Übersicht in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), S. 80 und die Texte:
- ‹Schweigen›: Stille leben, Verstehen im Raum der Stille; Schweigen und Wort
- ‹Wort›: Vom Worte Gottes leben (2021)
- ‹Verstehen›: Kontemplation im Handeln (‹meditatio i n actione›; Verstehen durch Tun
5) Kreis- und Spiralbewegung der Dankbarkeit in «Leben aus der Stille», das vorletzte Kapitel in Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 152-159, siehe den Text in Stille leben und den Auszug davon in Verstehen im Raum der Stille:
«Der Kreislauf in dem alles Gegebene als Dank zum Ursprung zurückkehrt ‒ der Kreislauf, in dem das Schweigen Wort wird und im Verstehen zurückkehrt ins Schweigen ‒ findet ein dichterisches Bild in den Marmorschalen von Conrad Ferdinand Meyers römischem Brunnen:
… und jede nimmt und gibt zugleich
und strömt und ruht.»
Der Beitrag «Leben in Stille» erschien zuerst unter dem Titel Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille im Buch der Ruhe und der Stille (2005), 7-8, 179-184; Auszüge davon in Alles in uns schweige (2013) und Finde die Stille (2010)
6) Sinnsuche in den Ur- und Hochreligionen; siehe Religionen ‒ drei Innenwelten: Haupttext und in Ergänzend: 2.4.: Jesus als Wort Gottes (1972), 16f.:
«Wir werden uns also bemühen müssen um ein tieferes Verständnis des menschlichen Sinnstrebens in dem dreifachen Zusammenhang von Wort, Schweigen und [Verstehen in] Ergriffenheit [im Unterschied zum Begreifen].
Wir werden dadurch sehen, wie alles das hinzielt auf das innerste Geheimnis des Christentums, nämlich das Geheimnis der Trinität. Und erst von dort, von unserem eigensten Zentralgeheimnis aus können wir hoffen, irgendwie zu verstehen, dass andere Traditionen der Menschheitsgeschichte ebenso sehr im Schweigen das Zentrum ihrer Sinnsuche finden oder in der Ergriffenheit, wie wir es im Wort finden.»
7) Dreifaltigkeit ‒ das Zentralgeheimnis im Christentum:
Immer wieder macht uns Bruder David bewusst, dass die Dreieinheit von Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen nicht nur vom Geheimnis der Dreifaltigkeit inspiriert ist, sondern diese drei Schlüsselworte in diesem Geheimnis verankert sind und eine nachvollziehbare Deutung dieses Geheimnisses ermöglichen.[5]
Im Buch Das glauben wir (2015): ‹Spiritualität für unsere Zeit›: Bruder David im Gespräch mit Pater Anselm Grün: ‹Drei und einer? ‒ oder: ‹Eine kleine Gebrauchsanweisung für die Trinität›, 88f.:
Bruder David: «Bei Augustinus findet man den schönen Vergleich von Vater, Logos und Heiligem Geist mit Schweigen, Wort und Verstehen. Aus dem Schweigen kommt das Wort. Alles, was es gibt, ist Wort und geht durch das Verstehen wieder in das Schweigen zurück. Verstehen ist der Prozess, in dem wir auf ein Wort so hinhorchen, dass es uns ergreift und dorthin führt, wo es herkommt.»
Pater Anselm Grün: «Das Verstehen ist der Heilige Geist. Das Wort ist der Sohn. Und der Ursprung des Wortes, der Vater spricht aus dem Schweigen. Das sind Bilder, die das Geheimnis erahnen lassen. Dogmatik legt nicht fest. Sie weiß nicht alles ganz genau. Durch ihre paradoxe Sprache bringt sie etwas zum Klingen, das wir nur erahnen können.»
Bruder David: «Darum sprechen auch die Kappadokischen Väter[6] vom Reigentanz der Trinität. Der Anführer des Reigens ist der Logos, der aus dem Schweigen hervorkommt. Das Tanzen ist der Heilige Geist. Im Heiligen Geist tanzen wir zurück zum Ursprung, dem Vater. Ich finde dieses Bild begeisternd schön.»
In Jesus als Wort Gottes (1972), 65 und 66f.; siehe auch Dreifaltigkeit: Ergänzend: 2.10. und Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.5.:
«Unser Glaube sieht all dies im Lichte der Dreifaltigkeit. Für uns Christen sind die Wege des Menschen auf der Suche nach dem tiefsten Sinn nur im Lichte des trinitarischen Geheimnisses verständlich.» (65)
«Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten.» (66)
Der Vortrag schließt S. 66f. mit dem Reigentanz der Dreifaltigkeit, wie auch die Vorträge von Bruder David Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet in Freiburg i. Br., München und Wien anlässlich der Vorstellung seines Buches Credo: Ein Glaube, der alle verbindet, und die beiden früheren Vorträge, ebenfalls in Salzburg: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zueinander finden können (2010) und Begegnung der Religionen (1993).
3. Zwei Schlüsselerlebnisse von Bruder David
3.1. Bruder David im buddhistischen Bergkloster Tassajara:
Im Kapitel 5 ‹Interreligiöser Dialog› im Buch Ich bin durch dich so ich (2016), 94f.; siehe auch Christuswirklichkeit: Ergänzend: 3.:
«Immer wieder steigt in diesen Sommerwochen die Frage in mir auf, warum ich mich als Mönch hier so zu Hause fühle. Ja, der Tagesablauf ist sehr ähnlich wie auf Mount Saviour, aber statt des Chorgebetes sitzen wir auf unseren Kissen im Meditationsraum und versenken uns in was wir Christen das Gebet der Stille nennen. Wir lassen uns in das abgründige Schweigen des Großen Geheimnisses hinunter. Schweigen verbindet: Sehr schnell sind wir hier zu einer echten Gemeinschaft geworden. So wie auf Mount Saviour unser Chorgebet die gemeinschaftsbildende Mitte ist, so ist es hier die schweigende Meditation. Dort rühmt in uns ‒ christlich ausgedrückt ‒ der Heilige Geist durch das ewige Wort den Vater, hier dagegen kehrt das Wort ins Schweigen zurück, also Christus zum Vater. Hier wie dort führt uns die innere Bewegung hinein in ein und dasselbe unergründliche Geheimnis. Ein begriffliches Brückenbauen wird mich noch jahrelange Gedankenarbeit kosten, aber jetzt schon erlebe ich diese Gemeinsamkeit und das fasziniert mich. Was Thich Nhat Hanh in Vietnam erlebte, wird mir in Tassajara bewusst: dass wir durch unser Mönchsein zutiefst verbunden sind ‒ über alle äußeren Unterschiede hinweg. Und diese Gemeinsamkeit ist ein tragender Grund ‒ überzeugender als alle scheinbaren Widersprüche.»
3.2. Auf dem Weg der Stille (2023), 20f.:[7]
«Während einer Predigt unseres Dominikaner-Studentenpfarrers Father Diego hob ich einmal geradezu ab. Mich erfasste ekstatisch die Wahrnehmung, dass wir Gott als den Dreieinen genau deshalb erkennen können, weil wir in den ewigen Tanz von Vater, Sohn und Heiligem Geist mit hineingezogen werden. Für Studenten in Wien ist es nicht albern, von Gott zu sagen, dass er tanze. Tanzen ist etwas Ernsthaftes ‒ natürlich nichts Todernstes, aber etwas Lebenswichtiges. Viel später lernte ich den Hymnus über Christus als ‹Lord of the Dance› ‒ ‹Tanzmeister› ‒ kennen, der auf eine alte Shaker-Melodie gesungen wurde.[8]
Ich erfuhr auch, dass der heilige Gregor von Nyssa im 4. Jahrhundert die Beziehung der drei göttlichen Personen zueinander als eine Art Kreistanz beschrieben hatte: Der ewige Sohn kommt aus dem Vater hervor und führt uns im Heiligen Geist zusammen mit der ganzen Schöpfung zum Vater zurück.
Wir können von diesem Großen Tanz auch mit den Begriffen Wort, Schweigen und Handeln sprechen: Der Logos, das Wort Gottes, kommt aus dem unergründlichen Schweigen Gottes hervor und kehrt wieder zu Gott zurück, schwer beladen mit der Ernte des zum liebevollen Handeln inspirierenden Geistes. Diese trinitarische Sicht hilft mir auf immer neue Weisen die ‹Kommunikation mit Gott› zu verstehen, die wir als Beten bezeichnen ‒ nicht als eine Art Ferngespräch bis zum Himmel, sondern als das Geschenk, dank der Teilhabe an Gottes Leben immer mehr von Leben erfüllt und lebendiger zu werden.»]
____________________
[1] Bruder David am Schluss seines VortragesVortrages in Wien anlässlich der Vorstellung seines Buches Credo: Ein Glaube, der alle verbindet; siehe das Audio in Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (27. Oktober 2010)
[2] Bruder David im Eröffnungsvortrag anlässlich der Salzburger Hochschulwochen Jesus als Wort Gottes (1972), abgedruckt im Buch Die Frage nach Jesus (1973), 49f.:
«Wir haben hier eben die drei Dimensionen des Sinnerlebnisses. … Man kann nicht einmal sagen, dass die drei sich gegenseitig ergänzen, sie sind vielmehr interdimensional miteinander. Wenn man die eine hat, hat man auch schon die anderen.» (50)
«Im religiösen Streben des Menschen, das wir als Suche nach dem letzten Sinn verstehen, zeigt sich einerseits in der jüdisch-christlichen Tradition ein Vom-Worte-her-Leben, anderseits in der buddhistischen Tradition ein Auf-das-Schweigen-hin-Leben. Die beiden sind aber keineswegs unvereinbar, im Gegenteil, sie sind interdimensional, freilich mit ganz verschiedener Setzung des Akzentes.» (49)
«Nun kommt alles darauf an, dass wir diese beiden Dimensionen aller Realität, das Wort und das Schweigen, nicht als nebeneinander stehen, sondern als verbunden sehen. Wir müssen Wort und Schweigen wirklich als total voneinander abhängig verstehen wie etwa zwei mathematische Dimensionen; wie eine Kugel z. B. und die Kreise, die diese Kugel bilden. Da ist e i n e Kugel und zugleich eine unendliche Vielzahl von Kreisen, die diese Kugel formen. Wir können nun nicht sagen, dass die Kreise um der Kugel willen bestehen, noch dass die Kugel um der Kreise willen besteht. ‒ Das ist ein sehr statisches Bild; wo es sich um Wort und Schweigen handelt, müssen wir eine dynamische Komponente einführen, und das ist nun eben das Verstehen.» (49)
[3] Bruder David (47:32) im Vortrag in Freiburg i. Br. anlässlich der Vorstellung seines Buches Credo: Ein Glaube, der alle verbindet; siehe das Audio in Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (20. Oktober 2010)
[4] Bruder David bezieht sich in seinem Buch Credo: ‹Ein Glaube, der alle verbindet› (2015), 66, auf das berühmte Eis-Vogel-Sonett von Gerhard Manley Hopkins (1844-1889),
«in welchem der Dichter für das Selbst-Werden ein neues Wort in der englischen Sprache prägt ‒ ‹to selve›, was man Deutsch mit ‹selbsten› wiedergeben kann. Etwas ‹selbstet›, indem es durch sei Tun aussagt, was es ist. Jede Glocke, jede angezupfte Saite ‹selbstet› so durch ihren ganz eigenen Ton.»
[5] Bruder David im Vortrag Jesus als Wort Gottes (1972), 48:
«Ich kann nur hoffen, dass das Gesagte genügt, um anzudeuten, wie tief diese Interdimensionalität im Geheimnis der Trinität verankert ist.»
[6] Die sogenannten Kappadokischen Väter Basilius von Caesarea Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz sind bedeutende Kirchenlehrer aus dem vierten Jahrhundert nach Christus, die aus Kappadokien (heutiges Zentralanatolien, Türkei) stammen.
[7] Den gleichen Originaltext hat auch Eve Landis übersetzt in Den großen Tanz beten (1998), siehe auch diese Passage in Christuswirklichkeit: Ergänzend: 4.: ‹Christus als Choryphaeos, als Anführer des Reigentanzes›, und in Dreifaltigkeit: Ergänzend: 2.4.
[8] Anmerkung von Bernard Schellenberger: Die Shaker («Schüttler») waren eine im 18. Jahrhundert aus den Quäkern hervorgegangene Freikirche in den USA, in der man ekstatische Schütteltänze pflegte.
Schweigen und Wort
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Schweigen gibt mir Anteil an Dir, Du tiefste Stille.
‹Der stille Gott stillt alles; und wer sich in seine Stille versenkt, wird still›
(Bernhard von Clairvaux).[1]Schweigend darf ich mich in Deine Stille hinunterlassen.
Dann stillst Du mich, wie eine Mutter ihr Kind stillt,
bis es schweigend in ihrem Schoß ruht.Schenk mir, dass ich,
ausgeruht durch mein Ruhen in Dir,
wach daraus hervorgehen kann,
ohne die Ruhe zu verlieren.Lehre mich, durch Schweigen
so bleibend in Deiner Stille gefestigt zu werden,
dass auch mein Reden aus der Stille kommt.
So, wie mein Stillsein Bild Deines Schweigens ist,
so lass Deine Stille zu Wort kommen
in meinem Reden und Tun. Amen.»[2]«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt!Alles soll heute Begegnung werden mit Dir
durch Wort und Bild ‒
durch alles, was meine Sinne anspricht,
durch alles, was dabei in meinem Herzen aufleuchtet.‹Quellgrund›? ‹Meer›?
Bilder und Worte, von mir gefunden.
Aber was dahintersteht,
ihre Bedeutung, ist nicht Erfindung, sondern Fund.Nur im Erfinden kann ich Dich finden.
‹Wir dürfen jenen erhorchen›,
sagt der Dichter von Dir,
‹der uns am Ende erhört›.[3]Lass mich heute Dich erhorchen in allem,
was ich mit Ohr und Herz höre!
Und erhöre Du dieses Gebet. Amen»[4]«Worte, die aus der Stille kommen, reden ‒
von was immer sie auch sonst noch reden mögen ‒
von Dir, Du großes Geheimnis.
Sie weisen auf Unaussprechliches hin.Sie offenbaren ein flüchtiges Glänzen von einem Ganzen,
das dunkel im Schweigen ruht.Mach mich hellhörig für das Unsägliche,
das in allem Ausgesagten mitschwingt ‒
für den unfasslichen Überfluss.Zugleich aber möchte ich auch auf die Fasslichkeit achten,
die Worte uns zeigen, indem sie Fließendes einfassen,
bevor es wieder überfließt.Dankbar für alles in ihren Schalen erfasste,
will ich Worte achtsam hören und sorgfältig nutzen ‒
achtsam, gewissenhaft und dankbar für diesen Schatz,
unseren Wortschatz.
Danach nimm mich wieder auf in Deiner Stille. Amen.»[5]
Solange wir uns im Bereich der Logik bewegen, bewegen wir uns im Bereich des Wortes, des Logos. Solange wir uns im Bereich des Wortes bewegen, muss alles logisch sein. Aber wir wissen, dass das Leben über die Logik hinausgeht, ohne freilich die Logik zu zerstören. Das gibt uns Zugang zu einer sehr bezeichnenden und sehr zentralen Form geistlichen Trainings im Zen-Buddhismus: dem Koan.
Gerade weil das Koan uns immer wieder so fremd erscheint, bietet es einen guten Ansatzpunkt und ist geeignet, uns aufzustacheln zu einem tieferen Verständnis dessen, um was es hier geht. Ein Koan ist ein Paradox, meist ein ganz kurzes Wort eines Meisters, das einem Novizen gegeben wird, um daran sein logisches Denken nicht zu brechen, aber zu überwinden. Es ist ein Wort, das so tiefen Sinn hat, dass es logisch nicht auszuschöpfen ist. Es zwingt uns, über die Logik hinauszugehen.
Ein berühmtes Koan ist zum Beispiel die Geschichte eines sehr jungen Novizen, der zu Hakuin kommt. Meister Hakuin gibt ihm ein Koan, das seinem Alter angepasst ist, und sagt:
«Klatsch in die Hände!»
Der Kleine klatscht in die Hände, und Hakuin sagt:
«Du hast also gehört, wie das Klatschen
von zwei Händen klingt.
Wie klingt das Klatschen e i n e r Hand?»
Es ist ja zweimal eine Hand, die klatscht. Wie klingt also das Klatschen einer? Das ist typisch eine Koan-Frage, logisch nicht zu beantworten.
Und nun, heißt es, sitzt der Novize mit diesem Koan wie eine Gluckhenne auf Eiern, auf nichts anderes bedacht als auf dieses Eine. Er lebt ein ganzes Jahr lang mit nichts als mit der Frage:
«Wie klingt das Klatschen e i n e r Hand?»
Er ist so darauf bedacht wie eine Katze, die eine Maus in eine Ecke getrieben hat und nichts anderes mehr im Sinn hat.
Diese Zen-Geschichten enden für uns meist außerordentlich enttäuschend. Wir warten nämlich auf das entscheidende Wort; aber das Entscheidende daran ist gerade, dass das Wort nicht kommt, sondern das Schweigen.
Alle Zen-Geschichten wollen uns dorthin führen, wo das Wort aufhört und das Schweigen beginnt. Und so ist auch die Pointe dieser Geschichten nur ein Hinweis auf das Schweigen, aus dem das Wort entspringt und in das es mündet.
In diesem Fall ist die Antwort, mit der der Novize dann kommt und dem Meister zeigt, dass er eingesehen hat:
«Ich habe das Schweigen gehört.»
Paradox ‒ aber die Antwort lässt sich eben nur in einem Paradox ausdrücken, sonst würden wir uns ja noch im Bereich der Logik bewegen. Was über den Bereich der Logik hinausgeht, können wir im Bereich des Wortes nur in einem paradox ausdrücken:
«Ich habe das Schweigen gehört.»[6]
Wort und Schweigen gehören zusammen. Wir dürfen sie nicht voneinander trennen. Jesus selbst wehrt sich dagegen. Wenn Philippus sagt:
«Zeig uns den Vater, das genügt uns»,
hat er offenbar im Sinn, dass man das Wort zurücklassen könne, um so zu dem zu kommen, was das Wort offenbart. Aber die Antwort ist:
«Philippus, jetzt bin ich schon so lange bei euch,
und du hast noch immer nicht verstanden?
«Wer mich sieht der sieht den Vater.» (Joh 14,9)
Sonst ist nichts zu sehen. Aber nicht deshalb, weil der Vater dies oder jenes nicht offenbart, sondern weil er eben alles offenbart i n seinem Wort.
«Wer mich sieht, sieht den Vater.»
Das heißt, dass wir im Wort
das Schweigen hören müssen.Das Schweigen kommt zu sich im Wort;
und in diesem Sinn kommt der Vater zu sich
im ewigen Wort.«Wer das Wort Jesu wahrhaft hören kann,
der kann auch sein Schweigen hören.»
(Ignatius von Antiochien)[7]«Im wahren Wort muss unser Herz zur Sprache kommen;
das Herz als unser innerstes Zentrum,
unser innerstes Schweigen, muss zu Wort kommen.Das bedeutet, dass das Wort Ausdruck des Schweigens sein muss;
sonst ist es Geplapper.Das wahre Wort ist Ausdruck des Schweigens;
es ist sozusagen schwanger mit Schweigen.Das Wort muss ins Schweigen aufgenommen werden,
so wie die Saat in die schweigende Erde fallen muss.Das Wort muss von Herz zu Herz gehen,
muss das Schweigen eines Herzens
dem Schweigen eines anderen Herzens
mitteilen mittels des Wortes.»[8]
Wie uns die Vielfalt der Worte bedeutend ist, so ist für den Buddhismus das eine Schweigen, aus dem alle diese Worte kommen, zentral. Zum Wort gehört die Vielfalt der Aussagen. Aber es steht immer ein und dasselbe Schweigen dahinter.
Gott ist so einfach, dass er nur eines zu sagen hat, und das ist er selber. Und dieses Eine ist so unerschöpflich, dass es immer wieder und immer wieder in unerschöpflicher Vielfalt ausgesprochen werden muss.[9]
Nachdem aber Wort und Schweigen so eng zusammengehören, haben wir als Christen sozusagen von innen her einen Zugang zu dem, was ganz zentral ist für den Buddhismus. Nur nennen wir es meist nicht Schweigen, sondern Mysterium. Mysterium als das, was uns sprachlos macht.[10]
Das Schweigen, von dem wir hier sprechen, ist ja nicht gekennzeichnet durch die Abwesenheit von Worten, sondern durch die Anwesenheit einer Wirklichkeit, die so überwältigend ist, so erschütternd und anziehend zugleich, dass sie uns sprachlos macht. Die Gegenwart Gottes geht eben über das Wort hinaus.
Da muss man nun sehr vorsichtig sein. Wir dürfen nicht denken, dass man das Wort zurücklassen könne, indem man über das Wort hinausgeht. Ebenso wenig wie man das Wort zurücklässt, wenn man den Sinn des Wortes erfasst. Man erfasst den Sinn eben nur im Wort.
Das Wort hat Sinn, das Schweigen gibt Sinn.
Wenn Wort so umfassend verstanden wird, wie wir es hier verstehen, dann liegt jenseits des Wortes nichts. Nicht aber ein leeres Nichts, sondern das Nichts, das den Horizont für alles bildet: das Schweigen, das den Horizont des Wortes bildet.[11]
Auch in unserer eigenen Tradition gehen wir ja über das Wort hinaus, zum Beispiel im Gebet der Stille.
Für uns Christen ist das Gebet der Stille unsere eigene buddhistische Form des Gebetes. Wir treten dabei einfach ein in das Schweigen, in dem das Wort aufgehoben ist. Es handelt sich darum, über die Logik hinauszugehen, ohne sie zurückzulassen. Das Leben ist eben größer als die Logik.[12]
«Der ruhige Gott beruhigt alles
und wer sich in die Ruhe Gottes versenkt,
ruht.»[13]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2, 4-8, 12f.]
[Ergänzend:
Auf dem Weg der Stille (2023): Kp. 9: «Unsere Suche nach dem letzten Sinn», 123f. und 128f.; siehe auch im Buch Ein Garten voll Glück (2019) unter dem Titel: Suche nach dem Sinn und in Sinn ‒ dreifaltiges Mysterium:
«Jede Begegnung mit dem Geheimnis verbirgt sich im Schweigen.
Im deutschen Begriff ‹Geheimnis› steckt das Wort ‹Heim›: ein Geheimnis behalten wir bei uns daheim, zeigen es nicht öffentlich.
Der aus dem Griechischen abgeleitete Begriff dafür, ‹Mysterium› ist vom Tätigkeitswort ‹myein› abgeleitet, das bedeutet ‹still bleiben› oder ‹den Mund halten›.
Ein Mysterium, ein Geheimnis ist keine Leere, sondern die unfassbare Präsenz, die uns anrührt und uns sprachlos macht, indem sie uns Sinn erschließt.
Sinn wird nur mittels der Spannung zwischen Wort und Schweigen aufrechterhalten.» (123f.)
«Auf ähnliche Weise konzentriert sich der Buddhismus auf eine Dimension, die zum Wort gehört, aber in der christlichen Tradition ziemlich vernachlässigt worden ist.» (128)
«Es würde nicht der Wahrheit entsprechen, wenn wir behaupten wollten, die großen Traditionen der Spiritualität verhielten sich zueinander komplementär. Ja, es wäre falsch, sich vorzustellen, sie ließen sich alle ‹zum Richtigen› zusammenfassen. Jede von ihnen ist ‹das Richtige›.
Sie sind nicht komplementär, sondern interdimensional.
Jede enthält jede, wenn auch mit den größtmöglichen Unterschieden bezüglich der Akzentsetzung. Daher ist jede einmalig.
Jede ist in ihrer Art auch die höchste. Wo bleibt da der christliche Anspruch auf Universalität?
Richtig verstanden, ist er nicht eine Art von kolonialem Anspruch, sondern er verweist auf innere Horizonte.
Es verlangt nicht von den anderen, sondern von uns Christen, dass wir immer und immer wieder die vernachlässigten Dimensionen unserer eigenen Tradition wiederentdecken, damit wir wahrhaft universal, also wirklich katholisch werden.
Nicht irgendeine Theorie, sondern unsere eigene Erfahrung muss der Schlüssel zum Verständnis der spirituellen Traditionen werden, vor die wir uns gestellt sehen.» (128f.)
Von «Interdimensionalität» spricht Bruder David bereits im Eröffnungsvortrag anlässlich der Salzburger Hochschulwochen Jesus als Wort Gottes (1972), abgedruckt im Buch Die Frage nach Jesus (1973), 48-50; siehe auch in Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen: Ergänzend: 2. und in Anm. 2 und 5
Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen sind grundlegende Schlüsselworte, die wir unbedingt brauchen zum Verständnis der spirituellen Traditionen, vor die wir uns gestellt sehen.
«Sie sind nicht komplementär, sondern interdimensional:
Jedes enthält jedes, wenn auch mit den größtmöglichen Unterschieden bezüglich der Akzentsetzung. Daher ist jede einmalig.» (Ebd. 128)
Entscheidend ist, diese Interdimensionalität, diese Dreieinheit von Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen nicht nur als eine Theorie wahrzunehmen, sondern sie persönlich zu erfahren. (Ebd. 129)
Sonst sind wir «wie der Junge, der seinen Zahn in die Hand nimmt, nachdem ihn der Zahnarzt gezogen hat, etwas Zucker darauf streut und abwartet, wie das wehtut. Schmerz kann man nicht von außen her verstehen, und genauso wenig Freude, Leben oder Religion.» (Ebd. 39f.)
Bruder David zeigt Wege auf, wie wir diese Dreiheit von Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen im Alltag erfahren und leben können. Folgende sechs Punkte nennt er immer wieder in seinen Vorträgen und Büchern:
1. Die Stille nicht brechen ‒ die Stille zu Wort kommen lassen
Video Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017) und Transkription; siehe auch Dichtung, Bilder, Sprache: Ergänzend: 6.1.:
(00:50) «Nach so ergreifender Musik fühlt man fast, dass man sich entschuldigen muss, die Stille jetzt durch Worte zu unterbrechen. Aber vielleicht gelingt es uns stattdessen, die Stille, die aus der Musik kommt, zu Wort kommen zu lassen. Und das gelingt am ehesten durch Dichtung. Und darum bin ich auch eingeladen worden, ein paar Worte zu sagen zu den vier Zeilen, die im nächsten Stück aus einem Sonett von Rilke vertont werden.»
Audio Gottesbild und Glaubenszweifel (2003); siehe auch Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen: Ergänzend: 2., Themenbereich 3):
(33:30) Das wahre Wort kommt immer aus der Stille und kehrt wieder in die Stille zurück: der Unterschied von Gespräch und Wortwechsel ‒ ‹Wie die ganze Welt in Stille lag, sprang dein göttliches Wort vom himmlischen Thron› (Weish 18,15): Sich in diese Stille zu versenken ist für Buddhisten ebenso zentral, wie für uns vom Wort leben
Audio Festival «Die Kraft der Visionen» (1991); siehe auch Stille zulassen: Ergänzend: 4.:
3. Mit dem Herzen horchen ‒ Die Themen des Gesprächs:
Musik und Alltag aus der Kraft der Stille (Paul an der Panflöte)
2. Sich in ein echtes Gespräch einlassen
Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 31:
«Ein ernstes Gespräch ist kein Wortwechsel, das ist eher ein Austausch von Schweigen: Schweigen mittels Worte. Was ausgetaucht wird ist nicht ein Wortwechsel ‒ ein Schweigewechsel. Ein gemeinsames Schweigen in das man sich einlässt.»
3. Unseren buddhistischen Augenblicken Platz einräumen im Alltag mit dem Gebet der Stille
Audio Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag; siehe auch Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen: Haupttext und Ergänzend: 1.1. und Verstehen durch Tun: Ergänzend: 1.1.
(29:24) Die Methode: Stop ‒ Look ‒ Go, Innehalten ‒ Innewerden ‒ Tun: Unsere täglichen buddhistischen Augenblicke, unsere ‹amunah›-Spiritualität und unser Yoga
4. Von der Vielfalt in die Einheit zurückgehen und von der Einheit wieder hinaus in die Vielfalt
Audio Lebendige Spiritualität (2015): Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen durch TUN mit Gedichten von Rilke; siehe auch Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 2.1.:
Verstehen durch TUN:
(48:31) … ‹das heißt: Kehre von der Vielfalt in die Einheit zurück, aus dem Wort ins Schweigen, in das eine Schweigen, was die kappadozischen Väter, die frühen griechischen Väter, schon im 4. Jh. den Reigentanz der Trinität genannt haben: Aus dem Schweigen des Vaters in das Wort des Logos und durch das Verstehen des Hl. Geistes zurück in das Schweigen: Aus der Einheit in die Vielfalt und durch das Tun und Verstehen wieder zurück in die Einheit. Also immer wieder geht es um unser Eingebettet sein in dem Geheimnis.›
5. Sich von Dichtung im Raum der Stille berühren lassen
In allen drei Vorträgen Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010), anlässlich der Vorstellung seines Buches Credo: Ein Glaube, der alle verbindet, ist Bruder David das Verständnis für dichterische Sprache ein wichtiges Anliegen; er spricht darüber im dritten Teil seiner Vorträge.
6. Die Dreieinheit von Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen durch Tun üben mit dem Dreischritt Stop ‒ Look ‒ Go:
Im Buch Orientierung finden (2021): «Berufung ‒ ‹Folge deinem Stern›, 101, und «Stop ‒ Look ‒ Go: sich einfinden in den Fließweg des Lebens»,113:
«Die Antwort auf jede Berufung wird einem Dreischritt folgen:
still werden,
sonst können wir nicht horchen;
hinhorchen,
sonst können wir nicht hören,
wozu das Leben uns ruft;
und antworten
auf den gehörten Ruf ‒
innehalten, innewerden und tun
Das gilt für Berufung im Großen, will aber Augenblick für Augenblick im Kleinen geübt werden. Wir nennen diese Übung: Stop ‒ Look ‒ Go.» (101)
«Wir können ‹Stop ‒ Look ‒ Go› an jedem Ort und zu jeder Zeit üben: am Arbeitsplatz genauso gut wie an einem Ort der Stille; in der U-Bahn genauso gut wie bei einer Wanderung in den Bergen. Und wann immer wir diesen einfachen Dreischritt üben, bringt er uns ins Jetzt.» (113)]
___________________
[1] Inspiriert von Bernhard von Clairvaux (1090-1153): ‹Die Ruhe Gottes macht alles ruhig. Und wer sich in die Ruhe hinablässt, wird ruhig.› Siehe auch Anm. 13
[2] Erwachende Worte (2023): ‹10 ‒ Schweigen›, 37
[3] Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil., XXIV
[4] Du großes Geheimnis: ‹Gebete zum Aufwachen› (2019), ‹10 ‒ Erfinden und Finden›, 19; siehe auch Sinne und Sinn
[5] Erwachende Worte (2023): ‹13 ‒ Worte›, 43; siehe auch Dichtung, Bilder, Sprache
[6] Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 43f.
[7] Ebd. 47 und 48: das Wort von Ignatius von Antiochien
[8] Ebd. 41; siehe auch: Sinnorgan Herz: Ergänzend: 4.2.; Sinn ‒ dreifaltiges Mysterium: Ergänzend: 2.4.
[9] Bruder David in seinem Vortrag in Wien anlässlich der Vorstellung seines Buches Credo: Ein Glaube, der alle verbindet; siehe das Audio in Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (27. Oktober 2010) im Zusammenhang mit dem Gedicht von Gerald Manley Hopkins: ‹Gescheckte Schönheit› (‹Piet Beauty›) (30:54-34:15):
«denn Thomas von Aquin sagt, dass der Akt, in dem Gott das ewige Wort spricht: das eine, den Logos, d e r s e l b e Akt ist, in dem Gott die Welt erschafft.
Gott ist zu einfach, um zwei Akte zu haben: In e i n e m Schwung kommt aus dem Nichts, dem trächtigen Nichts, dem schwangeren Nichts des göttlichen ES, alles hervor. Das ist der Logos und die ganze Schöpfung in einem Schwung.»
Quelle: Thomas von Aquin: Das Wort: Kommentar zum Prolog des Johannes-Evangeliums (lat.-dt.) (= Einführende Schriften, Bd. 1), übersetzt von Josef Pieper; hrsg. von Hanns-Gregor Nissing und Berthold Wald, München, Pneuma-Verlag [2017], 9
[10] Das Wort Mysterium geht auf das lateinische mysterium zurück, was vom altgriechischen μυστήριον (mysteriös) herrührt und seine Wurzel im griechischen mýein (μύειν) (sich schließen, zusammengehen, den Mund, besonders aber die Augen (ver)schließen, einschlummern) hat. Siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 23f.
[11] Audio 2.1, in Festival «Die Kraft der Visionen» (1991) und Mitschrift: Bruder David schließt den Vortrag mit den Worten:
«Wir sollten uns vielleicht daran erinnern, wenn wir das nächste Mal zu der bitteren Einsicht kommen:
‹Ich kann mich auf nichts verlassen.›
Ein wunderbarer Satz! Er kommt uns auf die Zunge gerade im rechten Augenblick:
‹Ich kann mich auf Nichts verlassen.›
Wirklich: Ich kann mich verlassen ‒ auf Nichts … ‹Wir können auf Wasser gehen›. Das Nichts ist auch etwas: die Fülle des Lebens entspringt daraus.»
[12] Jesus als Wort Gottes 42f. mit Einschub «Das Wort hat Sinn; das Schweigen gibt Sinn.» (41)
[13] RUHE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch Orientierung finden (2021), 154; siehe auch in Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen: Schlüsselwort ‹Ruhe›:
Seele
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Leben spielt sich auf allen seinen Stufen als Gegenseitigkeit ab, als Wechselwirkung zwischen DU und ICH und WIR.
Das gilt mit besonderer Intensität vom Leben im Heiligen Geist.
Wir sagten es schon: «Inter-Sein» nennt der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh † diese Vernetzung alles Lebendigen.
Der Heilige Geist «hält alle Dinge zusammen» (Weish 1,7).
Darum dürfen wir gläubig vertrauen, dass alles Fleisch, alles was hinfällig ist und auf den Tod zugeht, unser sterblicher Leib nicht ausgenommen, in Gott, der jeden Grashalm kennt und liebt und nicht vergessen kann, unzerstörbares Leben hat.
Alles in der Welt ist hinfällig; auch wir selber.
«Wir alle fallen», wie Herbstlaub, sagt Rilke, «und doch ist Einer, welcher dieses Fallen / unendlich sanft in seinen Händen hält.»[1]
In Raum und Zeit vergehen alle Formen wie Seifenblasen; in Gottes ewigem Jetzt aber sind sie gegenwärtig.
«Nichts Vergängliches vergeht», sagt Werner Bergengruen (1892-1964); «Gott ist ein Herr der Dauer / und alles hat Bestand».[2]
Immer wieder kreisen seine Gedichte um die tiefe Einsicht, dass «nichts vergänglich ist, als die Vergänglichkeit».
Vielleicht bist du schon alt genug, um Fotos von Verwandten und Freunden zu besitzen, die du von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod kanntest.
Dann schließt deineee Liebe doch das Nackerpatzerl (liebevolle österreichische Ausdrucksweise für kleines nacktes Kind) in der Badewanne ebenso ein wie den zahnlückigen Volksschüler, den ruppigen Buben auf dem Fahrrad, den zum Abschluss-Ball geschniegelten Maturanten, das junge Ehepaar, und so Bild um Bild bis zum letzten matten Lächeln.
In welchem der Bilder siehst du den von dir geliebten Menschen? Nicht doch in jedem? Musst du wählen?
Dieses Jetzt des Lebens ist gegenwärtig im «Jetzt, das nicht vergeht»[3], das heißt in der Ewigkeit.
Mein Leib ist nicht ein beliebiges Anhängsel an mein Bewusstsein, sondern seine Verkörperung ‒ im Vollsinn des Wortes. Er gehört zu mir, nicht wie meine Kleidung, sondern eher so, wie die Melodie zu einem Lied gehört.
Wenn ich mich im Spiegel sehe, so denke ich nicht: «das ist mein Körper», sondern einfach, «das bin ich».
Und doch war jedes Atom dieses Körpers vor nicht langer Zeit Teil eines anderen Lebewesens oder Dinges, und in absehbarer Zeit wird es das wieder sein.
Selbst jetzt sterben jede Sekunde Millionen meiner roten Blutzellen ab und Millionen neue entstehen ‒ und das gilt auch von den übrigen Zellen meines Körpers in unterschiedlichen Raten.
Was sich nicht verändert, hat man den «Inneren Leib» genannt oder «die Seele».
Meine Freunde erkennen mich noch nach langer Zeit wieder, obwohl inzwischen fast alle physischen «Bestandteile» ausgewechselt wurden, was so alle sieben Jahre der Fall sein soll.
Die «Seele», an der sie mich erkennen, ist nicht ein Homunculus irgendwo in meinem Inneren. Sie ist vielmehr meine Identität, die sich in meinem Leib verkörpert ‒ mein ganz eigener und einzigartiger Ausdruck der allgemeinen Lebenskraft, die auch in mir fließt.
Ich bin ja nicht batteriebetrieben wie ein Spielzeug, sondern mit einem unerschöpflichen Stromnetz verbunden ‒ dem Heiligen Geist, der das Universum füllt.[4]
Es ist ein viel zu harmloses Bild vom Tod zu denken, dass der Körper stirbt, doch die Seele lebt.
Gibt es wirklich eine unabhängige Seele gegenüber einem Körper mit eigener unabhängiger Existenz?
Konkret erfahren wir uns als körperlich-seelische Wesen.
Die ganze Person, erlebt von außen, ist Körper. Erfahren von innen ist dieselbe ganze Person Seele.
Bei dem Ereignis, das wir Tod nennen, kommt die ganze Existenz zu einem Ende. Aber die ganze Person, die jetzt hier sitzt und redet, weiß, dass, wann immer in diesem Leben etwas wirklich stirbt, das nicht Zerstörung bedeutet, sondern immer einen Schritt in ein größeres Leben.
Und deshalb können wir den Glauben zu Hilfe nehmen und sagen: Ja, ich vertraue, dass ich mit diesem endgültigen Tod auch in ein endgültiges Leben gehe.
Und das ist Glaube an die Auferstehung im christlichen Sinn, denn Auferstehung ist nicht Überleben; es ist keine Wiederbelebung oder Rückkehr ins Leben, oder sonst irgend eine Art vom Umkehrung.
Der Fluss des Lebens kann niemals umgekehrt werden. Durch den Glauben sterben wir vorwärts in die Fülle des Lebens hinein.
Auf solche Art können heute auch christliche Theologen auf die Lehre von der unsterblichen Seele verzichten, ohne die Frohbotschaft von der Auferstehung und dem ewigen Leben kompliziert zu machen.
Sobald wir uns nicht länger verpflichtet fühlen, am Satz von der unsterblichen Seele festzuhalten, können wir tatsächlich viel freier und tiefer die existenzielle Haltung einnehmen, auf der die biblischen Äußerungen über die Auferstehung gegründet sind.
Wir können dann mit Überraschung entdecken, dass selbst der christliche Glaube an die Auferstehung des Fleisches einfach auf der Erfahrung basiert, dass Seele und Körper in der menschlichen Person existenziell eine Einheit bilden.
Man kann nicht von einem körperlosen Menschen sprechen, weil das nicht länger ein menschliches Wesen ist. Der Körper gehört absolut dazu.
Deshalb meint Paulus, wenn er vom Leben der Auferstehung spricht (ein Leben jenseits des Todes, wie er sagen würde, eher als eines nach dem Tod ‒ denn wenn der Tod das Ende der Zeit ist, was könnte danach sein?) ‒ dann meint Paulus ein Leben, das in einem Körper ist.
Es geschieht im Laufe unseres Lebens, dass wir zu «jemand» werden.
Wer wir werden hängt ab von unseren Entscheidungen und davon, wie wir sie körperlich umsetzen.
Es wird von den Antworten abhängen, die wir den Anrufungen Gottes geben, die uns in vielen verschiedenen Formen erreichen, und auch diese Antworten werden wir verkörpern.
Dass wir auf diese Art ein «Jemand» werden, ist offensichtlich eine Aussage ebenso über unseren Körper wie über unsere Seele.
Doch der Körper, den wir den unseren nennen, ist in diesem Sinn nicht durch unsere Haut begrenzt.
Er umfasst all die Elemente des Kosmos, durch die wir unsere eigene persönliche Einzigartigkeit ausgedrückt haben: es ist die ganze, vollständige Person, von außen gesehen.
Doch wenn diese vollständige Person gestorben ist, dann muss die Auferstehung des Lebens, wie Paulus es sieht, die Erschaffung einer vollständigen Person sein, mit Seele und Körper, durch Gott, der alleine die Kontinuität vom alten zum neuen Leben herstellt.
Alles, was Paulus über das unsterbliche Leben ‒ das Leben Christi in uns sagen kann, ist , dass es «mit Christus in Gott bewahrt»
(Kol 3,3) ist.
Es bleibt wahr, ob wir gestorben sind oder nicht. In beiden Fällen ist «unser wahres Leben in Christus», wie Paulus an derselben Stelle sagt.
Sätze wie dieser machen deutlich, dass die christliche Anschauung vom unsterblichen Leben den sogenannten «östlichen» Ideen viel näher steht als den populären westlichen Glaubensvorstellungen, die an eine Unsterblichkeit der Seele gebunden sind.
Wenn Christen bei einem Guru des Ostens lernen zu begreifen «Ich bin nicht mein Körper, ich bin nicht meine Seele», dann geben sie Raum für ein Verständnis der Worte des Heiligen Paulus:
«Dein wahres Leben ist in Christus».[5]
Nur zu oft wird dieses Verständnis behindert durch das Missverständnis «Ich bin nicht mein Körper, sondern ich bin meine Seele», eine falsche Vorstellung, die durch die Doktrin der unsterblichen Seele aufrecht erhalten wird.
Doch wir fürchten uns immer, unsere Individualität in jener allumfassenden Wirklichkeit zu verlieren.
Ich denke, wir könnten diese Angst überwinden, wenn wir uns bewusst werden, dass die göttliche All-Einheit uns nicht Gleichförmigkeit aufzwingt, sondern grenzenlose Vielfalt umfasst; in ihr gibt es Raum für alle unsere persönlichen Unterschiede.[6]
Und wie siehst du das? Ist der Leib ‒ dein eigener und der von jemanden, den du liebst ‒ dir wichtig genug, dass die Vorstellung eines entleibten Lebens nach dem Tod dich nicht besonders reizt?
Ist dein über Zeit und Raum erhabenes Selbst dir jemals so tief bewusst geworden, dass es dich nicht mehr stört zu wissen, dass dein Gehirn verwesen muss?
Wie berührt es dich, wenn du von jemandem, der dir lieb ist, Fotos ‒ aus Kindheit, Jugend, Alter ‒ betrachtest?
«Alles ist immer jetzt» (T. S. Eliot)[7]; wie beeinflusst diese Tatsache dein Verständnis von Auferstehung der Toten?[8]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 4, 6, 8]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Lebensorientierung (2015)
Tag 3, 12. Februar, Donnerstagvormittag mit 5. Impulsvortrag (Bruder David), siehe Nachschrift Tag 3: Der Begriff Seele
(55:57) Seele ist ein abstrakter Begriff, der unsere Verschiedenheit wie auch Einzigartigkeit ausdrückt ‒ In der Definition ‹Anima forma corporis est› (Thomas von Aquin ist ‹forma› nicht ‹etwas›, sondern ‹Causa formalis› (Aristoteles): Was mich zu mich selbst macht
1.2. «Wähle das Leben» (5. Mose 30,19) ‒ Überlegungen zu Tod, Sterben, Leben (1992)
Vortrag:
(26:02) Wenn jedes Jetzt meines Lebens gegenwärtig ist …
(28:44) «Da kommt die ganze Frage: Werden wir unsere Hunde im Himmel wiedersehen? Unsere Katzen, usw.?
Wenn man das so anpackt, wie das bisher angepackt wurde: Ja haben die eine unsterbliche Seele, haben die keine unsterbliche Seele?
Das ist mein Hund und ich habe eine unsterbliche Seele. Wenn ich in den Himmel komme und der Hund nicht dort ist, dann geh ich wieder. Der Hund ist dort, selbstverständlich, er ist ja Teil meines Lebens.
Und alle andern Menschen, denen ich je begegnet bin, und so Menschen, die man nur einmal kurz gesehen hat. Und dann kann man sich dann ausdenken: Was wäre gewesen, wenn wir uns besser kennengelernt hätten. Es ist alles möglich.
Und nachdem alles mit allem zusammenhängt ‒ das wissen wir auch in unserem Leben schon ‒, reicht unsre Ewigkeit in jeder Richtung auf das Ganze hin. In diesem Ganzen sind wir ein kleiner Punkt, der sozusagen das Ganze beinhaltet und jeder kleine Punkt beinhaltet das Ganze. Und in dieser unglaublichen Facette spiegelt sich die Gegenwart Gottes.»
1.3. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Im paradoxen Sinn erfahren
Vortrag und Dialog
Teil 3 in folgende Themen zusammengefasst:
(07:57) Ein Psychotherapeut berichtet / (10:02) Bruder David zum Ausdruck ‹Seele›, zum Thema Reinkarnation im Zusammenhang mit dem Buddhismus
1.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen — Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(20:05-39:47) Bruder David beantwortet Fragen zur Seelenwanderung, Reinkarnationstherapie, Fegefeuer, Hölle, jüngstes Gericht
(39:47) Im Jetzt leben: Deshalb das Desinteresse der jüdischen Propheten an Themen, die in den Religionen ihrer Nachbarvölker einen zentralen Platz einnehmen — «Von einem einzigen Punkt aus, wenn ich wirklich da bin, habe ich zu allem Zugang»:
Bruder David ermutigt zum wissenden Nichtwissen
2. Text
2.1. SEELE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 155f.:
«Seele wird in vielerlei Bedeutung, oft mit sehr ungenauer Definition verwendet, zum Beispiel unsre Psyche, unsre Innerlichkeit, der für unsterblich gehaltene Teil unsres Wesens, das Lebensprinzip in uns.
Für uns bedeutet Seele das, was einem Menschen seine Einzigartigkeit gibt.
Diese Definition ‒ eine altehrwürdige in der westlichen Philosophie ‒ versteht Seele nicht als Gegenpol zum Leib, wie etwa in dem Ausdruck ‹mit Leib und Seele›, sondern weist darauf hin, dass jeder Mensch ein Selbst ist, obwohl das eine Selbst doch unteilbar ist.
Das Wort Seele weist auf die überraschende Tatsache hin, dass wir Bekannte nach Jahrzehnten wiedererkennen. Sie bleiben sie selbst.
Wie aber kann das Selbst, das für uns alle ein und dasselbe ist, zugleich unsre Individualität kennzeichnen?
Was unterscheidet uns dann?
Es ist unsre Körperlichkeit.
Aber es ist eben eine beseelte Körperlichkeit, ein menschlicher Leib, der Anteil hat am allen Menschen gemeinsamen Selbst.
Was aber macht unsre Teilnahme am unteilbaren Selbst möglich?
Die Antwort auf diese Frage lautet: unsre Seele!
Antwort, aber nicht Begründung.
Unsre Einzigartigkeit lässt sich nicht begründen, sondern ist eine Gegebenheit, die wir feststellen.
Die Tatsache, dass ein und dasselbe Selbst sich uns in einer unerschöpflich scheinenden Vielfalt darstellt, macht den Begriff Seele notwendig.
Um dies richtig zu verstehen, müssten wir eigentlich mit dem Staunen darüber beginnen, dass das eine unteilbare Selbst uns in einer solchen Vielfalt von Menschen begegnet, von denen jeder mit Recht ‹lch-Selbst› sagen kann.
Seele ist unser Anteil an etwas, was unteilbar ist.
Dieses Paradox ist im abstrakten Begriff ‹Seele› zusammengefasst ‒ und häufig personifiziert.»
2.2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 148-150 (siehe auch Audio Tag 5,1)
(38:12) Eine Teilnehmerin: «Bruder David, du hast vom Selbst gesprochen, wie ist der Zusammenhang zur Seele?»
(38:23-44:16) Bruder David: «Das ist eine wichtige Frage: die Beziehung vom Selbst zur Seele. Ich vermeide den Ausdruck Seele soweit wie möglich, und zwar deshalb, weil es so wie Gott so ein Begriff ist, der immer missverstanden wird. Die meisten Menschen stellen sich die Seele als so irgendein kleines weißes Wesen vor: hoffentlich weiß, nicht befleckt, so innen drinnen, und wenn wir sterben kommt’s heraus und fliegt davon. Man sieht das sogar auf mittelalterlichen Bildern: Der Marientod. Maria liegt dort und die kleine Seele kommt heraus und Christus empfängt sie und trägt sie in den Himmel.
Das ist ein gutes Bild, besonders für Kinder, aber es ist in der westlichen Philosophie ganz klar ausgedrückt, was Seele bedeutet:
Es klingt technisch, aber die Definition von Seele ist ‹Forma corporis› — und das heißt: was diesen Leib zu diesem Leib macht.
Forma im Zusammenhang mit den Causae des Aristoteles, den drei Ursachen, für alles, was es gibt und eine davon ist die Forma. Und die Forma ist, was ein Tisch zum Tisch macht, und was eine Feder zur Feder, und was mich zu ‹mich› macht. Und das ist, was diesen Leib zu diesem Leib macht.
Und das ist ja die Schwierigkeit: Das Selbst ist unbegrenzt und ich bin begrenzt.
Im Selbst sind wir alle eins: Buddha-Natur, — Christus lebt in uns, — Atman.
Als Ich sind wir ganz verschieden und kenntlich verschieden, nach einiger Zeit erkennt man uns noch.
Und ich hab gesagt: Wieso erkennt man jemanden noch, warum bin ich noch derselbe nach so vielen Jahren, wenn schon jedes Molekül meines Körpers ausgewechselt ist?
Ich habe gesagt, weil eben das Selbst in mir gleichbleibt.
Aber Seele heißt jetzt: Dass dieses Selbst sich in diesem Ich einzigartig und einmalig ausdrückt. Also Seele ist nicht Etwas, Seele ist sozusagen ein Formular.
Wenn man es so versteht ein wichtiger und hilfreicher Ausdruck: Es ist was mich zu mich selbst macht, dieses Ich zu diesem Ich macht.
Dieser Leib, jede und jeder von uns, ist Verleiblichung des Selbst, aber eine ganz einzigartige Verleiblichung des einen und einzigen Selbst.
Und dieser Zusammenhang — wenn man sich natürlich Gedanken macht — ist ausgedrückt in diesem Formular Seele.
Darum sind wir so verschieden und doch eins, weil jede und jeder von uns eine Seele hat.
Und die Seele ist unsterblich, weil das Selbst nicht sterben kann, darum unsterbliche Seele.
Das heißt, wer ich wirklich bin, was mich zu mich macht, ist nicht vergänglich.
Alles Übrige ist in mir schon mehrmals gestorben. In jeder Sekunde sterben Millionen roter Blutkörperchen und Millionen werden geboren. Es ändert sich alles. Aber doch bleibt es gleich, und das ist die Seele, was mich zu mich macht. Es ist ein schwieriger Begriff, weil das Ganze schwierig ist, aber es sollte klar sein wenigstens! … sagt immer: ‚Es sollte wahr sein, nicht nur klar sein‘. (Lachen). — Es ist wenigstens klar.
(44:26-44:55) Es ist eine wichtige Frage, und wenn wir es so verstehen, hoffe ich auch verständlich, warum man das so im Hintergrund behalten kann und eigentlich nur vom Ich-Selbst und von den traurigen Möglichkeiten des Ich: wenn das Ich das Selbst vergisst, zu sprechen und die Seele nicht ausdrücklich zu erwähnen. Aber ist schon wichtig, zu wissen, was wir damit meinen.»
2.3. Im Buch Wendezeit im Christentum: (2015), TEIL 3: Gespräch von Fritjof Capra mit Bruder David und Thomas Matus, 125-127:
«Fritjof Capra: Was bedeutet es also, dass der Mensch als Abbild Gottes geschaffen wurde? Anscheinend wurden die Tiere nicht als Abbild Gottes geschaffen. Oder doch? Adam gab ihnen Namen, und er erhielt die Herrschaft über sie. Sie kennen ja diese Geschichte. Wie kann man das in der vom neuen Paradigma bestimmten Theologie umformulieren?
Vielleicht könnten wir damit beginnen, dass wir uns auf die Vorstellung einer unsterblichen Seele konzentrieren, die meines Wissens in der christlichen Theologie eine ausschließlich menschliche Eigenschaft ist.
Menschen sollen angeblich eine unsterbliche Seele haben, Tiere und Pflanzen aber nicht.
Thomas Matus: Wer behauptet denn das?
Fritjof Capra: Mein Religionslehrer in der Schule.
Bruder David: Im neuen Paradigma muss man diese Geschichte so verstehen, dass alles durch den Atem Gottes geschaffen wurde. ‹Sendest du deinen Geist aus, so werden sie alle erschaffen …›
Thomas Matus: ‹… Und du erneuerst das Antlitz der Erde. Nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin› (Psalm 104).
Bruder David: Der ‹Geist des Herrn›, sein Atem, ‹erfüllt die Erde und hält alles zusammen›. Das ist eine biblische Aussage. Dementsprechend sind alle Pflanzen und Tiere, ist alles vom Lebensatem Gottes erfüllt.
Der Mensch wird in diesem Zusammenhang besonders erwähnt, weil das uns am meisten betrifft und weil wir es aus unserem Inneren heraus wissen.
Wir Menschen leben durch Gottes eigenes Leben, und wir können Gott erkennen, werden Gott von Angesicht zu Angesicht schauen.
Fritjof Capra: Dann ist also der Geist Gottes, oder die Seele, nicht etwas, was den Menschen von anderen Wesen unterscheidet.
Bruder David: Nicht nach den biblischen Begriffen. ‒ Das ist eine philosophische Vorstellung, die erst viel später aufkommt.
Die Vorstellung einer unsterblichen Seele im landläufigen Sinn ist strenggenommen nicht biblisch.
Fritjof Capra: Wie steht es dann um die Unsterblichkeit und ein Leben nach dem Tode?
Thomas Matus: Das findet man nur in einem Buch der Bibel, im Alten Testament und zwar in ‹Das Buch der Weisheit› (Die Weisheit Salomos), das übrigens weder von jüdischen Gelehrten noch von Protestanten anerkannt wird. Vom römisch-katholischen Standpunkt gehört es zu den kanonischen Büchern der Heiligen Schrift. Genauer gesagt, bezeichnet man es als ‹deuterokanonisch›, ein der hebräischen Bibel nach ihrer Übersetzung ins Griechische hinzugefügtes Buch.
Bruder David: Das ist ein dünnes Rinnsal, und selbst die Auferstehung Jesu hat äußerst wenig, wenn überhaupt etwas, mit der Unsterblichkeit der Seele zu tun.
Das ist eine griechische Vorstellung, die aus der griechischen Philosophie in die christliche Überlieferung übernommen wurde.
Fritjof Capra: Die Auferstehung ist aber doch etwas Menschliches, nicht wahr? Pflanzen erfahren keine Auferstehung.
Thomas Matus: Im Gegenteil. Es gehört zum alten Paradigma, zu sagen, dass unsere Lieblingstiere nicht in den Himmel kommen werden. Das ist eine der schlimmsten Geschichten, die man jemals Kindern erzählt hat. Das ist keine Theologie, sondern kultureller Ballast, ein Sammelsurium von Plunder, aber keine Theologie.
Fritjof Capra: Wie deuten Sie dann das Glaubensbekenntnis, das von der Auferstehung des Fleisches und vom ewigen Leben spricht? Allgemein wird das doch als eine ausschließlich dem Menschen vorbehaltene Zukunft, als die Erlösung verstanden.
Bruder David: Aber nur in der landläufigen Meinung. Richtig verstanden bedeutet es kosmische Erneuerung.»]
_______________________
[1] Bruder David spricht das Gedicht im Audio «Wähle das Leben» (5. Mose 30,19) ‒ Überlegungen zu Tod, Sterben, Leben (1992)
Vortrag
(05:21) ‹Die Blätter fallen› (Rilke, Herbst)
[2] Siehe das Gedicht: «Nichts Vergängliches vergeht», in: Werner Bergengruen: «Die heile Welt: Gedichte», Zürich, im Verlag der Arche 19626, 20; siehe auch TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 110
[3] «In elegantem Latein definiert Augustinus Ewigkeit als ‹nunc stans›: Das ‹Jetzt›, das nicht vergeht, weil es jenseits aller Zeit ‹steht›. Ewigkeit hebt die Zeit auf.» (Ebd. 223); siehe auch TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 90f.
[4] Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015), 208, 213, 219, 208f.
[5] «‹Das Angesicht, das wir hatten, vor unserer Geburt›, wie die Buddhisten sagen, ist die Christus-Wirklichkeit. Das bedeutet nicht, eng gesprochen, Jesus von Nazareth; es bedeutet: Christus. Die Christus-Wirklichkeit ist nicht von Jesus zu trennen, ist aber nicht auf ihn beschränkt. Es kommt dem sehr nahe, was die Buddhisten ‹Buddha-Natur› nennen, oder was die Hindus als ‹Atman› bezeichnen, die letztlich bleibende Realität.» [Sterben lernen (2005)]; siehe auch: Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2005)
Vortrag:
(23:41) «Jesus und Christus bilden zwei Pole in einem Spannungsverhältnis: Jesus ohne Christus ist für uns nicht verbindlich, Christus ohne Jesus ist eine mystische Erfahrung ohne Bezugspol in der Außenwelt. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen wird in jeder geschichtlichen Epoche neu und auf verschiedene Weise erlebt.»
[6] Sterben lernen (2005)
[7] Siehe Stillehalten: «All is always now.» T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V, siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 83, 90
Segnen und Segen
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Auch das Segnen ist ein Aspekt von Dankbarkeit.
In meinem eigenen Bemühen, Segen richtig zu verstehen, stieß ich auf zwei schwierige Fragen. Die erste gab mir in meiner Schulzeit Rätsel auf. Mit der zweiten setze ich mich noch heute auseinander. In der Schule sangen wir von «Gott, der den Segen spendet.» Damit gab es keine Probleme. Gott stand hoch über uns, und Segen war etwas, das auf uns herabfiel wie Sonnenstrahlen oder Frühlingsregen.
Dann aber stolperte ich über Verse wie «Segne den Herrn, meine Seele.»
Selbst «alle Tiere wild und zahm» ruft der Psalmist auf, Gott zu «segnen.»
Das kam mir verdreht vor. Sollte ich Gott segnen? Kamen nicht alle Segnungen von Gott? Waren selbst Tiger und Pudel dazu aufgefordert, zu tun, was meiner Meinung nach nur Gott tun konnte ‒ segnen?
Diese Frage muss ich eine ganze Weile mit mir herumgetragen haben. Aber eines Tages sprang mir die Antwort im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Boden entgegen.
Es geschah auf meinem Heimweg von der Schule an einem Frühlingsnachmittag. Die Sonne hatte den ganzen Schnee von der Landstraße geschmolzen. Alle Chancen, von einem Pferdeschlitten mitgenommen zu werden, waren dahin, und so nahmen wir eine Abkürzung am Bach entlang und prüften die dünne Eisschicht an verschiedenen Stellen, während wir dahinschlenderten. Wie wenn man irgendwo spüren kann, welch ein Segen warme Sonnenstrahlen sein können, dann in den österreichischen Alpen nach einem langen Winter.
Jedes Fleckchen Erde schien diesen Segen zu spüren. Und dann, während wir durch den aufgeweichten Boden stapften, standen wir Kinder plötzlich vor den ersten Blumen. Hunderte von Huflattichblüten schoben sich durch totes Blattwerk. Das ganze Ufer war goldgelb. Huflattich hat seinen Namen von der Form seiner Blätter, die an einen Hufabdruck erinnern. Aber die Blätter waren noch nicht da, nur die Blüten, immer mehr von ihnen, als wir weiterliefen und herumschauten. Das war der Frühling.
O ja, selbst mitten im Winter hatte es Nieswurz gegeben, Schneerosen, wie wir sie nannten. Wenn an einem sonnigen Tag zwischen zwei Schneestürmen an den Südhängen trockene Flächen auftauchten, dann suchten und fanden wir sie sofort unmittelbar unter der Schneedecke, mondweiße Blüten. Manche waren hellgrün angehaucht oder hatten rosafarbene Ränder wie Wolken beim Sonnenuntergang. Diese Winterrosen, fünf blasse Blütenblätter und eine winzige Krone in der Mitte, stammten aus einer Welt ohne Jahreszeiten. Jetzt aber war Frühling.
Und diese goldenen Sonnen, nicht größer als ein Pfennig, jede auf ihrem eigenen kräftigen Stamm, waren der Segen der Erde, die Antwort auf den Segen, den die Sonne herabschickte.
Keine andere Blume des Jahres, nicht einmal die riesige Sonnenblume im September, würde jemals ein genaueres Abbild der Sonne bieten, als dieser erste Frühlingssegen.
Und da war meine Antwort. Nicht nötig, etwas auszuklügeln. Ich ging einfach in sie hinein, sah sie, wurde sie, und meine Augen segneten Gott.
Da wusste ich, was das bedeutet:
Segen gibt Segen zurück, wie ein Echo.
Das ist die tiefe, die eigentliche Bedeutung von Kontemplation. Die Vorstellung des Segens verbindet den Tempel oben mit dem Tempel hier unten.
Unseres Herzens umfassendste Schau zeigt uns, dass alles Geschenk ist ‒ Segen. Und die Antwort, die spontanste Handlung unseres Herzens ist das Danken ‒ Segnen.
Hier aber kommt meine zweite Frage ins Spiel: Was, wenn ich das Gegebene nicht als Segen erkenne? Was, wenn nicht Sonnenschein auf uns herabstrahlt, sondern wenn es Hagelkörner sind, die uns wie Hammerschläge treffen? Was, wenn es saurer Regen ist?
Hier müssen wir bedenken, dass das eigentliche Geschenk immer Gelegenheit ist. So habe ich beispielsweise die Gelegenheit, gegen den sauren Regen etwas zu unternehmen. Ich kann mich den Tatsachen stellen, mich über die Ursachen informieren, zu ihren Wurzeln vordringen, andere alarmieren, mich mit ihnen zur Selbsthilfe, zum Protest verbünden. Nehme ich jede Gelegenheit wahr, wie sie sich anbietet, dann erweise ich mich dankbar.
Meine Antwort wird jedoch nicht vollständig sein, wenn ich nicht auch die immer vorhandene Gelegenheit zu segnen und zu preisen sehe. W. H. Auden hat mir mit seinem Gedicht «Precious Five» besonders mit der letzten Strophe, geholfen, dies zu erkennen.
«Ich könnte», sagt Auden dort
| Find reasons fast enough To face the sky and roar In anger and despair At what is going on, Demanding that it name Whoever is to blame: The sky would only wait Till all my breath was gone And then reiterate As if I wasn't there That singular command, I do not understand, Bless what there is for being, Which has to be obeyed, for What else am I made for, Agreeing or disagreeing? |
Schnell genug Gründe finden, Gen Himmel blickend aufzuschreien Vor Zorn und Verzweiflung Über das, was gerade geschieht, Verlangen, dass er den Namen nennt Dessen, der schuldig ist: Der Himmel würde nur warten, Bis mir die Luft ausging, Um dann fortzufahren, Als gäbe es mich nicht. Jenes einzigartige Gebot Verstehe ich nicht Segne was ist, weil es ist, Was wir befolgen müssen, denn Wofür sind wir sonst geschaffen, Gleich ob einverstanden oder nicht? |
Zu segnen was ist, und das aus keinem anderen Grund als einfach weil es ist ‒ das ist unsere raison d'être; dafür sind wir als Menschen geschaffen worden.
Dieses eine Gebot ist uns ins Herz geschrieben. Ob wir das verstehen oder nicht, spielt kaum eine Rolle. Ob wir damit einverstanden sind oder nicht, ändert nichts.
Im Herzen unseres Herzens wissen wir es ja doch. Ganz gleich wie fest du eine Glocke schlägst, sie wird ertönen. Wofür sonst ist sie gemacht?
Selbst unter schweren Schicksalsschlägen bleibt das Herz sich treu. Das menschliche Herz wurde zum allumfassenden Lobpreisen und Rühmen geschaffen.
Solange wir auswählen und zurückweisen und unser Lob von unserer Billigung abhängig machen, kommt unsere Antwort nur aus halbem Herzen.
Unser Herz als ganzes aber ist mit der ganzen Wirklichkeit in Einklang. Und die Wirklichkeit verdient unser Lob.
Mit klarem Blick erkennt das Herz den letztendlichen Sinn von allem: Segen.
Und mit klarem Entschluss antwortet das Herz mit dem letztendlichen Lebenszweck: Danken, preisen, segnen.
[FN 1) 68-72; 2-5) 71-74; 6) 72-75]
[Ergänzend:
1. Video Blessings ‒ Segenswünsche von Bruder David (2019) und Text in deutscher Sprache: Blessings ‒ Segenswünsche (2013) mit Audio-Mitschnitt in englischer Sprache, gesprochen von Bruder David
2. Die Kraft des Staunens: Der Schönheit der Welt begegnen ‒ 99 Blessings (2022):
Bruder David im Vorwort des Buches:
«Segnen heißt ja ein Zeichen setzen, wenn etwa der Vater als Segenszeichen dem Kind die Hände auf den Scheitel legt. Wer genau hinhorcht, kann sogar hören, dass stammverwandte Wörter für Zeichen ‒ wie Signal und signieren ‒ an segnen anklingen. Segen ist die Signatur des Seins.»
«Wenn du auch bei den Wiederholungen der Segenssprüche in diesem Buch einen Hauch geheimnisvoller Kraft verspürst, lass es nur zu. 99 Mal fülle ich das gleiche Raster mit einem neuen Dank an den Quellgrund aller Gaben und einem neuen Vorsatz. Für das 100. Mal gebe ich dir nur das leere Raster. In das kannst du einen Segen eintragen, den du selber empfangen hast und weiterschenken möchtest. Hast du erst einmal die Freude entdeckt, die dieses Muster wecken kann, dann wirst du es nicht nur hundertmal, sondern unendlich oft wiederholen wollen. Mögest du dabei immer reicher gesegnet werden, immer freudiger bereit, Segen zu spenden, begabter, segnen zu können.»]
Sehen ‒ schöpferisches Schauen
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Augen ‒ was für ein staunenswertes Ergebnis der Evolution! Welch erschütterndes Ereignis ist ihre einmalige Entstehung, wie verblüffend ihre mehrmalige! Die Vielfalt von Augen in der Natur: welch Zeugnis unerschöpflicher Kreativität!
Was für ein einzigartiges Geschenk ist mein eigenes Augenlicht. Alle paar Sekunden erblindet ein Mensch irgendwo, meist in armutsgeprägten Ländern, an Augenkrankheiten, die durch einfache Mittel vermeidbar oder heilbar wären. Neun von zehn Menschen, die blind sind, müssten es nicht sein. Beim Augenaufschlagen am Morgen schon will ich daran denken. Unermüdlich will ich Elend bekämpfen.
Wie könnte ich sonst anderen überhaupt noch in die Augen schauen? Wie könnte ich Augenblick für Augenblick Auge in Auge mit Dir stehen?
‹Denn bei Dir ist die Quelle des Lebens, in Deinem Licht schauen wir das Licht.›[1] Amen»[2]
Der kürzeste Weg von unseren Sinnen zum Sinn führt wohl über die Dankbarkeit.
Unsere Sinne führen uns hinaus in die Vielfältigkeit, weiter und weiter. Es ist ein wundervolles Abenteuer.
Aber wir können uns in der Vielfalt verlieren, wenn wir nicht jene heilige Einfalt finden, die uns tiefer und tiefer führt und alles zusammenhält.
Dazu verhilft uns die Dankbarkeit. Die Einfalt der Dankbarkeit ist ganz und gar nicht einfältig, im Sinne von Beschränktheit.
Sie ist mit Arglosigkeit verwandt, mit Ehrfurcht und mit Weisheit.
Weil sie arglos ist, geht sie heil durch den Dornwald argwöhnischen Misstrauens.
Arglos erkennt die Dankbarkeit jeden Augenblick mit allem, was er enthält, als Geschenk.
In Ehrfurcht anerkennt sie in (und zugleich jenseits von) allen Gaben den Geber. Preisend bekennt sie, dass alles Gnade ist.
Ergriffen von dieser Einsicht, führt die Dankbarkeit zu jener Weisheit, von der der Heilige Bernhard sagt:
«Begriffe machen wissend; Ergriffenheit macht weise.»
In Dankbarkeit können wir vom Erkennen der Gabe zum Anerkennen des Gebers und von da zum preisenden Bekennen der Gnade fortschreiten und so durch unsere Sinne Sinn finden.
So reift unser Schauen: von einem Frühling, in dem wir arglos die Gabe als Gabe erkennen, zu einem Sommer, in dem wir den Geber ehrfürchtig anerkennen, und endlich zu einem Herbst, in dem wir die Gnade preisend bekennen.
In dieser Ernte weiser Preisung findet alles erst seinen Sinn.
Denn jede Gabe findet ihre Vollendung erst, wenn sie dankbar empfangen wird. Dann erst schließt sich sinnvoll der Kreis.
In Dankbarkeit ausgereiftes Schauen ist schöpferisch: Es gibt dem, was die Sinne empfangen, erst seinen Sinn.
Alle unsere Sinne können und sollen so bräutlich werden, indem sie die Jahreszeiten der Dankbarkeit durchlaufen.[3]
Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann -
und ich fasse den plastischen Tag.Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los ...Rilke, Das Stunden-Buch
Das «Stop» ‒ der Bruchteil eines Augenblickes, in dem wir innehalten ‒ genügte, um unser Schauen ‹reifen› zu lassen, und jetzt kann wahr werden, was unser Dichter in eines seiner schönsten Bilder fasst:
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.
Alles, dessen wir innewerden, kommt wie eine Braut auf uns zu. Und wie begegnen wir diesem bräutlichen Entgegenkommen des Lebens?
Meist wird uns gar nicht bewusst, wie unsanft, ungeduldig, ja geradezu unverschämt und gewalttätig wir alles, was uns unter die Augen kommt, an uns reißen, einfach durch die Härte, mit der wir es anblicken.
Wir können jedoch lernen, mit sanften Blicken alles, was wir sehen, zu umarmen, wie ein Bräutigam die Braut umarmt ‒ und sich von ihr umarmen lässt.
Dann werden wir die Gelegenheit, nach der wir mit unsrem «Look» Ausschau halten, nicht in erster Linie als Möglichkeit verstehen, alles, was das Leben uns in diesem Augenblick schenkt, auszunutzen.
Es würde uns vielmehr darum gehen, es auszukosten.
Hier stoßen wir wieder auf eine oft übersehene Unterscheidung, die im abendländischen Denken unter dem lateinischen Begriffspaar «uti» (nutzen) und «frui» (auskosten) schon lange eine wichtige Rolle spielt.
Wenn wir lernen, diese beiden Lebenshaltungen ‒ denn das sind sie letztlich ‒ zu unterscheiden und zugleich zu verbinden, dann kann unser «Look», unser Innewerden, sich zu einem wahren Fest entfalten: zur Feier des Lebens.
Nicht nur unsre Augen können diese Haltung erlernen. Das «Look» hier nur aufs Schauen zu beschränken, wäre ein Missverständnis. Jeder unsrer Sinne kann aus verschlafener Stumpfheit aufwachen und sich an dem Reichtum freuen, den das Leben festlich vor uns ausbreitet.[4]
Das Menschenherz ist das Organ der Sinnfindung. Mit dem Herzen horchen wir.
Mit dem Herzen können wir aber auch schauen.
Mit dem Herzen können wir wie Spürhunde Wind bekommen und einer Fährte folgen; können im Dunkeln tasten; können dankbar kosten vom Festmahl, das uns bereitet ist.
Das Herz ist wahrhaft Kreuzweg all unserer Sinne.
Am geläufigsten sind uns die Redewendungen, in denen dem Herzen ein inneres Schauen zugeschrieben wird.
Wir sprechen z. B. von den Augen des Glaubens, die doch nur Augen des Herzens sein können.
Sie schauen durch alle Äußerlichkeiten hindurch auf das Wesentliche.
Sie sehen, wie im Unscheinbarsten das Leuchten göttlicher Herrlichkeit aufstrahlt.
Sie erkennen im tiefsten Grund aller Dinge eine Treue, der wir vertrauen dürfen.
Wir sprechen auch von den Augen der Hoffnung, die noch größere Sehkraft besitzen. Sie sehen selbst in der Finsternis der Gottesferne Gottes Gegenwart.
In der Liebe geht das Herz aber noch über den Glauben und die Hoffnung hinaus. Die Augen der Liebe sehen, was es noch gar nicht gibt, weil das Schauen des Herzens ein schöpferisches Schauen ist. Wir meinen, die Liebe sei blind. Aber sie drückt nur ein Auge zu, dem Kind zuliebe, wie eine Mutter. Mütter übersehen gern vieles, um des Einen willen, das noch seine Möglichkeit ist.
Und wer so angeschaut wird, der wächst in diese Möglichkeit hinein. Das Herz hat die Augen einer Mutter.
Gerade deshalb aber hat das Herz auch jungfräuliche Augen.
Es ist noch offen für unbegrenzte Möglichkeiten.
Nur die Augen der Jungfrau können das Einhorn sehen, «das Tier, das es nicht gibt», wie die Gobelinstickerinnen in Rilkes Sonett.
O dieses Tier, das es nicht giebt.
Sie wusstens nicht und habens jeden Falls
‒ sein Wandeln, seine Haltung, seinen Hals,
bis in des stillen Blickes Licht ‒ geliebt.Zwar w a r es nicht, Doch weil sie’s liebten, ward
ein reines Tier. Sie ließen immer Raum.
Und in dem Raume, klar und ausgespart,
erhob es leicht sein Haupt und brauchte kaumzu sein. Sie nährten es mit keinem Korn,
nur immer mit der Möglichkeit, es sei.
Und die gab solche Stärke an das Tier,dass es aus sich ein Stirnhorn trieb. Ein Horn.
Zu einer Jungfrau kam es weiß herbei ‒
und war im Silber-Spiegel und in ihr.Rilke, Sonette an Orpheus 2. Teil, IV
So schöpferisches Schauen ist Vollendung, nicht Anfängerübung. Wir dürfen nicht erwarten, das Einhorn zu sehen, wenn wir uns nicht einmal einen Laufkäfer gründlich anschauen, der uns über den Weg läuft. Das Schillern seines Panzers hatte ich schon lange bewundert. Aber erst eine Bemerkung von C. S. Lewis hat mir die Augen geöffnet für das irgendwie Altmodisch-Komische dieses langbeinigen Geschöpfes, das alle beweglichen Bestandteile außen hat, wie eine Eisenbahnlokomotive aus dem vorigen Jahrhundert.
Aber, um so etwas zu bemerken, müssen wir uns Zeit lassen.
Es genügt nicht, dem kaum Beachteten schnell eine Bezeichnung zu geben, es sozusagen mit einer Inventarnummer abzufertigen.
Wir müssen anschauen, was uns unterkommt.
Die Sinnschau des Herzens beginnt mit dem genauen Hinschauen der Augen.[5]
Mögest du die kleinen Wegweiser des Tages
nicht übersehen:
den Tau auf den Grasspitzen,
den Sonnenschein auf deiner Tür,
die Regentropfen im Blumenbeet,
das behagliche Buckeln der Katze,
das Wiederkäuen der Kuh,
das Lachen aus Kinderkehlen,
die schwielige Hand des Nachbarn,
der dir einen Gruß über die Hecke schickt.
Möge dein Tag durch viele kleine Dinge
groß werden.[6]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-6]
[Ergänzend:
1. Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(18:34) «Der Gesichtssinn ist für die meisten Menschen der am weitesten entwickelte Sinn unserer Sinne. Aber dass jemand ein visueller Typ ist, heißt noch nicht, dass man wirklich gelernt hat mit dem Herzen zu schauen.
Das Wesentliche am mit dem Herzen schauen ist das Staunen: staunen können, so wie Kinder noch staunen können mit ihrer Unbefangenheit. Oder wie Künstler staunend auf die Welt schauen und so die Überraschung geradezu herausfordern. Oder wie Mütter auf ihre Kinder schauen. So sollten wir eigentlich auf alles schauen: auf andere Menschen, auf Tiere, Pflanzen, auf die ganze Welt, mit mütterlichen Augen, die sagen: Überrasch mich! Und so schaffen wir dann einen Raum, in den die Welt hineinwachsen kann, in den auch andere Menschen hineinwachsen können. Wenn wir mit Augen schauen, die ohne Worte sagen: ‹Überrasche mich!›, dann werden wir wirklich unsere Überraschungen erleben.
(19:45) Erst wenn wir Blinde sehen, die uns in ihrer Sensitivität auf dem Gebiet anderer Sinne soviel zu lehren haben, erst dann wird es uns so richtig bewusst, was wir an unserem Gesichtssinn eigentlich haben, was für ein Schatz, was für eine Gabe das ist und mit welcher Dankbarkeit wir damit durchs Leben gehen sollen.
(20:33) In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.
(21:50) Als Kinder hatten wir ein Spielzeug, das Kaleidoskop hieß, diese Röhre, in der verschiedene kleine Glasscherben sich herumbewegten zwischen Spiegeln und immer neue Muster ergaben. Das war schon eine große Überraschung, immer wieder neue Muster zu sehen. Aber heutzutage gibt es eine neue Art von Kaleidoskop, in dem drei Spiegel auf die Wirklichkeit hinzielen und man die verschiedenen Dinge im Raum immer wieder neu gespiegelt sieht. Mir kommt es vor, dass wir uns so ein Kaleidoskop in unser Auge einbauen müssten, um immer wieder überrascht zu werden von der Wirklichkeit, die wir rund um uns sehen. Wir müssten lernen, die Wirklichkeit immer wieder mit neuen Augen zu sehen, mit den Augen eines Kindes.
(23:12) Was es uns so schwer macht, mit kindlicher Frische und Unvoreingenommenheit unsere Welt zu sehen, ist Übersättigung und Gewöhnung. Wir müssten eben lernen, mit ganz frischen Augen wieder zu schauen.
Jede Landschaft hat ihre eigenen besonderen, ganz unverwechselbaren sinnlichen Reize. Wir denken zum Beispiel an eine Berglandschaft. Oder ein Vergleich dazu zur Tiefebene. Wir denken ans Meer, an einen Fluss, aber auch die Stadt: Die Stadt hat einen ganz besonderen Appell an unsere Sinne. Sie überstürzt uns geradezu mit Formen und Farben und Geräuschen, die auf uns einstürzen. Auch die Stadt will etwas zu uns sagen, wenn wir uns nur mit allen Sinnen dafür öffnen.»
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(15:33) Rilke im ‹Schmargendorfer Tagebuch› (1898) über die Sinnlichkeit und unsere fünf Sinne – Unsere fünf Sinne und Arjuna (Bhagavad Gita) – ‹Ich lerne sehen› … (‹Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge›) / (20:08) ‹Der Panther› (Rilke, Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 127) – ‹Archaïscher Torso Apollos› (Rilke, Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I, 38-40) / (28:29) ‹In deinem Lichte sehen wir das Licht› (Psalm 36,10) – ‹Selig, die reinen Herzens sind› (Mt 5,8) – ‹Hast du deine Schwester gesehen, hast du deinen Bruder gesehen: du hast deinen Gott gesehen› – Schauen und lächeln:
Rilke aus Gesprächen und hinter ihnen: (Sinnlichkeit. Zufall. Vergessen.) (‹Schmargendorfer Tagebuch›):
«Dass die Sinnlichkeit nicht eine heimliche Flamme, die immer an der gleichen Stelle ausbricht, sei ‒ das sei unser Stolz und unsere Stärke. Wir wollen, sie soll eine fröhliche Fackel werden, die wir lachend hinter alle Transparente unseres Wesens halten.»
Rilke zu Beginn seines Romans ‹Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge›:
«Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.»
«Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Dass es mir zum Beispiel niemals zum Bewusstsein gekommen ist, wieviel Gesichter es gibt. Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere.»
2.2. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Sehen lernen:
(00:00) Mit dem Auge des Glaubens schauen heißt, sich auf das Leben verlassen (04:12) Hinweis auf Teilhard de Chardin / (43:48) ‹Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt› (Goethe) / (48:22) Hellsichtig sein, feinfühlig, sensibel: Sehen lernen Schritt für Schritt / (56:47) Lernen, erleben, erfühlen, mit den Augen des Glaubens zu schauen, sich zu sammeln, langsamer zu werden / (01:02:35) Mit den Augen des Herzens sehen, was die Augen nicht sehen können: ‹Hast du deine Schwester gesehen, hast du deinen Bruder gesehen, dann hast du deinen Gott gesehen› ‒ Einander wie mit den Augen einer Mutter anschauen: ‹Das kannst du doch› schafft Raum, in den wir hineinwachsen können ‒ Sich an Träume erinnern
(01:08:27) Musik (Hannelore und Bruder Thomas) ‒ Einsichten, Fragen der Anwesenden:
(01:11:10) Augen und Ohren ‒ sehen und hören / (01:14:07) Das Kind werden, das wir sind / (01:15:11) Der Discipulus, der Schüler in der Pupille des Lehrers ‒ benediktinische Disziplin / (01:16:49) Sich in die Augen schauen ‒ ‹Was bedeutet zähmen›? Von Antoine de Saint-Exupéry lernen / (01:20:07) Virtuelle Kontakte / (01:24:43) Ich und Selbst ‒ Schauen und Einsicht: die göttliche Wirklichkeit in uns / (01:27:17) ‹Wenn Gottes Auge alles sieht› / (01:28:52) ‹Augen, meine lieben Fensterlein› (Gottfried Keller)
(43:48) Johann Wolfgang Goethe: ‹Lynkeus der Türmer› (‹Faust: Der Tragödie zweiter Teil›):
«Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen,
Gefällt mir die Welt.
Ich blick in die Ferne,
Ich seh in der Näh
Den Mond und die Sterne,
Den Wald und das Reh.
So seh ich in allen
Die ewige Zier,
Und wie mir’s gefallen,
Gefall ich auch mir.
Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön!»
(01:28:52) Gottfried Keller: ‹Abendlied›:
«Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!
Fallen einst die müden Lider zu,
Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh;
Tastend streift sie ab die Wanderschuh,
Legt sich auch in ihre finstre Truh.
Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn
Wie zwei Sternlein, innerlich zu sehn,
Bis sie schwanken und dann auch vergehn,
Wie von eines Falters Flügelwehn.
Doch noch wandl’ ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt!»
2.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(24:35) Durch die Sinne zum Übersinnlichen: ‹Öffne deine Augen, neige dein Ohr› ‒ Gott spricht in jedem Augenblick
2.4. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Schauen, Ansehen, Einsehen]
________________________
[1] Psalm 36,10
[2] Erwachende Worte (2023): ‹28 Augen›, 73
[3] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Die Dankbarkeit der fünf Sinne› (2021), 53, 59f.
[4] Orientierung finden (2021), 103f.
[5] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch, hrsg. von Margrit und Rüdiger Dahlke (1996), 269-271; Quelle: Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Der Dreischritt des horchenden Herzens› (2021), 36-39
[6] Geleitwort zum Buch von Angela Römer-Gerner: Möge deine Seele voll sein von Leben (2013), 6
Sehnsucht
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Wir Menschen sind ja so angelegt, dass Zweck allein uns nicht genügt. Kein Zweck kann uns befriedigen, wenn wir ihn nicht sinnvoll finden. Und wenn wir im Leben keinen Sinn mehr finden, dann ist es um uns geschehen. Was für Tiere der Selbsterhaltungstrieb ist, das ist für uns Menschen die Sehnsucht nach Sinn. Darum können wir ja unseren Selbsterhaltungstrieb, den wir mit den Tieren gemeinsam haben, opfern, so stark er auch immer sei. Wir können unser Leben hingeben, wenn uns das sinnvoll erscheint.
Wir können freiwillig sterben. Jeder weiß das.
Was nur wenige wissen, ist dies: Wir können auch freiwillig leben.
In Rilkes Stunden-Buch findet sich ein wunderschönes Gedicht, das speziell für die Laudes geschrieben sein könnte:
Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:Von deinen Sinnen hinausgesandt
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.Gieb mir die Hand.
Es ist fast ein kleiner Schöpfungsmythos. Hier hört der Dichter, wie Gott im Schoß der Dunkelheit zu jedem von uns spricht, noch bevor wir geboren werden, bevor er uns vollendet. Dann begleitet Gott uns hinaus aus der Nacht.
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
weist er uns an,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Gott findet seine Äußerung in dieser Welt durch die Art und Weise, wie wir mit der geheimnisvollen Stille und Finsternis umgehen, aus der wir kommen. Jeder ist dazu bestimmt, das göttliche Geheimnis in seiner ganz persönlichen Eigenart auszudrücken.
Und während er uns ins Licht führt, spricht Gott zu uns:
Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken ...
Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.
Und zum Abschied sagt er uns:
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.
«Von deinen Sinnen hinausgesandt, geh bis an deiner Sehnsucht Rand.»
Und das Kind in uns kann kaum warten, bis wir ihm erlauben, sich, von seinen Sinnen hinausgesandt, bis an seiner Sehnsucht Rand zu wagen. Sobald wir aber nur einmal damit anfangen, führt schon ein Schritt zum nächsten. Wir dürfen uns da auf unser eigenes Erleben verlassen. Darauf kommt es ja schließlich an. Denn, was nicht im Erleben wurzelt, ist ja nur Scheinwissen.
Was aber ist diese Sehnsucht?
Ist sie nicht letztlich Heimweh?
Heimweh nach jenem Urquell von Sinn,
den wir Gott nennen.
Und der quillt in unserem innersten Herzen auf.
Augustinus ist bekannt durch zwei Sätze, die scheinbar im Widerspruch zueinander stehen. Einerseits sagt er:
«In meinem innersten Herzen ist Gott mir näher als ich mir selbst bin,
weil Gott das Selbst meines Selbst ist.»
Aber derselbe Augustinus sagt andererseits, und dieses Wort ist noch besser bekannt:
«Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir, o Gott.»
Nur in Gott, als dem Urquell von Sinn, findet unser rastloses Herz Ruhe.
Das Paradox des Menschenherzens drückt sich aus im scheinbaren Wiederspruch zwischen diesen beiden Sätzen des großen Heiligen.
Daheimsein in Gott und immer auf der Suche sein nach Gott;
in dieser Spannung erfahren wir Gott,
erfahren wir das Leben,
leben wir das Paradox.
Und im Paradox erfahren wir Sinn.
Paradox ist das, was der allgemein üblichen Meinung widerspricht. So widerspricht es der allgemein üblichen Meinung, dass Sinnen über Denken hinausgeht. Es ist aber so, weil Leben über Logik hinausgeht. Leben widerspricht zwar nicht der Logik, geht aber weit über sie hinaus.
Pascal hat dieser Tatsache ihren bleibend gültigen Ausdruck gegeben:
«Le coeur a ses raisons, que la raison ne connaît point» ‒
«Das Herz hat Gründe, die der Verstand nicht kennt.»
Nur unser mystisches Erleben kann diese Gründe ausloten; nur in dichterischer Sprache dürfen wir wagen, davon zu reden.
Die Sinne senden uns hinaus. Und nur so können wir dahin kommen, wo wir immer schon sind. Unsere Ausfahrt zum äußersten Rand unserer Sehnsucht ist Heimkehr zur Herzmitte.
Dieses neue Land, in das wir gesandt werden, ist Gottes Geschenk: sein erhabenes Geschenk, das Geschenk des Lebens, das Geschenk des Seins.
Das Geschenk in jedem Geschenk ist immer die Gelegenheit, die es enthält. Meistens ist es die Gelegenheit, sich zu freuen und den Augenblick zu genießen. Wir achten nie genug auf die vielen Gelegenheiten, die wir täglich erhalten, einfach um uns zu freuen: an der Sonne, die durch die Bäume scheint, über den Tau, der auf einer eben aufgegangenen Blume glitzert, am Lächeln eines Säuglings oder über eine lang erwartete Umarmung.
Wann und wo hast du ‒ ganz gleich wie flüchtig und wie bald bezweifelt oder vergessen ‒ jene «feurige Umarmung» erlebt, von der David Whythes «Selbstbildnis» spricht? Lies es hier als Ganzes; vielleicht wirst du darin dein eigenes Selbst abgebildet finden.
David Whyte entfaltet Pascals Einsicht in gegenwartsnaher Sprache. Darum ist es nicht erstaunlich, dass sein «Selbstbildnis» in den USA zur Zeit zu einem der meist zitierten Gedichte geworden ist. Mit seinen ersten, sehr herausfordernden Worten schon spricht es vielen Menschen unserer Zeit aus dem Herzen ‒ und zwar keineswegs nur spirituell gleichgültigen, sondern vor allem den ernstlich Gott Suchenden:
Selbstbildnis
David WhyteEs interessiert mich nicht, ob es einen
Gott gibt oder viele Götter.
Ich möchte wissen, ob du
dazugehörst oder dich verlassen fühlst,
ob du Verzweiflung kennst und sie erkennen kannst
in andern. Ich möchte wissen,
ob du zu leben bereit bist in der Welt
mit ihrem harten Zwang,
dich zu verändern. Ob du zurückschauen kannst
mit festem Blick und sagen:
‹Hier stehe ich›. Ich möchte wissen,
ob du es verstehst,
in die feurige Lebenshitze hineinzuschmelzen,
hineinzufallen
mitten in deine Sehnsucht. Ich möchte wissen,
ob du bereit bist,
Tag für Tag die Folgen der Liebe zu ertragen
und die ungewollte bittere L e i d e n schaft
deiner unausweichlichen Niederlage.In d i e s e r feurigen Umarmung, heißt es,
reden selbst die Götter von Gott.
Mir wurden in den Jahrzehnten meiner Freundschaft mit David Whyte viele feurige Gipfelerlebnisse geschenkt. Gemeinsam beugten wir uns über die äußersten Klippen der Aran-Inseln und schauten hunderte Meter tief senkrecht hinunter auf den Atlantischen Ozean. Gemeinsam erlebten wir einen Frühlingstag auf einer kleinen Insel in einem irischen See, einen jener verzauberten Tage, wenn nach langem Regen der Schlehdorn wie in Brautschleiern strahlend weiß im Sonnenschein dasteht, und der Kuckuck nicht aufhört zu rufen. Und auf einer dritten Insel, Whidbey Island an der Westküste Nordamerikas, saßen wir gemeinsam auf einer alten Holzbank, und da ereignete sich ‒ nichts. (Wir sagen das so leichthin. Wenn sich Nichts aber einmal wirklich ereignet ‒ uns wirklich bewusst wird ‒, dann ist das vielleicht der höchste Gipfel, den wir erleben können.)
«Es interessiert mich nicht, ob es einen
Gott gibt oder viele Götter.»
Und warum nicht? Weil das rein theoretische Fragen sind. Dem Herzen aber geht es um Einsicht, die der Erfahrung entspringt. Und von Erfahrung sprechen gleich die nächsten Zeilen:
«Ich möchte wissen, ob du
dazugehörst oder dich verlassen fühlst,
ob du Verzweiflung kennst und sie erkennen kannst
in andern.»
Darauf kommt es also an: Ob wir jene allumfassende Zugehörigkeit kennen, die den Gegenpol darstellt zu Verlassenheit und Verzweiflung.
Wir dürfen sicher sein, dass wir schon irgendwann einmal dieses All-eins-sein gefühlt haben ‒ in einem Gipfelerlebnis, würde Maslow sagen.
Wir dürfen uns nur nicht irreführen lassen durch diesen Ausdruck und gleich ans Matterhorn denken oder an einen Gipfel im Himalaya. Vielleicht war unser persönlicher Gipfel im Vergleich dazu ein Ameisenhaufen; das spielt keine Rolle.
Es genügt jedenfalls, dass wir uns schon einmal so recht daheim gefühlt haben im All, wenn auch nur einen Augenblick lang. Wir hörten etwa eine Melodie (Händels Alleluja ist für mich so eine) und waren plötzlich so ganz da; alles war recht so, wie es war, und wir waren Teil des Ganzen, waren irgendwie das Ganze. Einmal wenigstens, das genügt ‒ oder es sollte genügen. Wir dürfen das Geschenk eines solchen Augenblickes nur nicht vergessen.
Sooft wir uns dankbar daran erinnern, wissen wir, dass wir «dazugehören» und sind vor der Verzweiflung gerettet.
Das ist aber eine Haltung, die wir täglich neu erringen; täglich auf neue Art beweisen müssen. Das Leben verändert uns ja ständig, ob wir es wollen oder nicht. Es fordert uns heraus, sicher zu sein, dass der Anker hält, auch in Stürmen.
Darum fragt der Dichter weiter, ob wir auch wirklich zu leben bereit sind:
«Ich möchte wissen,
ob du zu leben bereit bist in der Welt
mit ihrem harten Zwang,
dich zu verändern. Ob du zurückschauen kannst
mit festem Blick und sagen:
‹Hier stehe ich›.»
Nur das gläubiges Ich weiß, wo es steht. Nur unser wirkliches Selbst steht überhaupt.
Unser kleines Ego wird nur ankerlos umhergeschwemmt. Aber es sehnt sich, «aufgehoben» zu werden, ‒ ausgelöscht, über sich hinausgehoben ins große Selbst und dort liebend verwahrt.[1] Darum die weitere Frage:
«Ich möchte wissen,
ob du es verstehst,
in die feurige Lebenshitze hineinzuschmelzen,
hineinzufallen
mitten in deine Sehnsucht.»
‒ die Sehnsucht nach dem All-eins-sein. In allem, was wir Liebe nennen, schwingt irgendwo lauter oder leiser diese Sehnsucht mit.
Denn Liebe ist ja nicht nur ein Gefühl, sondern letztlich unser Ja zur Zugehörigkeit, ein «Ja», das jeder Funke unseres Geistes, jeder Herzschlag unseres Leibes ausruft.
Darum holt auch hier der Dichter weit aus zu seinem vierten und letzten «Ich möchte wissen», das nach der Liebe fragt:
«Ich möchte wissen,
ob du bereit bist,
Tag für Tag die Folgen der Liebe zu ertragen
und die ungewollte bittere L e i d e n schaft
deiner unausweichlichen Niederlage.»
Sooft ich es lese, trifft mich hier dieses Wort «Niederlage» wieder wie ein Blitz. Besser gesagt, mein kleines Ich wird so vom Blitz getroffen. Mein wahres Selbst ist ja Liebe ‒ das große Ja zum All-eins-sein. Darin aufzugehen ist Niederlage für mein Ego,
aber es ist zugleich das strahlende Aufleuchten des gläubigen Selbst ‒
die «feurige Umarmung»,
die allem Leiden, aller Sehnsucht Sinn gibt.
Hier liegt auch die Antwort auf die Frage bezüglich des einen Gottes und der vielen Götter. Sie wurde eingangs des Gedichtes zurückgewiesen, weil nur vom Kopf gestellt; hier in den beiden letzten Zeilen wird sie vom Herzen in ganz überraschender Weise doch beantwortet:
«In d i e s e r feurigen Umarmung, heißt es,
reden selbst die Götter von Gott.»
Das ganze Gedicht verdient es, am Ende dieses Abschnittes noch einmal vorgelegt zu werden. Man muss es mehrmals lesen, um ihm gerecht zu werden:
Self Portrait
David WhyteIt doesn't interest me if there is one God
or many gods.
I want to know if you belong or feel
abandoned.
If you know despair or can see it in others.
I want to know
if you are prepared to live in the world
with its harsh need
to change you. If you can lookback
with firm eyes saying
this is where I stand. I want to know
if you know
how to melt into that fierce heat of living
falling toward
the center of your longing. I want to know
if you are willing
to live, day by day,
with the consequence of love
and the bitter
unwanted passion of sure defeat.I have been told, in t h a t fierce embrace, even
the gods speak of God.
[Komposition aus: Die Achtsamkeit des Herzens, 48f., 40, 35f. (siehe auch Sinne und Kind werden); Musik der Stille (2023), 48f. (siehe auch Sinnenfreudiges Morgenlob); Im Paradoxen Sinn erfahren, 60f. (siehe auch Sinn und Zweck); Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015): «Ich glaube an Gott»: «Persönliche Erwägungen», 31-36]
[Ergänzend:
1. Lebendig bleiben mit David Steindl-Rast (2023):
Szenische Lesung mit Bettina Buchholz und Video-Gespräche mit David Steindl-Rast. Ein Theaterprojekt von Bettina Buchholz und Johannes Neuhauser (Transkription); siehe auch Leiden in schwerer Krankheit:
(Video 53:44) Bettina Buchholz: «Nach einundzwanzig mir unendlich lang erschienenen Tagen durfte ich endlich die Isolierstation verlassen. Mein Körper hatte Gottseidank eine Mindestanzahl an gesunden Zellen gebildet. Ich musste jedoch die nächsten acht Wochen zu Hause weiter in vollkommener Abgeschiedenheit leben und spezielle Hygienevorschriften einhalten.
In dieser Zeit las ich Rilke. Auch Bruder David liebt Rilke über alles. Es ist für mich als Schauspielerin jedes Mal eine Freude, ihn Gedichte von Rilke rezitieren zu hören. Du kannst spüren, wie sehr er jedes Wort durchdringt. Meiner Meinung nach ist Bruder David auch ein echter Künstler. Ich lese jetzt einfach mal jene Rilke Stelle vor, die mich in den Wochen der Isolation am meisten ansprach:
Wir wissen’s ja oft nicht, die wir im Schweren sind,
bis über’s Knie, bis an die Brust, bis an’s Kinn.Aber sind wir denn im Leichten froh?
Sind wir nicht fast verlegen im Leichten?Unser Herz ist tief,
aber wenn wir nicht hineingedrückt werden,
gehen wir nie bis auf den Grund.Und doch,
man muss auf dem Grund gewesen sein.
Darum handelt sich’s.»R. M. Rilke im Brief an den Schriftsteller Arthur Holitscher vom 13. Dezember 1905
2. «Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht.» (Rilke: Das Stunden-Buch)
2.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016); siehe auch Fragen des Lebens: Ergänzend: 2.
‹Audio Tag 2 ‒ Nachmittag›:
‹Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch›:
(02:32) ‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht›
2.2. Lebendige Spiritualität (2015); siehe auch Dunkelstunden: Ergänzend: 2.1.
Audio ‹Schweigen›:
(52:10) ‹Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden› – ‹Du Dunkelheit, aus der ich stamme› – ‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht›]
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[1] «Aufheben» hat für Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) einen dreifachen Sinn: negieren (tollere) ‒ emporheben (elevare) ‒ bewahren (conservare). Der hegelsche Begriff ‹aufheben› ist für Bruder David ein wichtiger Schlüsselbegriff, siehe Abschied, Wandlung, Aufheben: Ergänzend: 1.
Singen
Text mit Video von Br. David Steindl-Rast OSB
(Video gelesen von Bettina Buchholz) Singen ist eine meiner großen Freuden in dieser Zeit von Advent und Weihnachten. Aber heuer ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass dieses Singen an der Schwelle eines neuen Jahres eigentlich das Einüben einer Haltung ist, die wir beibehalten wollen. Singen weckt uns auf und macht uns erst so recht lebendig. Ist diese wache Lebendigkeit nicht die Haltung, mit der wir allem entgegengehen wollen, was uns bevorsteht?
Wie wichtig diese Haltung ist, nicht nur für uns selbst, sondern für das Wohl der Welt, hat Howard Thurman (1899-1981), den ich als einen großen Denker, Lehrer und Friedensaktivisten schätze, so ausgedrückt:
«Frag’ dich nicht, was die Welt braucht. Frag’ dich, was deine eigene Lebendigkeit weckt, und mach’ dich dran, es zu tun. Denn was die Welt braucht, sind wache, lebendige Menschen.»
Solche Menschen schauen auf das Leid der Welt und ihre Augen kennen brennende Tränen, die nach innen fließen. Sie verstehen aber Augustinus, wenn er sagt:
«Schau auf das Ganze: Preise das Ganze!»[1]
Und darum kennen sie innen auch ein Singen, das weiterklingt, wenn das Singen der Weihnachtsengel verklungen ist. Auch davon schreibt Howard Thurman:
«Wenn das Singen der Engel verklungen ist,
Wenn der Stern nicht mehr am Himmel steht,
Wenn die Könige und die Weisen heimgekehrt sind,
Wenn die Hirten wieder ihre Herden weiden,
Dann fängt das Weihnachtswerk an:
Verlorene finden,
Gebrochene heilen,
Hungernde speisen,
Gefangene frei machen,
Nationen neu erbauen,
Menschen Frieden bringen
Und im Herzen singen.»
Was mit dem Singen der Engel begonnen hat, wird am Ende zum Singen im Herzen der Menschen. In diesem Singen drückt sich die wache Lebendigkeit aus, mit der allein wir das verwirklichen können, was wir zu Weihnachten feiern – heilen, befreien, Frieden in die Welt bringen – und all das nicht als grimmige Weltverbesserer, sondern aus Freude, freudig, preisend, trotz aller Hammerschläge des eigenen Schicksals und des Schicksals der Welt.
Vom Menschenherzen, das auf diese Weise singt, sagt Rilke:
«Zwischen den Hämmern besteht
unser Herz, wie die Zunge
zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch, die preisende bleibt.»[2]
Zum Segen für unsere arme Welt wünsche ich Euch (und mir selbst) so ein singendes Herz – in dieser festlichen Zeit, aber auch an jedem Tag des kommenden Jahres.
Euer Bruder David[3]
Der Gesang lehrt uns etwas über das Leben in der Gegenwart. Von einem pragmatischen Gesichtspunkt aus ist er eine nutzlose Aktivität, er vollbringt nichts. Wir sind derart auf das Nützliche ausgerichtet, dass wir das Sinnvolle vergessen, das unserem Leben Freude, Tiefe und Wert verleiht. Musikhören oder Singen heißt etwas tun, was keinem pragmatischen Zweck dient. Es ist nur Feiern und Lobpreisen, es heißt nur, die Freude und Schönheit des Lebens, die Herrlichkeit Gottes zu kosten. Musik sogar mitten in einem ganz zielgerichteten Tag anzuhören, erinnert uns daran, unserer Erfahrung eine andere Dimension hinzuzufügen, die Dimension des Sinnes, die das Ganze der Mühe wert macht.
Singen ist ein wesentlicher Bestandteil vieler religiöser Überlieferungen ‒ der buddhistischen, jüdischen, hinduistischen, islamischen und anderer. Das kommt daher, dass an einem gewissen Punkt das Herz einfach singen will, das Singen bricht aus ihm heraus. Obwohl es widersprüchlich scheint, kann man sagen, dass das Wort dann entsteht, wenn das Schweigen seine Fülle gefunden hat.[4]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3f.)
______________________
[1] Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: siehe die Audios in Ergänzend: 2.1-2.3
[2] R. M. Rilke: Die neunte Duineser Elegie
[3] Weihnachtsgrüsse 2014 mit Ernst Barlachs Bronzefigur ‹Singender Mann›
[4] Musik der Stille (2023): ‹Zum Gregorianischen Gesang›, 24f. und 31; siehe auch ST 119
Sinn ‒ dreifaltiges Mysterium
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Glücklichsein und ein sinnvolles Leben gehören untrennbar zusammen.
Sie werden sicher Menschen kennen, die scheinbar so ungefähr alles haben, was einem ein günstiges Schicksal bescheren kann, aber trotzdem furchtbar unglücklich sind. Dagegen gibt es andere, die mitten im größten Elend zutiefst im Frieden sind und ‒ ja, echt glücklich sind. Überlegen Sie einmal, was diesen Unterschied ausmacht.
Wenn wir tief genug gehen, kommen wir darauf, dass die Glücklichen das gefunden haben, was den anderen fehlt: ein sinnvolles Leben.
Aber wir sollten den Sinn nicht als «das», also eine Sache bezeichnen.
Tatsächlich ist er die einzige Wirklichkeit in unserem Leben, die kein «Etwas» ist.
Auch sollten wir nicht sagen, jemand habe ein für alle Mal den Sinn gefunden, so wie wenn sich der Sinn, hat man ihn erst einmal gefunden, sicher für dunklere Tage aufbewahren lässt.
Sinn muss man ständig neu empfangen.
Das ist wie mit dem Licht: Wenn wir etwas sehen wollen, müssen wir hier und jetzt wieder die Augen aufschlagen.
Ein Bild kann uns sehen helfen, dass Sinn tatsächlich kein «Etwas» ist.
Wir im Westen zeigen auf eine leere Vase oder einen leeren Aschenbecher und fragen: «Was ist das?»
Die Antworten, die wir darauf bekommen, mögen noch so vielfältig sein, aber sie werden dieses «Etwas» im Allgemeinen als ein bestimmtes Material vorstellen, das auf besondere Weise gestaltet ist: als Glas, das in eine bestimmte Form gepresst oder geblasen ist, oder als Ton, der auf einer Töpferscheibe geformt und dann gebrannt und glasiert worden ist. Das ist ganz natürlich so.
Dabei kommen wir kaum auf die Idee, es könnte jemand eine derart andere Geisteseinstellung haben, dass er auf die Frage hin, was das sei, nicht unwillkürlich das Gefäß sieht, sondern den Inhalt und folglich beim Anblick unserer Vase oder unseres Aschenbechers spontan zur Antwort gibt: «Leerheit!»
Das ist für uns verblüffend. «Leerer Raum? Ist das alles?»
Natürlich muss diese Leere mittels dieser oder jener Form definiert werden. Aber das ist weniger wichtig. Worauf es wirklich ankommt, ist die Leerheit des Gefäßes. Ist nicht sie es, die das Gefäß ausmacht?
Das müssen wir zugeben, so merkwürdig uns dieser Ansatz auch vorkommen mag. Das ist so merkwürdig wie der «Klang des Nichtklangs», mit dem es verwandt ist.
So besehen ist auch das Schweigen nicht die Abwesenheit von Wort und Klang.
Es wird nicht als Zustand der Abwesenheit charakterisiert, sondern der Präsenz, einer Präsenz, die für Worte zu groß ist.
Wenn wir irgendeine kleine Freude oder einen kleinen Schmerz haben, reden wir unwillkürlich darüber.
Werden die Freude oder der Schmerz stark, äußern wir diese Freude oder schreien.
Aber wenn das Glück oder Leiden überwältigend wird ‒ werden wir still.
Jede Begegnung mit dem Geheimnis verbirgt sich im Schweigen.
Im deutschen Begriff «Geheimnis» steckt das Wort «Heim»: ein Geheimnis behalten wir bei uns daheim, zeigen es nicht öffentlich.
Der aus dem Griechischen abgeleitete Begriff dafür, «Mysterium» ist vom Tätigkeitswort «myein» abgeleitet, das bedeutet «still bleiben» oder «den Mund halten».
Ein Mysterium, ein Geheimnis ist keine Leere, sondern die unfassbare Präsenz, die uns anrührt und uns sprachlos macht, indem sie uns Sinn erschließt.[1]
«So oft wir innehalten, sei’s auch nur für einen Augenblick, umfängt uns das Geheimnis im Schweigen.
So oft wir aus innerer Stille heraus hinhorchen auf das, was der Augenblick uns zuspricht, öffnen sich die Ohren unseres Herzens für das Geheimnis als Wort.
Und so oft wir dann durch unser Tun Antwort geben auf dieses Wort, sei es ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, dein Ding oder ein Ereignis, werden wir das unbegreifliche Geheimnis durch unser Tun verstehen, so wie wir den Tanz nur dadurch verstehen können, dass wir tanzen.[2]
Sinn wird nur mittels der Spannung zwischen Wort und Schweigen aufrechterhalten.[3]
Vom Prasseln des Feuers im offenen Kamin, vom Sommerregen vor der offenen Türe, vom Wind in den Laubkronen sagen wir «das spricht mich an».
Recht verstanden, spricht aber jedes Geräusch zu uns, wenn wir uns nur ansprechen lassen.
Jeder Laut ist Botschaft von Unaussprechlichem.
Weil er Botschaft ist, sollen wir hinhorchen lernen.
Weil hier aber Unaussprechliches laut wird, sollen wir uns nicht mühen, die Botschaft in Worte zu übersetzen.
Was uns letztlich anspricht, ist das Wort jenseits aller Worte, das Wort, das so unerschöpflich ist, dass es immer neuen Ausdruck finden will ‒ wie die Liebe.
Die Botschaft in jedem uns geschenkten Laut ist Liebesbotschaft; einmalig, unübersetzbar, ganz persönlich.
Aber auch Stille bringt uns Botschaft.
Hat uns nicht schon oft Stille angesprochen?
Manchmal kommt es mir vor, dass der Augenblick der Stille nach dem Verstummen der Orgel alle Musik noch überträfe; jenes unvergleichliche Einatmen, nachdem das allerletzte Nachhallen im Domgewölbe ausgeatmet hat.
Und diese Stille spricht uns nicht nur an, diese Stille horcht.
Auf dem Höhepunkt, wenn wir ganz Ohr sind, horcht plötzlich Stille auf unsere Stille.
Nur einen Augenblick lang können wir dieser Begegnung standhalten.
Dann beginnt das Scharren von Schuhen in den Kirchenbänken.
Wo Menschen noch hellhörig sind für die Botschaft der Laute, da sind sie auch hellhörig für Stille.
Sei es Wort oder Schweigen, worauf es ankommt, ist, dass wir uns ansprechen lassen von dem, was immer der Augenblick bringt.
Und oft bringt er Unerwartetes.
Nahe bei der Universitätsbibliothek in Berkeley ist ein Kanalgitter, unter dem es Tag und Nacht geheimnisvoll braust. Wie viele der Studenten da stehenbleiben und ehrfürchtig lauschen, weiß ich nicht. Für mich aber ist das, sooft ich vorbeigehe, ein geradezu heiliger Ort. Die ganze Musik der Welt ist in diesem Brausen. Wie es in einem altindischen Text heißt:
«Die Urmusik ist das Rauschen von Wasser.»
Ja, jeder gegenwärtige Augenblick ist Botschaft.[4]
Wort und Schweigen: Indem wir unsere Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, können wir beides als wesentliche Aspekte alles Sinnvollen unterscheiden.
Aber wir müssen noch einen dritten Aspekt erkunden: das Verstehen.
Wollen wir etwas als sinnvoll bezeichnen, setzt das Verstehen voraus.
Ohne Verstehen haben weder das Wort noch das Schweigen Sinn.
Was genau ist also das Verstehen?
Wir können es uns als Prozess vorstellen, durch den das Schweigen ins Wort kommt und das Wort, indem es verstanden wird, ins Schweigen zurückkehrt.
In der amerikanischen Umgangssprache gibt es eine eigenartige Redewendung: Wenn uns etwas ‒ sagen wir ein Musikstück oder ein bewegender Augenblick (also etwas, das «Wort» ist) ‒ recht sinnvoll erscheint, sagen wir womöglich: «This really takes me ...» oder «transports me …» oder «sends me.»[5]
Hier gibt uns die Sprache einen Hinweis. Wenn das Wort uns tief anrührt, packt es uns und schickt uns ins praktische Tun.
Paradoxerweise stimmt dabei beides: Wird das Wort verstanden, so kommt es im Schweigen zur Ruhe; aber diese Ruhe ist kein Nichtstun, sondern ein recht dynamisches Tun.
So ereignet sich also Verstehen dann, wenn wir derart bereitwillig auf das Wort hören, dass es uns zum Tun bewegt und uns dadurch ins Schweigen zurückführt, aus dem es kam und zu dem es zurückkehrt.
Durch Tun verstehen wir.[6]
Beten ist wie in einen Raum eintreten. Wie man zum Beispiel in einen Kirchenraum als Raum des Gebetes eintritt. Zunächst ist da das Gebäude, die Wände, das Gewölbe, die Bilder, die uns ansprechen wie ein Wort, das uns anspricht. Aber wenn wir uns ansprechen lassen, dann bemerken wir, dass wir von einer Stille, von einem Schweigen ganz geheimnisvoll angesprochen werden. Denn das Wesentliche an diesem Raum des Gebets ist die Stille. Und in dieser Stille begegnen wir einer geheimnisvollen Gegenwahrheit. Wir erleben, was wir die Gegenwart Gottes nennen könnten. Etwas, was uns geheimnisvoll entgegenwartet. Was etwas von uns erwartet. In jedem Augenblick erwartet diese Gegenwart etwas von uns, und indem wir antworten, verstehen wir. Erst im Tun, in liebenden Antworten verstehen wir, worum es dabei geht.
Die drei Bereiche: Wort, Schweigen und Verstehen machen die Welten des Gebetes aus. Und das hängt zusammen mit dem, was Christen die Dreieinigkeit Gottes nennen.
Denn einerseits sprechen wir von Gott, dem Urgrund des Seins, dem Abgrund des Schweigens, aus dem das Wort geboren wird, das ewige Wort, das immer neu die Liebe Gottes ausdrückt und ausspricht.
Und andererseits erfahren wir, dass wir verstehen, indem wir uns diesem Wort stellen und darauf antworten.
Man könnte fast sagen, dass Beten die Tätigkeit Gottes oder das Spiel Gottes oder der Reigentanz Gottes sei, ein Raum, in den wir als Menschen eintreten, eingebettet sind, mitschwingen, mittanzen.[7]
Da jede religiöse Tradition Ausdruck der ewigen Suche des menschlichen Herzens nach Sinn ist, zeichnen diese drei Aspekte des Sinns ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ auch die Weltreligionen aus.
Alle drei stecken in jeder Tradition, weil sie für den Sinn wesentlich sind, aber wir können damit rechnen, dass sie unterschiedliche Schwerpunkte setzen.[8]
Wenn wir die Erkenntnisse der vergleichenden Religionswissenschaft zu Rate ziehen, finden wir bestätigt, was auf den ersten Blick fast zu gut sein könnte, um wahr zu sein. Juden, Christen und Muslime finden ihren letzten Sinn im Wort. Buddhisten finden diesen letzten Sinn im Schweigen, in der Leere, die Fülle ist, im Nichts, das allem Sinn gibt. Dagegen ist das Verstehen, das Wort und Schweigen zusammenspannt, die zentrale Zielsetzung des Hinduismus.
Der Hinduismus zum Beispiel ist ein so unermesslich weiter und vielfältiger Dschungel von Religionen und Philosophien, dass man niemandem einen Vorwurf machen kann, dem es nicht gelingt, hinter all dem ein einigendes Prinzip zu finden.
Aber wenn es eines gibt, dann ist es die schon unzählige Male wiederholte Einsicht, dass der erkennbare Gott der unerkennbare Gott ist und der unerkennbare Gott der Erkennbare.
Das ist ein Verständnis in unserem Sinn: nämlich, dass das Wort Schweigen ist und dieses Wort im Schweigen zu sich selbst kommt; und wir verstehen damit, dass das Schweigen Wort sein kann, begriffenes Wort.
«Der begreifbare Gott ist der unbegreifliche Gott» ist die hinduistische Parallele zu Jesu Ausspruch: «Ich und der Vater sind eins» (Joh 10,30).
Wort und Schweigen sind eins, und sie sind eins im Geist des Verstehens und durch ihn.
Die Hindus haben fünftausend oder noch mehr Jahre damit verbracht, zwar keine Theologie des Heiligen Geistes zu entwickeln (denn Theologie gehört zum Bereich des Logos, des Wortes), jedoch das zu entwickeln, was den Platz der Theologie einnehmen muss, wenn dem Geist der Platz eingeräumt wird, den das Wort in unserem Ansatz einnimmt.[9]
Sollte uns das nicht mit der Hoffnung erfüllen, dass sich bei künftigen Begegnungen mit dem Hinduismus in den Tiefen unseres christlichen Erbes neue Quellen anzapfen ließen?
Auf ähnliche Weise konzentriert sich der Buddhismus auf eine Dimension, die zum Wort gehört, aber in der christlichen Tradition ziemlich vernachlässigt worden ist.
Bei dem, was einer Theologie des Vaters entsprechen würde (da Theo-Logie nur vom Vater handeln kann), müsste das Schweigen an die Stelle des Mediums Wort treten.
Die Buddhisten könnten uns vielleicht auf diesem Gebiet etwas beibringen.
Wenn Buddhisten von einer Tür sprechen, meinen sie damit nicht in erster Linie Rahmen, Türblatt und Angeln, wie wir das tun, sondern den leeren Raum.
Wenn Christus sagt: «Ich bin die Tür» (Joh 10,9), haben wir die Freiheit, das im westlich-christlichen Sinn zu verstehen oder im buddhistischen. Warum sollte der letztere Sinn weniger christlich sein?
Es würde nicht der Wahrheit entsprechen, wenn wir behaupten wollten, die großen Traditionen der Spiritualität verhielten sich zueinander komplementär. Ja, es wäre falsch, sich vorzustellen, sie ließen sich alle «zum Richtigen» zusammenfassen. Jede von ihnen ist «das Richtige». Sie sind nicht komplementär, sondern interdimensional:
Jede enthält jede, wenn auch mit den größtmöglichen Unterschieden bezüglich der Akzentsetzung. Daher ist jede einmalig.
Jede ist in ihrer Art auch die höchste. Wo bleibt da der christliche Anspruch auf Universalität?
Richtig verstanden, ist er nicht eine Art von kolonialem Anspruch, sondern er verweist auf innere Horizonte.
Es verlangt nicht von den anderen, sondern von uns Christen, dass wir immer und immer wieder die vernachlässigten Dimensionen unserer eigenen Tradition wiederentdecken, damit wir wahrhaft universal, also wirklich katholisch werden.
Nicht irgendeine Theorie, sondern unsere eigene Erfahrung muss der Schlüssel zum Verständnis der der spirituellen Traditionen werden, vor die wir uns gestellt sehen.
Denn wenn unsere Suche nach Sinn im Leben die Wurzel der Spiritualität ist und Glück ihre Frucht, dann sollten wir dazu fähig sein, vom Ausgangspunkt unserer uns vertrauten und sehr persönlichen Glücksmomente her Zugang zu allen ihren Formen zu finden.[10]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-4, 6-8, 10]
[Ergänzend:
1.1. Audio-Interview Das glauben wir – Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Gesamter Vortrag und Fragerunde:
(22:55) «Wenn man lang genug etwas nachgeht oder auch nur meditativ etwas anschaut ‒ eine Blume, einen Berg, eine Wolke oder sogar ein Glas Wasser einfach anschaut ‒, wenn man es still genug und ruhiggenug tut, kommt man zu dem Punkt, wo es eine Überraschung wird ‒ überraschend, dass es überhaupt etwas gibt. Und darauf führt uns diese Frage ‹Warum?› hin.
Und dann nächste Frage: ‹Was?›, ‹Was ist es?›, ‹Was ist irgendetwas?› Und immer wieder ist die große Antwort, eigentlich die letzte Antwort ‒ auch sie führt über die Dinge hinaus ‒: Es ist ein Wort, das mich anspricht.
Also wir haben das Schweigen, das die Quelle und der Ursprung von allem ist. Wir haben das Wort:
Alles, was ist, ist entweder sinnlos für mich, oder es spricht meine Sinne an und spricht mich an. Und was mich anspricht, ist in diesem Sinn Wort. Und ich kann antworten.
Und das ist das Dritte: Schweigen, Wort und Verstehen durch Antworten. Man versteht nur durch das Tun.
Welcher Lehrer weiss das nicht: Wenn man’s hört, geht’s bei einem Ohr hinein und beim andern wieder heraus, wenn man etwas sieht: Schon mehr Hoffnung, dass man’s versteht. Aber wenn die Kinder etwas tun, dann verstehen sie, was sie da getan haben. Und in diesem Sinn: durch das Tun ‒ durch das Leben verstehen wir das Leben. Durch das Tun.»
1.2. Audio-Vortrag Das Gottesbild der modernen Menschen (2009):
(20:41) Sinn finden in den drei Bereichen: Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen / (24:00) Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen in den Weltreligionen: Das Wort ‚Amen‘, die Antwort auf die ‚amunah‘, die Verlässlichkeit Gottes, in den westlichen Amen-Traditionen Judentum, Christentum und Islam / (25:21) Das Schweigen im Buddhismus und das Verstehen im Hinduismus
1.3. Im Audio: «Schweigen — Wort — Verstehen» (siehe auch Mitschrift) am Schluss des Vortrages Wie das Göttliche in uns wächst (2005) erfahren wir, wie wir uns im Gebet auf die Bewegung von Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen-durch-Tun einlassen und im «Rundtanz»[11] der Religionen mittanzen.
1.4. Audio TAO der Hoffnung (1994)
Vortrag:
(26:56) Der Tanz, die Rundbewegung vom Wort ins Schweigen und vom Schweigen ins Wort: Das Verstehen – Verstehen und Tun gehören engstens zusammen / (29:11) Wort – Schweigen – Verstehen in den Primärreligionen und die unterschiedliche Betonung in den westlichen und östlichen Religionen / (31:06) Die Blumenpredigt des Buddha – Zerreisset die Bücher – Wie schade, dass du es sagen musst / (36:08) Yoga ist Verstehen – Atman und Brahman – Krishna zu Arjuna in der Bhagavad Gita: Tu’s, dann wirst du verstehen / (41:47) ‚Das ist es!‘ in drei verschiedenen Betonungen – Der Reigentanz der Religionen von außen und von innen her betrachtet – ‚Tao‘ und ‚Amen‘: Ausklang mit dem Kanon: Alleluja, Amen
1.5. Audio-Vortrag Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(25:37) Zu diesen Augenblicken der Sinnfindung gehören die drei Dimensionen von Wort – Schweigen – Verstehen und diese Dreiheit bildet eine Art Reigentanz. Ob ein Spaziergang, Dichtung oder Musik: Wir geben uns so dem Wort hin – und Wort meint hier nicht ‹Wörter› –, dass es uns ins Schweigen führt, aus dem es kommt – Dieser Augenblick nach einem Orgelkonzert
(47:55) Die Traditionen schließen einander ein: Man kann nicht Christ sein ohne zugleich auch Buddhist und Hindu zu sein – Wie die Religionen einander ergänzen: ‹Das ist es› in drei verschiedenen Betonungen – Gott verstehen als den Unerkenntlichen (Dionysius Areopagita)
1.6. Audio-Vortrag Mit dem Herzen horchen (1988):
(43:13) Sinn finden durch Wort, Schweigen und den dynamischen Prozess des Verstehens im Tun mit Blick auf den Buddhismus, Hinduismus und das Geheimnis des dreieinigen Gottes
2.1. Im Buch: Orientierung finden (2021), 45-46:
«Schweigen, Wort und Verstehen durch Tun sind grundlegende Schlüsselwörter, die wir unbedingt brauchen, um Sinn zu finden. Jedes echte Wort muss aus dem Schweigen kommen, sonst ist es nur Geplapper. Wenn wir dieses Wort schweigend empfangen und tief darauf hinhorchen, wird es uns ergreifen und uns dazu bewegen, durch unser Tun darauf zu antworten. Dies ist es übrigens, was Gehorsam, richtig verstanden, bedeutet. Durch intensives Hinhorchen ‒ gehorchen ist ja die Intensivform von horchen ‒ zeigen wir uns bereit, zu tun, was das Wort fordert, und kommen durchs Tun zum Verständnis. So führt uns das Wort, das uns ergriffen hat, in das Schweigen zurück, aus dem es hervorgegangen ist. Kein Wunder. Es geht ja bei diesem orientierungs-Dreischritt von Schweigen, Wort und Verstehen-durch-Tun letztlich um das, worum sich alles dreht ‒ und das ist das Geheimnis.»
2.2. Im Buch Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 20:
Das Hinhorchen und Antworten, das unser geistliches Leben ausmacht, «ist Feier dreieiniger Verbundenheit: das Wort, das aus der Stille entspringt, führt im Verstehen heim in die Stille. Mein Herz ist wie ein Gefäß, das im Meer versinkt, ist voll von Gottes Leben und zugleich völlig darin eingetaucht. All das ist reines Geschenk. Meine Antwort ist Dankbarkeit.»
2.3. Im Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015), 233-235:
«Sinnsuche ist die Triebkraft, die alle Menschenherzen bewegt. Das haben wir alle gemeinsam. Sobald mir das bewusst wurde, war mir klar, worüber ich vor dem Parlament der Weltreligionen[12] sprechen müsste: Über unsere Aufgabe, die uns gemeinsame Sinnsuche besser zu verstehen; und es würde meine Aufgabe sein, gemeinsam mit meinen Zuhörern damit zu beginnen.
Jetzt begann sich auch eine klare Struktur für meinen Ansatz herauszukristallisieren.
Sinn hat immer drei Aspekte: Wort, Schweigen und Verstehen. Wenn eines von den dreien fehlt, fehlt auch Sinn.
Das müsste ich erklären im Hinblick auf die allgemeinmenschliche Erfahrung der Sinnsuche, und zwar unter den drei Gesichtspunkten von Wort, Schweigen und Verstehen.
Dass Wort und Sinn zusammengehören, leuchtet vielleicht am schnellsten ein.
Wenn wir etwas sinnvoll finden, dann sagen wir, dass es uns etwas sagt. Es ist also Wort in der weitesten Bedeutung ‒ nicht ein Wort aus einem Wörterbuch, aber doch Wort, dadurch, dass es Sinn vermittelt.
Jedes Wort aber, das wirklich sinnträchtig ist, kommt aus dem Schweigen ‒ aus dem Herzen der Stille; nur so kann es zur Stille des Herzens sprechen. (Alles andere ist nur Geschwätz.)
Weder Wort noch Schweigen können aber das ‹Aha!› der Sinnfindung auslösen, wenn Verstehen fehlt.
Verstehen ist ein dynamischer Vorgang.
Wenn wir so tief hinhorchen auf ein Wort, dass es uns in das Schweigen führen kann, aus dem es kommt, dann ereignet sich Verstehen.
Schweigen kommt zu Wort und das Wort kehrt durch Verstehen heim ins Schweigen.
Die Delegierten in Chicago waren eine buntgemischte Schar und boten einen farbenreichen Anblick ‒ von den safranfarbenen Roben der buddhistischen zu den schwarzen Soutanen der orthodoxen Mönche; von den hohen Kopfbedeckungen der ostkirchlichen Archimandriten zu den Gebetskäppchen der Rabbiner, den Turbanen der Derwische und dem Federschmuck der Indianerhäuptlinge. Während sich meine Augen an dieser großen Vielfalt weideten, wusste ich, dass unter all diesen Hüllen ein und dieselbe Sehnsucht diese Menschen hier zusammengeführt hatte und in ihren Herzen brannte: Sehnsucht nach Sinn.
Wenn jede spirituelle Tradition Ausdruck der unstillbaren Sinnsuche des Menschenherzens ist, dann müssen die drei charakteristischen Aspekte von Sinn ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ jede Religion auf eigene Art kennzeichnen. Freilich sollten wir Unterschiede in der Betonung des ein oder anderen Aspektes erwarten, und die finden wir auch tatsächlich.
In den uralten ursprünglichen Religionen ‒ z. B. in Australien, Afrika und Amerika ‒ sind die drei noch gleichbetont und eng miteinander verwoben in Mythos, Ritual und Gemeinschaftsleben.
Als aber Hinduismus, Buddhismus und die Amen-Traditionen des Westens aus der gemeinsamen ur-religiösen Matrix herauswuchsen, begann der Nachdruck immer stärker auf einen oder den anderen Bereich zu fallen, obwohl alle drei ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ in keiner Tradition ganz verloren gehen können.»
2.4. Vor 50 Jahren (1972) eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Wir werden uns also bemühen müssen um ein tieferes Verständnis menschlichen Sinnstrebens in dem dreifachen Zusammenhang von Wort, Schweigen und Ergriffenheit» im Verstehen durch Tun.» (16)
«In einem Gespräch zum Beispiel muss das Wort aus dem Schweigen kommen, sonst ist es gar kein Wort.
Im wahren Wort muss unser Herz zur Sprache kommen; das Herz als unser innerstes Zentrum, unser innerstes Schweigen, muss zu Wort kommen.
Das bedeutet, dass das Wort Ausdruck des Schweigens sein muss, sonst ist es Geplapper.
Das wahre Wort ist Ausdruck des Schweigens; es ist sozusagen schwanger mit Schweigen.
Und das Wort muss in das Schweigen heimkehren, denn wenn es nur Ohren und Gehirn erreicht, so ist noch kein wahres Verständnis zustande gekommen.
Das Wort muss ins Schweigen aufgenommen werden, so wie die Saat in die schweigende Erde fallen muss.
Das Wort muss von Herz zu Herz gehen, muss das Schweigen eines Herzens dem Schweigen eines anderen Herzens mitteilen mittels des Wortes.
Ein sinnvolles Gespräch ist also viel mehr als ein Wortwechsel. Das wissen wir alle.
Es ist Begegnung von Schweigen mit Schweigen im Wort.
So gehört das Schweigen ganz unmittelbar zu unserem Sinnerlebnis.
Wir können vielleicht sagen:
Das Wort hat Sinn, aber das Schweigen gibt Sinn.» (41)
«Solange der Mensch Mensch bleibt und Gott Gott, wird unser Streben nach Glück und Sinn diese dreidimensionale Struktur aufweisen. Wir können dabei ganz auf das Wort der Offenbarung eingestellt sein oder auf das offenbarende Schweigen oder auf das Verstehen in Gehorsam.
Es geht hier nur um verschiedene Akzente. Aber diese Akzente sind so wichtig und bringen eine solche Vielfalt der Wege hervor, dass man sich eine grössere Verschiedenheit der Möglichkeiten nicht mehr denken kann. Trotzdem ist es die eine Bewegung vom Menschen, der in dieser innersten Ausrichtung immer und überall der gleiche ist, auf den einen Gott hin, der der letzte Sinngrund ist. Von dieser Mitte her können wir beides verstehen: die Vielfalt und die Einheit der religiösen Tradition als Wege der Menschen auf der Suche nach Sinn. Wir können es von unserem persönlichen Erleben her verstehen.» (64f.)
«Unser Glaube sieht all dies im Lichte der Dreifaltigkeit. Für uns Christen sind die Wege des Menschen auf der Suche nach dem tiefsten Sinn nur im Lichte des trinitarischen Geheimnisses verständlich.» (65)
«Weil die Menschheit im Suchen nach letztem Sinn bewusst oder unbewusst immer auf den dreieinigen Gott verwiesen wird, spiegelt sich das Geheimnis der Dreifaltigkeit im Verhältnis der großen Religionen zueinander.» (48)]
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[1] Auf dem Weg der Stille (2016): Kp. 9: «Unsere Suche nach dem letzten Sinn», 122-124; siehe auch im Buch Ein Garten voll Glück (2019) unter dem Titel: Suche nach dem Sinn
[2] Orientierung finden (2021), 113
[3] Auf dem Weg der Stille (2016), 124
[4] Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 61-63
[5] In etwa: «Das packt mich richtig, … nimmt mich mit, … schickt mich los.» [Anm. d. Ü.]
[6] Auf dem Weg der Stille (2016), 29f.
[7] Video Wort & Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992), transkribiert von Werner Binder †. Die Transkription erschien im Buch Staunen und Dankbarkeit (1996), 138-147 unter dem Titel: «Teilnahme am göttlichen Leben»
[8] Auf dem Weg der Stille (2016), 30
[9] «Um das an mich gerichtete Wort, das Wort, das ich zugleich bin, zu verstehen, muss ich die Sprache des Einen, der mich anspricht und ausspricht, sprechen. Wenn ich Gott überhaupt verstehen kann, so ist dies nur möglich, weil Gott mir am Geist des göttlichen Selbstverständnisses Anteil schenkt.» [Die Achtsamkeit des Herzens, 19f.] [Bruder David macht immer wieder auf 1 Kor 2,10-16 aufmerksam.]
[10] Auf dem Weg der Stille (2016): Kp. 9: «Unsere Suche nach dem letzten Sinn», 126-129
[11] «Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen. Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens. Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz..» [Jesus als Wort Gottes, in: Die Frage nach Jesus (1973), 66]
[12] «Mehr als acht tausend Menschen hatten sich in Chicago zusammengefunden, um an dem Parlament der Weltreligionen im August 1993 teilzunehmen. Von der ganzen Welt kamen sie als Abgeordnete einer großen Vielfalt religiöser Traditionen. Mit dem ersten Parlament der Weltreligionen 1893 war Chicago zum Geburtsort des weltweiten interreligiösen Dialogs geworden, der damals etwas Unerhörtes war. Seitdem hatte dieser Austausch nach und nach Schwung gewonnen, aber erst jetzt, hundert Jahre später, war die Zeit reif für ein zweites solches Treffen. Jetzt war dieser historische Augenblick gekommen. Und da war ich nun, ganz überwältigt von der Ehre, zu diesem Ereignis beitragen zu dürfen. Spannung lag in der Luft. Die Frage, worüber ich vor einer so achtunggebietenden Zuhörerschaft sprechen sollte, ließ mich in dieser Nacht nicht schlafen.» [Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015), 232]
Sinn und Feier
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Wir Menschen werden keinen Frieden finden, solange wir in unserem Leben keinen Sinn finden können. Sinn ist das, worin unser Herz Ruhe findet. Sinn wird gefunden, nicht durch harte Arbeit erworben. Er wird einem immer als reines Geschenk zuteil. Und dennoch müssen wir unserem Leben Sinn geben. Wie ist das möglich? Durch Dankbarkeit. Dankbarkeit ist die innere Haltung, durch die wir unserem Leben Sinn geben, indem wir das Leben als Geschenk empfangen. Was jeden gegebenen Augenblick sinnvoll macht, ist, dass er gegeben ist. Dankbarkeit erkennt diesen Sinn, anerkennt und feiert ihn.[1]
Das mönchische Bestreben wird oft missverstanden als eine Bemühung, überfromm und heiliger zu sein als andere. In Wirklichkeit ist das Grundprinzip des Mönchstums die Bemühung, einfach im Jetzt leben.
Das Kloster ist ein Ort, wo es einem leicht gemacht wird, im Hier und Jetzt zu sein. Alles ist darauf hin angeordnet. Dem natürlichen Rhythmus der Stunden des Tages zu folgen, ist dabei eine große Hilfe. Mönche wissen immer, was sie zu einer bestimmten Zeit zu tun haben. Im Augenblick, in dem die Glocke läutet, lassen sie fallen, was sie in Händen haben, und tun das, wozu es jetzt Zeit ist. Sie wenden sich der neuen Aufgabe bereitwillig und offen zu, weil diese Stunde wie ein Engel ist, der sie ruft und herausfordert zur Antwort, die diesem Augenblick entspricht.
Das zu tun, ist im Kloster leichter als anderswo. Die Haltung, die dahinter steht, können wir aber in jeder Lebenslage zu verwirklichen versuchen. In dem Maß, in dem uns das gelingt, werden wir glücklich.
Der Dichter Rainer Maria Rilke reiste um die Jahrhundertwende in Russland umher und war sehr vom mönchischen Leben beeindruckt, das er dort vorfand. Wie viele, die selbst weder die Neigung haben noch die Berufung verspüren, Mönch zu werden, berührte der Archetyp des Mönchs den jungen, 25jährigen Mann dennoch zutiefst. Er schrieb eine Reihe von Gedichten unter dem Titel «Das Stunden-Buch», und nannte es wie das Buch, aus dem die Mönche in den Gebetsstunden singen.
Im allerersten Gedicht dieser Sammlung beschreibt er, wie die von der Klosterglocke angekündigte Stunde sich neigt und den Dichter berührt, der ausruft: «Mir zittern die Sinne.»[2]
Unsere Sinne mögen wohl zittern, wenn wir uns öffnen und zulassen, dass eine Stunde, eine Zeit, die für uns reif ist, uns wirklich berührt.
Die Glocke erweckt uns zum Jetzt und fordert uns auf, das zu tun, wofür es Zeit ist, weil es jeden Moment Zeit ist, etwas zu tun, auch wenn es bloß Zeit zum Schlafen ist.
Ein altes Motto lautet: «Age quod agis» ‒ «Tue, was du tust.»
Freiheit liegt darin, das, was du tust, wirklich zu tun. Gehorsam ist keine Einschränkung, es ist ein liebevolles Zuhören und eine Antwortbereitschaft.
Die liebevolle Antwort auf die Aufforderung eines jeden Augenblicks befreit uns aus der Tretmühle der Uhrzeit und öffnet eine Tür ins Jetzt.
Der Gesang lehrt uns noch etwas anderes über das Leben in der Gegenwart. Von einem pragmatischen Gesichtspunkt aus ist er eine nutzlose Aktivität, er vollbringt nichts.
Wir sind derart auf das Nützliche ausgerichtet, dass wir das Sinnvolle vergessen, das unserem Leben Freude, Tiefe und Wert verleiht.
Musikhören oder Singen heißt etwas tun, was keinem praktischen Zweck dient. Es ist nur Feiern und Lobpreisen, es heißt nur, die Freude und Schönheit des Lebens, die Herrlichkeit Gottes zu kosten.
Musik sogar mitten in einem ganz zielgerichteten Tag anzuhören, erinnert uns daran, unserer Erfahrung eine andere Dimension hinzuzufügen, die Dimension des Sinnes, die das Ganze der Mühe wert macht.
Sich auf die Gesänge einzulassen, kann eine Art nüchterner Ekstase auslösen. Ekstase heißt wörtlich außerhalb von sich stehen.
Wenn wir singen oder Gesängen zuhören, haben wir Zugang zu jener Dimension, die außerhalb der Zeit ist: dem Jetzt.
Paradoxerweise brechen wir aus der Uhrzeit genau dann aus, wenn wir ganz im Augenblick sind.
Der Augenblick und die Ekstase gehören zusammen: Wenn wir wirklich hier, jetzt, in diesem Augenblick sind, dann sind wir ganz spontan auch ekstatisch.
T. S. Eliot spricht von «Musik, so innig gehört, dass sie nicht gehört wird, weil man selbst die Musik ist, solange sie forttönt.»[3]
Und in dieser Erfahrung sieht er einen Aspekt vom «Augenblick in und außer der Zeit».[4]
Wenn wir lernen, die beiden miteinander zu verbinden und in und außer der Zeit zu leben, dann lassen wir aus der Polarität zwischen Zeit und Jetzt, zwischen Augenblick und Ekstase eine schöpferische Spannung entstehen.
Dank dieser inneren Einstellung können wir ein volles und schöpferisches Leben leben.[5]
Muße ist ein oft missverstandener Begriff. Verwechseln wir nicht allzuoft Muße mit Müßiggang? Muße ist aber keineswegs Untätigkeit. Wie könnten wir sonst mit Muße arbeiten? Und wir wissen doch, dass die beste Arbeit in Muße geleistet wird. Diese echte Muße ist aber die Ausgewogenheit zwischen Arbeit und Spiel.
Heute gibt es mehr und mehr Freizeit und weniger und weniger Feierabend und Muße. Aber warum fällt es uns so schwer, uns der Muße und Feier hinzugeben?
Hier liegt der springende Punkt. Wir wagen es einfach nicht, uns ergreifen zu lassen.
Aber Feier ist ergreifend; und so flüchten wir vor dem Feierabend in ununterbrochene Geschäftigkeit. Wir wagen es nicht, uns ansprechen zu lassen.
Aber alles, was wir mit Muße tun, wird ansprechend; und so flüchten wir uns in Geschäftigkeit ohne Muße, in Zweckgerichtetheit, die sich dem Sinn verschließt.
Ist es nicht offensichtlich, wie unmittelbar hier unser tägliches Erleben an das große Thema von Wort und Sinn rührt?
Es scheint zunächst, als ob dieses öffnen für den Sinn, der uns in jedem Ding, in jeder Begegnung und in jedem Ereignis anspricht, das Alleransprechendste sein sollte, das Allerschönste, das Allererfreulichste.
Warum fällt es uns dann so schwer, uns packen zu lassen? Warum wollen wir immer ständig alles selber anpacken? Warum wollen wir alles begreifen, anstatt uns auch zugleich ergreifen zu lassen?
Die Antwort liegt darin, dass Feier immer Wagnis ist, und wir sind einfach zu feig.
Solange wir die Angelegenheit in der Hand behalten, solange wir begreifen, kann uns nicht viel geschehen. Das einzige, das uns dabei nicht so angenehm ist, ist die Tatsache, dass es sehr bald schrecklich langweilig wird; denn in einer Welt, wo alles unter Kontrolle steht, schleicht sich die Langeweile sehr bald ein. Man weiß ja schon, was kommt. ‒ Wir beginnen darum, ein bisschen unseren Griff zu lockern! Wir beginnen, der Welt zu erlauben, uns zu berühren, uns anzusprechen, uns etwa gar zu packen. Und da beginnt das Abenteuer. Es wird ungemein interessant; sofort aber wird es auch gefährlich. Was wäre denn Abenteuer ohne Gefahr? Im Augenblick aber, wo wir der Gefahr dieser Feierhaltung gewahr werden, versperren wir uns wieder und nehmen wieder alles fest in die Hand.
Unser ganzes geistliches Leben als Suche nach Sinn, als Suche nach Glück hängt daran, wieweit wir fähig sind, uns ergreifen zu lassen, während wir zu begreifen suchen.
Die Sicherheit, die wir uns oft vortäuschen, wenn wir alles fest in der Hand halten, ist ja eigentlich keine Sicherheit, sondern eine Scheinsicherheit. Es ist die Sicherheit dessen, der sich vor dem Ertrinken sicher meint, weil er nie dem Wasser nahe kommt. Aber es kann ja geschehen, dass das Wasser ihm nahe kommt. Wer schwimmen lernt, lebt viel sicherer, nur bedeutet das, dass man sich zunächst einmal dem Wasser aussetzen muss und das ist die Sicherheit, die wir eigentlich anstreben, wenn wir nach Glück suchen: die Sicherheit des Schwimmers, in der Abenteuer und Kontrolle in eins verschmelzen.
Das Wagnis der Feier liegt darin, dass wir uns dem, was uns ergreift, aussetzen; dass wir uns dem Worte stellen, dem Worte im weitesten Sinn, der Welt als Wort, das an uns persönlich jetzt und hier gerichtet ist; dass wir uns jeder geschichtlichen Situation, jeder menschlichen Begegnung als einem Wort steilen, uns öffnen für den Sinn des Lebens, der über allen Zweck hinausgeht.[6]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1 und 5f.]
[Ergänzend:
1. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Audio «Spiritualität und Ökologie»: Pater Johannes und Bruder David im Dialog:
(45:47) Feste feiern: tanzen, singen, spielen, essen und unsere Widerstände: Das Gleichnis vom Festmahl (Lk 14,15-24) ‒ Sabbat: Feierabend und die Eucharistie
2. Im Buch Orientierung finden (2021), 98f.; siehe auch: Impulskontrolle finden (2022):
«Auch wir werden also Zeiten stillen Ausruhens in unsren Alltag einbauen wollen ‒ wenn auch noch so kurze Zeiten, in denen wir alle unsre Bildschirme ausschalten. Vielleicht gelingt es uns, wenigstens am Ende unsres Werktags einen klaren Schlussstrich zu ziehen nach all dem eilenden Treiben, um Dingen von bleibendem Wert den Abend zu weihen.
Mir selber ist dies äußerst wichtig geworden. Als Autor hatte ich die Gewohnheit, wenn ich zu müde wurde, mit ‹Hier morgen weitermachen› im Text anzumerken, wie weit ich gekommen war.
Dann kam mir eines Tages der Einfall, stattdessen das Datum hinzuschreiben und das Wort ‹Feierabend›.
Es erstaunt mich noch heute, welche Freude mir immer wieder dieses wunderschöne Wort ‹Feierabend› schenkt.
Schon wenn ich es niederschreibe, beginne ich, den Abend jetzt wirklich mit Muße zu feiern.»
3. Im Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015), 233-235:
«Hier beim Parlament der Weltreligionen[7] zeigte sich mir aber etwas Wichtiges: Spiritualität ist nicht nur ein Suchen nach Sinn, sie ist ebenso Feier von Sinn. Jeder dieser wundervollen Tage in Chicago brachte neue Feiern und Festlichkeiten, in denen die Schönheit einer Tradition nach der anderen zum Leuchten kam. Das Bild eines prachtvollen Reigentanzes[8] drängte sich mir dabei auf und ich entschied mich, es in meiner Ansprache zu verwenden.»
4. Vor 50 Jahren (1972) eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Wenn Sie jetzt an eine Situation denken, in der Ihnen plötzlich der Sinn von etwas einleuchtet, vielleicht zum ersten Mal ‒ wo kommt da das Begreifen herein? Packen wir dann wirklich etwas an, oder packt es uns?
Bernhard von Clairvaux sagt so schön:
‹Begriffe machen wissend; Ergriffenheit macht weise.›
Es handelt sich um Ergriffenheit, wenn wir uns dem Sinn einer Situation, eines Wortes, einer persönlichen Begegnung stellen.
Wir sagen auch: es rührt mich an, es bewegt mich, es packt mich, ich bin ergriffen.
Die Frage, wie man es anpacken soll, wird hier gar nicht aktuell. Man kann das ganz leicht an irgendeinem kleinen Beispiel illustrieren, etwa an dem Beispiel einer Kerze.
Es gibt so viele Kerzen in den Schaufenstern, dass man sich schon wundert, ob es überhaupt noch elektrisches Licht gibt. Und dabei müssen wir das elektrische Licht abschalten, um die Kerzen überhaupt würdigen zu können; also sind sie nicht so besonders zweckdienlich.
Warum sind sie dann so gesucht und beliebt?
Weil sie sinnvoll sind; weil uns das Kerzenlicht anrührt.
Ja, wenn man eine Kerze machen will, dann muss man wissen, wie man es anpackt. Wenn man aber den Sinn einer Kerze erfahren will, muss man nur einfach hinschauen; man muss die Kerze etwas tun lassen; man muss es der Kerze erlauben, dass sie einen ergreift und ich glaube, dass wir uns so sehr an Kerzen freuen, weil sie so überflüssig sind.
Es gibt schon zuviel Nützliches, zuviel Zweckgerichtetes.
Was uns wirklich etwas bedeutet, ist oft das Überflüssigste.
Ist Tanzen zweckdienlich oder Dichten oder die Musik dieser schönen Stadt, die noch nachschwingt in den steinernen Überflüssen von Torbögen und Balustraden?
Ist nicht der Zweck aller Arbeit letztlich das, was über allen Zweck hinausgeht, der Überfluss von Spiel und Feier?»]
___________________
[1] Schlüsselwort SINN, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 183 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 184]
[2] Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann -
und ich fasse den plastischen Tag.
Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.
Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los...
Mit diesem Gedicht eröffnet Rilke Das Stunden-Buch.
[3] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V, in: Stillhalten
[4] Ebd.
[5] Musik der Stille (2023), 23-26
[6] Vortrag Jesus als Wort Gottes (1972), abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 13f.
[7] «Mehr als acht tausend Menschen hatten sich in Chicago zusammengefunden, um an dem Parlament der Weltreligionen im August 1993 teilzunehmen. Von der ganzen Welt kamen sie als Abgeordnete einer großen Vielfalt religiöser Traditionen. [Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015), 232]
[8] «Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen. Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens. Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz..» [Vortrag Jesus als Wort Gottes, in: Die Frage nach Jesus (1973), 66]
Sinn und Zweck
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
So wie ich den Begriff «religiös» benutze, bezieht er sich auf die Suche nach dem letzten Sinn des Lebens.
Der Tod muss dabei offensichtlich eines der wichtigen Elemente sein, weil er ein Ereignis ist, das den ganzen Sinn des Lebens in Frage stellt.
Wir können beschäftigt sein mit zweckvollen Tätigkeiten, mit der Erledigung von Aufträgen, mit dem Durchführen von Arbeiten ‒ und plötzlich kommt der Tod daher ‒ sei es unser endgültiger Tod oder einer der vielen Tode, durch die wir Tag für Tag gehen.
Der Tod konfrontiert uns mit der Tatsache, dass ein zweckerfülltes Leben nicht genug ist. Wir brauchen Sinn, um wahrhaft zu leben.
Wenn wir dem Tod nahe kommen, und alles was auf Zweck abzielt, uns aus den Händen gleitet, wenn wir die Dinge nicht länger manipulieren und kontrollieren können, um bestimmte Ziele zu erreichen ‒ kann dann unser Leben noch sinnvoll sein?
Wir tendieren dazu, Zweck und Sinn gleichzusetzen, und wenn der Zweck wegfällt, stehen wir da ohne Sinn.
Hier liegt also die Herausforderung: wie kann es, wenn alles Streben nach Zweck zu einem Ende kommt, doch noch Sinn geben?[1]
Was ist also Sinn? Was meinen wir, wenn wir von Sinn sprechen?
Sinn ist zunächst das Ziel des Nachsinnens, das Ziel des Sinnens; und Sinnen, das Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung (es ist ein sehr altes Wort in der deutschen Sprache) heißt Auf-dem-Weg-Sein.
Der Sinn ist also das, worin wir zur Ruhe kommen; das Ziel des Auf-dem-Weg-Seins ist das Zur-Ruhe-Kommen.
Der Sinn ist das, worin wir daheim sind.
Wenn etwas für uns Sinn hat, dann sind wir darin zur Ruhe gekommen.
Das brauchen wir nicht weiter zu erörtern, das kann auch nicht weiter bewiesen werden. Wir alle erfahren Sinn im Erlebnis des Daheimseins.
Dem Sinn ist der Zweck gegenüberzustellen.
Zweck ist ein ganz anderes Wort, obwohl wir häufig Sinn mit Zweck verwechseln. Zweck ist auch Ziel, aber von Tätigkeit, nicht von Sinnen, nicht von Nachsinnen. Zweck ist Zielpunkt einer Tätigkeit. Das Wort Zweck hat ursprünglich Nagel bedeutet. Wir haben heute noch das Wort «Zwecke» für Nagel. Den Nagel auf den Kopf zu treffen, das ist der Zweck einer Tätigkeit. Tätigkeit führt aber zu weiterer Tätigkeit, nicht zu der Ruhe des Daheimseins, wo wir Sinn finden.
Es gibt nämlich sinn-volle und sinn-lose, ja sogar widersinnige Tätigkeit.
Eine Tätigkeit wird erst dadurch sinnvoll, dass wir in ihr Sinn finden.
Sinn finden wir aber nicht durch Nachdenken, sondern durch Nachsinnen.
Das Denken ist dem Handeln gegenübergesetzt, aber das Sinnen steht im Gegensatz zu dem Sich-im-Handeln-Verlieren.
Denken und Handeln als solche sind wertfrei. Ich kann richtig oder irrig denken, ich kann lebensfördernd oder lebensstörend handeln.
Sinnen hat jedoch immer eine positive Bedeutung.
Und was dem Sinnen gegenübersteht, hat immer eine negative Bedeutung: sich im Handeln verlieren.
Wir sollten bedenken, wie eng Sinnoffenheit und Sinnfreudigkeit mit spielerischem Nachsinnen zusammenhängen. Wie wichtig ist es also Kindern die Sinnenfreudigkeit, die Sinnoffenheit nicht zu nehmen, sondern sie bewusst zu fördern.
Wie spielend werden sie dann Sinn finden.
Wir denken mit dem Kopf, wir sinnen mit dem Herzen.
Wir sinnen als ganze Menschen, daher auch mit dem Kopf.
Das ist kein Widerspruch. Herz im vollen Sinn bedeutet den ganzen Menschen, nicht nur den Kopf, aber auch nicht nur die Gefühle, sondern Denken, Fühlen, Wollen ‒ Leib, Seele, das ganze menschliche Wesen.
Wenn wir so vom Herzen sprechen, im traditionellen Sinn des Wortes, dann bedeutet Herz: unsere Mitte, unsere innerste Mitte, unsere paradoxe Mitte.
Paradox, weil im Herzen die Widersprüche am deutlichsten werden, aber zugleich überbrückt sind.
Augustinus ist bekannt durch zwei Sätze, die dieses Paradox des Herzens ganz deutlich aussprechen; sie scheinen in Widerspruch zueinander zu stehen.
Einerseits sagt er: In meinem innersten Herzen ist Gott mir näher als ich mir selbst bin, weil Gott das Selbst meines Selbst ist.
Aber derselbe Augustinus sagt andererseits, und dieses Wort ist noch besser bekannt: Ruhelos ist unser Herz bis es Ruhe findet in dir, o Gott.
Nur in Gott, als dem Urquell von Sinn, findet unser rastloses Herz Ruhe.
Das Paradox des Menschenherzens drückt sich aus im scheinbaren Widerspruch zwischen diesen beiden Sätzen des großen Heiligen.
Daheimsein in Gott und immer auf der Suche sein nach Gott; in dieser Spannung erfahren wir Gott, erfahren wir das Leben, leben wir das Paradox.
Und im Paradox erfahren wir Sinn.
Paradox ist das, was der allgemein üblichen Meinung widerspricht. So widerspricht es der allgemein üblichen Meinung, dass Sinnen über Denken hinausgeht. Es ist aber so, weil Leben über Logik hinausgeht.
Leben widerspricht zwar nicht der Logik, geht aber weit über sie hinaus.
Lebenswahrheit geht über das nur Logisch-Richtige hinaus und Lebenswahrheit finden, heißt Sinn finden.[2]
Um unseren Zweck zu erreichen, ganz gleich was es sei, müssen wir die Situation beherrschen, die Sache in die Hand nehmen, die Dinge in den Griff bekommen. Wir müssen Kontrolle ausüben.
Gilt das auch für eine Situation, in der du tiefen Sinn erfährst? Du wirst feststellen, dass du Worte gebrauchst wie «berührt», «bewegt», ja selbst «fortgerissen werden» von dem Erlebnis.
Das hört sich nicht so an, als würdest du das Geschehen kontrollieren. Vielmehr hast du dich dem Erlebnis überantwortet, es hat dich fortgetragen, und nur so hast du in ihm Sinn gefunden. Wenn du die Kontrolle nicht übernimmst, wirst du Ziel und Zweck nicht erreichen; wenn du dich andererseits nicht hingibst, wirst du Sinn nie erfahren.
Es besteht eine Spannung zwischen diesem Kontrolle-Übernehmen und Sich-dem-Sinn-Hingeben. Diese Spannung zwischen Geben und Nehmen ist die Spannung zwischen Sinn und Zweck, zwischen Schau und Tat. Lassen wir diese Spannung zerreißen, dann polarisiert sich unser Leben. Eine kreative Spannung aber aufrechterhalten ist anstrengend. Es erfordert von uns eine Hingabe, die uns schwerfällt.
Warum schwer? Weil sie Mut erfordert. Solange wir die Kontrolle haben, fühlen wir uns sicher. Lassen wir uns aber hinreißen, dann ist nicht zu sagen, wohin das führen wird. Wir wissen nur, dass das Leben abenteuerlich wird. Zum Abenteuer aber gehört Wagnis.[3]
Wir tanzen nicht, um irgendwo anzukommen. Tanzen bezweckt nichts.
Es ist zweckfrei, aber sinnvoll.
Und doch zielen wir beim Tanzen auf etwas ab: Wir wollen der Musik den bestmöglichen Ausdruck verleihen und perfekt im Schritt sein, jetzt und jetzt und jetzt.
Beim Tanz dreht sich alles um die Gelegenheit, Augenblick für Augenblick im Schritt zu sein mit denen, die uns am nächsten stehen im Kreis, und durch sie mit allen Tänzern in eine Wechselwirkung zu treten.
Das Ziel ist, völlig eins zu werden mit Rhythmus und Harmonie des Tanzes.
Tanz aber ist hier Sinnbild für Wandel und den Gang des ganzen Universums.[4]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-4]
[Ergänzend:
1.1. Audio Wie wir sinnvoll leben können in der Advents- und Weihnachtszeit (2011):
(06:43) Sinn ist etwas ganz anderes als Zweck: Sinn ist das, worin wir Ruhe finden / (10:51) Sich berühren lassen im Jetzt in Arbeit und Spiel, hören, gehört werden, zugehören
1.2. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 3:
(09:16) «Die tiefste Unruhe zielt nicht auf Zweck hin, sondern auf Sinn.»
1.3. Audio-Vortrag Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsreferat:
(12:17) Das Herz, das ins Ganze Geborne (Rilke) – Schau auf das Ganze, rühme das Ganze (Augustinus) – Sinn, Zweck, Spiel
1.4. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Im Paradoxen Sinn erfahren:
(02:18) Sinn im Erlebnis von Daheimsein / (03:07) Sinn dem Zweck gegenüberstellen / (04:02) Nachsinnen im Unterschied zu Nachdenken ‒ Bedeutung von Sinnenfreudigkeit, Sinnoffenheit / (05:08) Im Herzen sind wir allein und zugleich all-eins / (07:55) Daheimsein in Gott und immer auf der Suche nach Gott (Augustinus) / (09:37) Sinnen geht über das Denken hinaus
1.5. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag:
(30:50) Unser Ringen um Sinn ‒ Spannung zwischen Sinn und Zweck: wir sind gefangen in Zweckhaftigkeit
2. SINN, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 164:
«Sinn und Zweck sind zwei Begriffe, die bei schlampigem Sprachgebrauch oft verwechselt werden. Solche Nachlässigkeiten im Reden drücken unklares Denken aus und führen zu verwirrtem Tun. Präziser Wortgebrauch ist daher für unsre Orientierung wichtig.
Zweck gehört zum Bereich der Arbeit, Sinn aber zum Bereich des Spiels.
Wir arbeiten, um einen Zweck zu erreichen. Das Spiel aber ist sinnvoll, ohne etwas bezwecken zu müssen. Es ist sich selbst Zweck genug, hat also Sinn. Sobald die Arbeit ihren Zweck erreicht, ist sie zu Ende. Das Spielen hingegen kann weitergehen, solange es uns Freude macht: Denn sinnvolles Tun ruht in sich selbst.
In einem ausgewogenen, erfüllten Leben gilt es, Zweck und Sinn im Gleichgewicht zu halten. Diese Ausgewogenheit erreichen wir nicht einfach durch abwechselndes Arbeiten und Spielen, sondern erst dadurch, dass wir nur sinnvolle Arbeit tun ‒ Arbeit also, die es wert ist, um ihrer selbst willen getan zu werden. Sonst kann es geschehen, dass wir die höchste Sprosse unsrer zweckgerichteten Arbeitsleiter erklimmen und uns plötzlich fragen müssen: ‹Was ist eigentlich der Sinn all meiner Bemühungen›?
Wenn wir nach dem hier Gesagten nun nach dem Sinn des Lebens fragen, so ergibt sich die überraschende Antwort, dass es Spiel sein muss ‒ ‹Lila› nennt es der Hinduismus ‒ der große Tanz.»
3. Der Mönch in uns (1978) [derselbe Text, aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernardin Schellenberger, in: Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 3 «Der Mystiker in uns», 43-63]:
Im Kind gibt es eine Sehnsucht nach Sinnfindung, «eine Offenheit für den Sinn, die durch unsere Zweckorientierung droht verlorenzugehen oder überschattet zu werden.
Ich sollte wohl gleich zu Anfang feststellen, dass ich dabei nicht versuche, ‹Zweck› gegen ‹Sinn› oder ‹Sinn› gegen ‹Zweck› auszuspielen.
Aber in unserer Zeit und in unserer Kultur sind wir derart vom ‹Zweck› in Anspruch genommen, dass man tatsächlich dazu gezwungen wird, die Bedeutung der Dimension des ‹Sinns› überzubetonen; sonst bekommt das Schiff Schlagseite.
Wenn Sie also meinen, dass der Sinn hier außergewöhnlich stark betont wird, so geschieht das nur, um einen Ausgleich zu schaffen.» (44f.)
4. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Was den Menschen wirklich glücklich macht, ist nur eines: Sinn. Was immer wir aber sinnvoll nennen in diesem oder jenem Zusammenhang ist nur deshalb für uns sinnvoll, weil wir es letztlich in einem tiefsten Sinnbereich verankert wissen. Diese tiefste Sinngebundenheit der menschlichen Existenz aber ist Religion, ob wir es ausdrücklich so nennen oder nicht.
Wenn wir im folgenden vom religiösen Streben des Menschen sprechen, so soll darunter zunächst ganz allgemein die Suche nach dem Sinngrund menschlicher Existenz verstanden sein, unser Hunger nach letztem Sinn, wie wir ihn erleben in unserem unbestreitbaren Hunger nach Glück.
Nur müssen wir jetzt klar zwischen Sinn und Zweck unterscheiden. Ein Grund, warum wir so oft fehlgehen (nicht nur in unseren Erwägungen, sondern auch in unserem Leben), ist ja der, dass wir Sinn und Zweck so leicht verwechseln. Oft drückt sich das in unserer Alltagssprache aus: Wir sagen Sinn, wo wir eigentlich Zweck meinen; diese Ungenauigkeit der Ausdrucksweise drückt ja nur eine Ungenauigkeit des Denkens aus.
Es würde auch nicht sehr viel helfen, wenn ich nun versuchen wollte, irgendwelche Definitionen von Sinn und Zweck zu geben. Diese Frage ist so zentral, dass wir versuchen müssen, Sinn und Zweck in einer ganz persönlichen Weise zu verstehen.
Und so muss ich Sie einladen, selber darüber nachzudenken oder ‒ noch besser ‒ dem nachzufühlen, wie Sie sich in einer Situation verhalten, die ausdrücklich zweckgerichtet ist, und wie Sie sich innerlich zu einer Situation stellen, die ausdrücklich sinnbezogen ist.» (10f.)]
_____________________
[1] Sterben lernen (2005)
[2] Im Paradoxen Sinn erfahren im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 59-61, anlässlich der 38. Internationalen Werktagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989); siehe auch Ergänzend 1.4.
[3] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015), 63f.]: «Kontemplation und Muße», 65; siehe auch ST 77f. unter dem Titel «Kontrolle»
[4] Orientierung finden (2021), 12
Sinne und Kind werden
Video, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.[1]
Kreuzweg unserer Sinne ist das Herz.
Herz bedeutet den Schnittpunkt unserer geistigen und unserer leiblichen Wirklichkeit.
Herz bedeutet jenen Mittelpunkt unserer individuellen Innerlichkeit, wo wir zugleich eins sind mit allen anderen Menschen, Tieren, Pflanzen ‒ mit dem ganzen Kosmos.
Die Sinnschau des Herzens beginnt mit dem genauen Hinschauen der Augen. Wenn wir Sinn finden wollen im Leben, so müssen wir mit den Sinnen beginnen.
Um mit dem Herzen horchen zu lernen, müssen wir zuerst lernen, mit den Ohren wirklich zu lauschen. Und so mit allen Sinnen.
Wie aber sollen wir dies angehen? Aus meiner eigenen Erfahrung glaube ich, drei Schritte unterscheiden zu können, die vielleicht Allgemeingültigkeit besitzen.
Den ersten Schritt nenne ich «Kindliche Sinnlichkeit», eine Haltung, die wir als Kinder besitzen, die wir aber im späteren Leben erst wieder erwerben müssen. Wesentlich daran ist das ungetrübte Vertrauen, mit dem wir uns dem Sinnlichen hingeben.
Diese Hingabe führt uns, wenn sie echt ist, zu einer Begegnung: Überrascht begegnen wir ‒ ich kann es nicht besser ausdrücken ‒ einem Gegenüber, das sich uns gibt, in dem Maß, in dem wir uns selber geben.
Diesen Schritt möchte ich mit Rilkes oben angeführten Ausdruck «Die seltsame Begegnung» nennen.
Im dritten Schritt wird uns zur Erfahrung, dass das ganz andere, das unseren Sinnen da begegnet, zugleich unser eigenstes Selbst ist. Wir sind selber der Sinn dessen, was wir sinnlich erfahren. Wenn uns das klar wird, erst dann finden wir durch unsere Sinne Sinn.
Sinn wird, wenn wir selber Sinn werden. Beides klingt an, wenn wir diesen dritten Schritt «Sinnwerdung» nennen.
Scheint das allzu philosophisch? Wir dürfen uns nicht abschrecken lassen. In Wirklichkeit ist es ganz einfach. In unserer Kindheit waren uns diese drei Schritte durchaus vertraut, wenn wir auch nicht darüber nachdachten. Wenn der Dichter sagt:
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraut am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
so ist das unserem Herzen verständlich, wenn unser Verstand auch nachhinkt.
Sobald wir aber nur einmal damit anfangen, führt schon ein Schritt zum nächsten. Wir dürfen uns da auf unser eigenes Erleben verlassen. Darauf kommt es ja schließlich an.
Die meisten von uns sind mehr Augen- als Ohrenmenschen. Wir stoßen also wohl auf den geringsten Widerstand, wenn wir die Beispiele für unsere drei Schritte zunächst aus dem Bereich des Schauens wählen.
Gewöhnung und Übersättigung machen es andererseits gerade unseren Augen schwer, kindliche Frische zu bewahren.
Vielleicht bemerken das schon die Kinder. Sie unterhalten sich manchmal damit, Daumen und Zeigefinger zum Rahmen eines Guckloches zu machen, durch das die Welt auf einmal ganz anders aussieht. In den entlegensten Teilen der Welt erfinden Kinder dieses Spiel offenbar immer wieder von neuem. Dahinter steckt die Tatsache, dass ein ungewohnter Ausschnitt des allzu oft Gesehenen uns überraschend neu erscheinen kann.
Es gibt da in Spielwarenhandlungen neuartige Kaleidoskope, die nicht in einer Mattscheibe mit bunten Glasstückchen enden, wie die altmodischen, sondern in einer Linse. Man kann sie also wie ein Fernrohr ringsum auf Gegenstände richten, die dann die Prismen im Rohr zu sechs- oder achteckigen Sternen umgestalten. Plötzlich ist uns die alltägliche Umwelt verzaubert. Wir sehen sie wie zum ersten Mal.
Noch einfacher lässt sich das erreichen, indem wir in ein Blatt Papier ein winziges Guckloch stechen. Da brauche ich nur auf meine eigene Hand zu schauen. Weil ich nun nicht mehr die ganze Hand in den Blick bekomme, ja nicht einmal einen ganzen Finger, lässt sich, was ich sehe, nicht mehr einfach mit «Hand» oder «Finger» abtun. Was ist das denn eigentlich, dieses knollig gerunzelte Braune mit ein paar borstigen Haaren? In dem Bruchteil eines Augenblickes, bevor mir «Fingergelenk» in den Sinn kommt, habe ich endlich einmal wirklich hingeschaut.
Das lässt sich lernen. Und das Lernen wird uns Spaß machen, sobald das Kind in uns nur einmal wach wird.
Nichts ist wichtiger als das. Nur wenn wir das Kind in uns wiederentdecken und befreien, dürfen wir hoffen, Sinnenfreudigkeit wiederzufinden.
Das aber ist der erste Schritt auf dem Weg, im Leben Sinn zu finden.
Wieviel uns doch verlorengeht, nur weil wir so abgestumpft durchs Leben gehen.
Wieviel uns doch verlorengeht an Freuden, an Überraschungen, die uns überall umgeben und nur darauf warten, entdeckt zu werden.
Aber es muss nicht so sein. Wir können unser fortschreitendes Stumpfwerden aufhalten wie einen Krankheitsprozess.
Wir können den Ablauf umkehren, können lernen, jeden Tag noch nie Gewürdigtes neu zu erleben.
Am Morgen, noch bevor wir die Augen öffnen, können wir schon damit anfangen. Wir brauchen uns nur daran zu erinnern, was für ein Geschenk unsere Augen doch sind.
Der Blinde in einem Gedicht Rilkes kennt das Geschenk, weil es ihm fehlt. «Euch», sagt er zu uns, «kommt jeden Morgen das neue Licht warm in die Wohnung.»[2]
Würden wir nicht unsere Augen ganz anders öffnen, wenn wir es dankbar täten?
Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Lebensfreude. Wir halten diesen Schlüssel in unseren eigenen Händen.
Wir sagen «blau». Aber was heißt schon «blau»? Wir schauen ja kaum hin. Wir kleben dem Ding nur schnell eine Freimarke auf. Fertig. Wir drücken ihm einen Stempel auf: «Blau. ‒ Erledigt. Nächste Nummer!»
Was unser Verstand mit kalter Ungenauigkeit blau nennt, das kennt unser Herz als die Farbe von Taubenflügeln und von Wiesenenzian, von Stahl und Lavendel, von kleinen Schmetterlingen, die am Feldweg um eine Pfütze tanzen, und vom Sommerhimmel, der sich im Braun der Pfütze dennoch blau spiegelt.
Das Kind in uns weiß noch, wieviel tausenderlei Blau es gibt.
Das Kind in uns ist Dichter.
Unser Herz bleibt zeitlebens dichterisch, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Und Dichter wissen, wie vielschichtig, wie nahezu unerschöpflich das ist, was wir so einfachhin «blau» nennen. Wie Rilke etwa tiefer und tiefer taucht, wo an der Oberfläche nichts zu sehen ist, als eine «Blaue Hortensie».
So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.Sie spiegeln es verweint und ungenau,
als wollten sie es wiederum verlieren,
und wie in alten blauen Briefpapieren
ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;Verwaschnes wie an einer Kinderschürze,
Nichtmehrgetragnes, dem nichts mehr geschieht:
wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze.Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
in einer von den Dolden, und man sieht
ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.[3]
Können Kinder wirklich all das sehen? Nein. Aber Kinder können so schauen.
Und unser Leben ist nicht lang genug, um auszuschöpfen, was wir sehen können, wenn wir wie Kinder schauen; so offen, so hingegeben, so tapfer vertrauend.
Ja, es gehört Tapferkeit dazu, sich etwa dem Blau einer Hortensie auszusetzen und «eines kleinen Lebens Kürze» zu erleiden.
Als Kinder hatten wir noch den Mut dazu, aber seitdem sind wir feige geworden.
Goethe wundert sich in einem seiner Aussprüche, warum denn aus so vielversprechenden Kindern immer wieder nichts würde als langweilige Erwachsene. Die Antwort ist einfach: aus Feigheit.
Darum ist Dichtung so wichtig.
Dass Dichter Gedichte machen, ist halb so wichtig, als dass sie uns dadurch Mut machen, Mut, unsere Sinne zu öffnen.
Unsere Kindheit ist viel zu kurz, um die Versprechen zu erfüllen, die sie enthält. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus.
Kindwerden liegt immer in der Zukunft, wie das Himmelreich, «das Land der tausend Sinne», wie Walter Flex es nennt.[4]
Kindwerden kostet uns den Panzer aus eisernen Ringen, mit dem wir unser Herz unverwundbar machen, aber auch gefühllos.
Wir können Kinder werden, wenn wir uns getrauen, unser Herz dem Leben auszusetzen, ungesichert, unverwundbar, aber wahrhaftig lebendig.
Dichter wagen es. Sie haben ihr Leben ‒ und wieder hat Rilke das rechte Wort gefunden ‒
ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.[5]
Kindwerden will geübt sein. Wir müssen nur irgendwo anfangen, und heute noch.
Vielleicht sollten wir unsere geistige Ernährung aufbessern, etwa mit einem Gedicht pro Tag.
Oder wir könnten es uns leisten, täglich fünf Minuten lang etwas anzuschauen, ganz gleich was, nur einfach um der Freude des Anschauens willen.
Ein Museum erlaubt uns das, wenn wir nicht im Studieren steckenbleiben. Freilich, wir dürfen und sollen Museen auch zum Studieren benützen. Noch wichtiger ist aber, dass wir lernen, darüber hinauszugehen; dass wir die reine Freude des Anschauens lernen. Und dazu bedarf es gar keines Museums. Wir Kinder kannten ein Weidengestrüpp am Preinerbach, das wir «Bachmuseum» nannten. Nach jedem Wolkenbruch schwemmte dort das Wasser neue Sehenswürdigkeiten an. Da war ein rostiger Vogelkäfig, halb im Sand vergraben. Ein lederner Stiefel mit Löchern in der Sohle lag halb im Wasser. Noch grüne Äpfel schwammen wieder und wieder im Kreis in einer seichten Bucht. Und Fetzen von einem gestreiften Hemd hingen im von der Strömung kahlgespülten Wurzelwerk.
Stundenlang konnten wir da auf dem Schulweg am Bachrand stehen und schauen.
Wenn ich heutzutage wenigstens vor einem Werk Picassos oder El Grecos so stehen könnte und so schauen. Wenn es uns aber einmal geschenkt wird ‒ so sehr wir uns nämlich bemühen müssen, es bleibt letztlich doch Geschenk ‒, wenn wir einmal ganz Auge sind, dann ereignet sich etwas Seltsames.
Wieder ist es Rilke, der uns dies in Erinnerung ruft. Wir haben es ja alle erlebt. Aber es ist uns irgendwie unheimlich, und da ziehen wir uns furchtsam ins Vergessen zurück.
In seinem Sonett «Archaischer Torso Apollos», feiert der Dichter jene seltsame Begegnung.
Zwölf Zeilen genügen ihm, um uns völlig in den Bann dieses griechischen Bildwerks zu ziehen. Wir stehen wie geblendet vor diesem Torso aus flimmerndem Marmor. Wir sind ganz Auge. Und das ist der Punkt, an dem sich das Seltsame ereignet. Völlig ins Anschauen versunken, sind wir plötzlich die Angeschauten, Mitten in der vorletzten Zeile dreht sich unvermittelt alles um:
denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.
Die wir uns für Kenner hielten, sind erkannt. Wir, die als Richter kamen, stehen vor Gericht. Dann fällt der Richtspruch.
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter den Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.[6]
Der letzte Satz, ganz am Ende der letzten Zeile, spricht das Urteil über uns aus. Dass dieser Richtspruch uns zu dem verurteilt, was wir uns im Geheimen ersehnen, wird noch zu zeigen sein.
Hier wollen wir zunächst die seltsame Begegnung ins Auge fassen, aus der das Urteil mit innerer Notwendigkeit fließt.
Wenn unser befeuertes Schauen jenen Grad erreicht, den wir den Schmelzpunkt nennen könnten, dann sind wir endlich völlig gesammelt. Was sich sonst an Vergangenes klammert oder nach Zukünftigem ausstreckt, ist jetzt in Sammlung gegenwärtig.
Und da ereignet es sich dann, dass uns etwas Geheimnisvolles «entgegenwartet».[7]
Ob wir es das Schöne nennen, das Wahre, das Gute, oder einfach die treue Verlässlichkeit auf dem Grund aller Dinge ‒ was uns da begegnet, erwartet etwas von uns, erwartet alles von uns:
Du musst dein Leben ändern.
Unser gesammeltes Herz erlebt, dass Gegenwart etwas von uns erwartet.
Wir mögen von der Forderung betroffen sein. Was aber von uns gefordert wird, ist etwas, wonach unser Herz sich im Grunde sehnt.
Das Kind in uns sehnt sich danach. Immer wieder erfinden Kinder ein Spiel, in dem das Ausdruck findet. Das Kind schließt die Augen und springt von einer Bank oder vom Treppenabsatz dem Vater in die Arme. «Papa, fang mich auf!»
Was die Verlässlichkeit auf dem Grund aller Dinge von uns verlangt, ist, dass wir uns darauf verlassen. Treue fordert Vertrauen.[8]
Darin liegt immer ein Wagnis.
Wie aber sollen wir ohne Wagnis verwandelt werden?
Und auf Verwandlung läuft alles hinaus.
Verwandlung ist das Wesen
des dritten Schrittes im Dreischritt des horchenden Herzens.
Kindliche Sinnlichkeit, unser erster Schritt, führt zu einem Höhepunkt im zweiten, in der seltsamen Begegnung.
Aber diese Begegnung verwandelt uns.
In seinem Gedicht «Spaziergang» spricht Rilke mit seltener Klarheit von der Verwandlung, die sich in unserem dritten Schritt vollzieht.
Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten,
dem Wege, den ich kaum begann, voran.
So fasst uns das, was wir nicht fassen konnten,
voller Erscheinung, aus der Ferne an ‒und wandelt uns, auch wenn wir's nicht erreichen,
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind;
ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen …
Wir aber spüren nur den Gegenwind.[9]
Schau wird hier zur Wandlung.
Schönheit ergreift und macht die Ergriffenen selber schön.
Das Erlebnis von Erhabenem ist erhebend.
Mehr noch: der Anblick dieses blühenden Mandelbäumchens (im Garten oder auf van Goghs Leinwand) lässt mich ganz klar fühlen, dass ich dadurch jetzt mehr ich selbst bin, als ich vorher war.
Die Begegnung mit dem Unfasslichen am Rande unserer Sehnsucht verwandelt uns aber nicht in Fremdes, sondern
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind.
Von hier aus rückblickend, können wir den Dreischritt des schauenden, horchenden Herzens überall dort entdecken, wo es darum geht, im Leben Sinn zu finden.
Wir Menschen sind ja so angelegt, dass Zweck allein uns nicht genügt. Kein Zweck kann uns befriedigen, wenn wir ihn nicht sinnvoll finden. Und wenn wir im Leben keinen Sinn mehr finden, dann ist es um uns geschehen. Was für Tiere der Selbsterhaltungstrieb ist, das ist für uns Menschen die Sehnsucht nach Sinn. Darum können wir ja unseren Selbsterhaltungstrieb, den wir mit den Tieren gemeinsam haben, opfern, so stark er auch immer sei. Wir können unser Leben hingeben, wenn uns das sinnvoll erscheint.
Wir können freiwillig sterben. Jeder weiß das.
Was nur wenige wissen, ist dies: Wir können auch freiwillig leben.
Die innere Gebärde ist die gleiche. Unser Leben (täglich) hingeben, das heißt Sinn finden. Das aber heißt, wahrhaft leben.
Wem fällt da nicht Goethes «Selige Sehnsucht» ein, und besonders die letzte Strophe?
Und solange du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.[10]
Rilke sagt es mit einer einzigen Zeile. Und die stammt aus dem Sonett, dem wir die Überschrift für diese Erwägungen entnommen haben:
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Ist das der Sinn unseres Lebens? Seit Urzeiten fragt das Kind in unserem Herzen nach dem Sinn des Lebens. Seit Urzeiten gibt unser Herz die Antwort, gibt sie in der Form des Heldenmythos.
Es ist daher gar nicht schwer, im typischen Heldenmythos den Dreischritt des horchenden Herzens wiederzufinden.
Kindliche Sinnlichkeit hat doch etwas von der Tapferkeit an sich, mit der ein jugendlicher Held in die Welt hinauszieht, bereit für Abenteuer.
In der seltsamen Begegnung
fasst uns das, was wir nicht fassen konnten,
es ergreift uns Ergriffene.
Auch der Held muss sich am Höhepunkt des Mythos dem Unfassbaren stellen, dem Geheimnis von Liebe und Tod. Liebe und Tod verlangen letztlich vom Helden, was die seltsame Begegnung von uns verlangt: Bereitschaft, unser Leben hinzugeben.
Das ist es ja, was wir innerlich tun, wenn wir uns vertrauend verlassen auf die Treue und Verlässlichkeit im Herzen aller Dinge ‒ wenn wir uns (uns selbst) verlassen.[11]
Aber diese innere Gebärde verwandelt. Den Helden, wie uns, verwandelt sie.
Der Held wird durch die Begegnung mit dem Unfasslichen zum Lebensbringer, das heißt, zum Sinnträger.
An uns wird das Wort wahr:
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
Dass wir selber Sinn werden, wenn wir Sinn finden, das ist vielleicht am schwersten zu verstehen. Das christliche Verständnis unserer drei Schritte kann uns da vielleicht weiterhelfen.
In christlicher Schau entspricht die kindliche Sinnlichkeit dem Glauben. Mit gläubig tapferem Vertrauen geht sie auf Gottes Welt zu, verlässt sich auf die göttliche Güte.
Grundzug der seltsamen Begegnung ist dann die Hoffnung. Wie kindliche Sinnlichkeit zur seltsamen Begegnung führt, so der Glaube zur Hoffnung. Hoffnung ist ja völlige Offenheit für Überraschung, und die ist nur im Vertrauen des Glaubens möglich.
Hoffnung kann sich ergreifen lassen vom Ergreifenden; sie kann sich verlassen, weil sie um die Verlässlichkeit weiß, die jedem Ding und jedem Augenblick zuinnerst eignet. Sie kann sich fallenlassen, weil sie weiß, dass einer
dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.[12]
So aufgefangen zu werden im Fallen und dazu «ja» zu sagen, das ist der Liebe eigen.
Es ist zugleich die innerliche Gebärde der Sinnfindung, der Sinnwerdung.
Nur durch Liebe finden wir Sinn. Indem wir in Liebe aufgehen, werden wir Sinn.[13]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 13]
[Ergänzend:
1. Video (1975) und Transkription:
(20:33) «In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.»
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2016)
Wort
(20:08) ‹Archaïscher Torso Apollos›
2.2. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Audio ‹Sehen lernen›:
(01:02:35) Mit den Augen des Herzens sehen, was die Augen nicht sehen können: ‹Hast du deine Schwester, deinen Bruder gesehen, dann hast du deinen Gott gesehen› ‒ Einander wie mit den Augen einer Mutter anschauen: ‹Das kannst du doch› schafft Raum, in den wir hineinwachsen können ‒ Sich an Träume erinnern
(01:11:10) Augen und Ohren ‒ sehen und hören
(01:14:07) Das Kind werden, das wir sind
2.3. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Themen der Fragerunde:
Audio: Das Kind in uns und das mönchische Leben
2.4. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
3. Mit dem Herzen horchen ‒ Die Themen des Gesprächs:
Audio ‹Und wandelt uns ...› (R. M. Rilke, ‹Spaziergang›)
2.5. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Amen: Unsere Antwort auf die ‹amunah›, die Treue Gottes:
(16:08) Franziskus und Eigenschaften des Kindes: Wenn ein Kind vor Freude strahlt, ist das schon Dankgebet. Milch! Die Szene im Video von François Truffaut ‹L’enfant sauvage› (1970): Unsere Kindheit ist zu kurz für uns, um die Kinder zu werden, auf die hin wir angelegt sind
(22:03) Sich an einen Geschmack erinnern, der die ganze Kindheit zurückbringt, Schmecken und Kosten wirklich erleben
3. Weiter Texte
3.1. Musik der Stille (2023), 55f.:
«Die kleine Tochter eines Freundes sagte eines Morgens zu ihrem Vater: ‹Papi, ist es nicht erstaunlich, dass es mich gibt?› Kinder wissen intuitiv, wie erstaunlich und erfreulich es ist, dass es überhaupt irgendetwas gibt. Und das Kind in uns stirbt nie. Wir können es einsperren, wir können es vergessen oder stark vernachlässigen, aber solange wir leben, bleibt es am Leben. Es ist eine unserer großen Aufgaben, dieses Kind wieder zu befreien und es zu ermutigen, solche tiefsinnigen Fragen zu stellen. Dann schauen wir alles durch staunende Augen an und nehmen alles mit einem offenen Herzen auf.
Dieses Erwecken des Kindes in uns ist nicht einfältige Sentimentalität; es macht den Kern der mönchischen Bemühungen und jeder Spiritualität aus.
Das eigentliche Ziel ist das, was der Philosoph Paul Ricœur die ‹zweite Naivität› nennt: die Verbindung der hellen Begeisterung kindlicher Unschuld mit jener Weisheit, die sich aufgrund von Erfahrung einstellt.
Die Gregorianischen Gesänge sprechen das Kind in uns an, weil sie die reine Freude am Lebendigsein ausdrücken.»
3.2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 128
Gedicht ‹Blaue Hortensie›
TRANSKRIPTION DES SEMINARS TEIL I,, 45-50:
Gedicht ‹Archaïscher Torso Apollos›
3.3. Der Mönch in uns (1978) [der Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger findet sich auch in Kapitel 3 «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 44-63]
«Im Kind gibt es eine riesige Neugierde herauszufinden, wie die Dinge funktionieren, und einen starken Ansatz zur Zweckgerichtetheit; und dies ist der einzige Antrieb, den wir in der Regel fördern. Aber es gibt auch ein großes Verlangen nach Kontemplation, das wir in der Regel nicht fördern. Wenn wir heutzutage ein Kind auf der Straße sehen, so wird es meistens an einem langen Arm entlanggezogen, und wer immer es zieht, sagt: ‹Komm, wir müssen weiter! Wir haben keine Zeit! Wir müssen nach Hause (oder sonst wohin). Steh da nicht einfach herum! Tu was!› So sieht der Kern der Sache aus. Aber es gab andere Kulturen, zum Beispiel viele amerikanische Indianerstämme, die ein gänzlich anderes Erziehungsideal hatten:
‹Ein gut erzogenes Kind sollte sitzen und schauen können, wenn es nichts zu schauen gibt.› Und: ‹Ein gut erzogenes Kind sollte sitzen und zuhören können, wenn es nichts zu hören gibt.›
Das ist zwar eine Einstellung, die völlig anders ist als unsere, doch wird sie dem Wesen der Kinder viel gerechter. Genau das möchten sie nämlich tun: einfach nur herumstehen und schauen und völlig in dem aufgehen, was sie sehen oder hören oder lutschen oder lecken oder womit sie gerade spielen. Und natürlich zerstören wir diese Fähigkeit zum Offensein für Sinn bereits sehr früh; indem wir sie zu Sachen zwingen und die Dinge in die Hand nehmen, steuern wir sie ausschließlich in die Zweckbezogenheit hinein.»
3.4. Kind und Kunst (1948):
«Je mehr wir uns in diesen anspruchsvollen Vortrag von Franz Kuno vertiefen, umso mehr verstehen wir, wie sehr er von einem archimedischen Punkt aus spricht, der weit entfernt ist vom damaligen wie auch heutigen Zeitgeist. Es geht um das Einüben einer kindlichen Haltung: Bereitschaft lernen, staunen, unvoreingenommen Kunst zu betrachten»]
________________________
[1] R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XXIX, siehe Transkription
[2] ‹Das Lied des Blinden› (R. M. Rilke: ‹Das Buch der Bilder, 2. Buch, 2. Teil)
[3] ‹Blaue Hortensie› (R. M. Rilke, Neue Gedichte)
[4] Walter Flex (1887-1917): ‹Das Weihnachtsmärchen des fünfzigsten Regiments› (1918):
«‹Was ist das, das Reich der tausend Sinne?› fragte das Weib, und der graue Führer antwortete: ‹Es ist das, was ihr auf Erden den Himmel nennt. Ihr auf Erden dürft nur mit fünf armen Sinnen den Reichtum der Welt fühlen, sehen, hören, riechen und schmecken. Danach aber kommt ihr in das Reich der tausend Sinne und werdet mit Kräften begabt, die sich mit Menschenworten nicht nennen lassen. Darüber sind noch tausend Reiche, in denen die Seelen wohnen werden auf ihrer Wanderung zu Gott wie in Gasthäusern am Wege.»
[5] «Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,
siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,
aber wie klein auch, noch ein letztes
Gehöft von Gefühl. Erkennst du’s?
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund
unter den Händen. Hier blüht wohl
einiges auf; aus stummem Absturz
blüht ein unwissendes Kraut singend hervor.
Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann
und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.
Da geht wohl, heilen Bewusstseins,
manches umher, manches gesicherte Bergtier,
wechselt und weilt. Und der große geborgene Vogel
kreist um der Gipfel reine Verweigerung. ‒ Aber
ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens ...»
R. M. Rilke, Aus dem Nachlass
[6] ‹Archaïscher Torso Apollos› (R. M. Rilke, Der Neuen Gedichte anderer Teil)
[7] Das Wort stammt auch von Rilke: «Nach aller Kunst wieder einmal Natur. Nach dem vielen das eine, nach dem Suchen diesen einen großen und unerschöpflichen Fund, in welchem tief innen noch unberührte Künste einer leisen Erlösung entgegenwarten.»
(R. M. Rilke, Das Florenzer Tagebuch)
[8] «In Augenblicken, in denen wir wirklich aus unserem Herzen leben, sind wir mit dem Herzen aller Dinge verbunden. Ganz spontan erkennen wir dann ‹die Zuverlässigkeit im Herzen aller Dinge›, wie Reinhold Niebuhr es so schön sagte.» [Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 93; bzw. Fülle und Nichts (2015), 92]
[9] ‹Spaziergang› (R. M. Rilke, Aus dem Nachlass)
[10] ‹Selige Sehnsucht› (J. W. Goethe, West-östlicher Divan)
[12] ‹Herbst› (R. M. Rilke, ‹Das Buch der Bilder›); Bruder David spricht das Gedicht im Audio Wähle das Leben (1992)
Vortrag:
(03:59) Sich in Gottes Hände fallen lassen / (05:21) Die Blätter fallen‘ (Rilke)
[13] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 268, 271-279: Der Text ist aus «Der Dreischritt des horchenden Herzens» im Buch
Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021), 35, 38-51
Sinne und Sinn
Video, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
(Video 00:24) Lebendig sein: darauf kommt’s schließlich im Letzten an. Das geistliche Leben heißt ja, ein überaus lebendiges Leben führen. Dass wir noch nicht gestorben sind, bedeutet nicht, dass wir wirklich lebendig sind. Wir leben oft so halbtot dahin. Der Geist ist der Lebensatem Gottes in unserer christlichen Tradition, in der ganzen biblischen Tradition. Daher bedeutet ein geistliches Leben führen, völlig lebendig zu sein. Mit allen Sinnen. Und darauf kommt es schließlich im Letzten an: Lebendigkeit.
(04:00) Wenn wir vom Sinn finden sprechen, dann kommen natürlich die Sinne in das Spiel. Denn es ist ja kein Zufall, dass Sinn und Sinne dem Wort nach zusammenhängen. Rilke hat das so wunderbar in seinem Gedicht zusammengefasst in einem der Sonette an Orpheus:
Sei in dieser Nacht aus Übermass
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne.
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
Sei Sinn! Denn Sinn finden, heißt ja eigentlich Sinn werden. Das heißt so zu leben, dass wir in jedem Augenblick uns dem stellen ‒ mit allen unsern Sinnen ‒, was uns entgegenkommt.
(06.45) Wenn es darum geht, sich in jedem Augenblick völlig von dem ansprechen zu lassen, was der gegebene Augenblick enthält, dann kommt im geistlichen Leben eigentlich alles darauf an, mit dem Herzen zu horchen und von ganzem Herzen zu antworten.
Und das ist in der biblischen Tradition ganz fest verankert, denn dort läuft alles darauf hinaus, dass wir unser tiefstes Leben als Zwiegespräch mit der göttlichen Gegenwart erleben.
Ursprünglich in unserer natürlichen Frömmigkeit denken wir noch nicht notwendigerweise an einen persönlichen Gott. Sondern wir erleben in unsern besten, lebendigsten Augenblicken eine tiefe Geborgenheit, ein Zugehörigkeitsgefühl, ein Daheimsein in der Welt. Wir sind hier nicht verweist, wir wurden erwartet, wir sind eingebettet, die Welt ist für uns vorbereitet, wir sind hier zu Hause.
Und von diesem Zugehörigkeitsgefühl ist kein sehr weiter Weg zu der Gegenseitigkeit der Zugehörigkeit. Und da kommt dann die persönliche Bezogenheit zum Göttlichen herein, und das ist der Gesichtspunkt des Religiösen, der in der biblischen Tradition besonders unterstrichen wird, auf den die biblischen Autoren besonders ansprechen.
Wenn es zum Beispiel heißt in der Schöpfungsgeschichte: «Gott sprach und es ward Licht.» Und «Gott sprach», und da war ein Firmament», und «Gott sprach», und er schafft so ein Ding nach dem andern …, dann heißt das in unserer gegenwärtigen Sprache eigentlich, dass wir dann Sinn finden im Leben, wenn wir alles, was es gibt, als Wort verstehen durch das die göttliche Gegenwart uns anspricht: Also mit allen unsern Sinnen uns darauf einstellen, dass Gott spricht.
Aber wie spricht Gott? Durch alles, was es gibt. Jeder Gegenstand, jede Person, jede Situation ist letztlich WORT. Das Wort sagt mir etwas und fordert mich auf zu antworten. Jeder Augenblick mit allem, was er enthält, spricht das große Ja auf neue und einzigartige Weise aus. Indem ich darauf anspreche, Augenblick für Augenblick, Wort für Wort, werde ich das WORT, das Gott in mir und zu mir und durch mich spricht.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Du hast mich mit Augen beschenkt und du beschenkst meine Augen mit Farben ‒
von den Farben, die im Morgengrauen stillschweigend zu sich finden,
bis zu den lauten Farben am Mittag
und den jubelnden beim Sonnenuntergang.
Jede Farbe hat ihren eigenen Ton.
Mit jeder Farbe sprichst du mir ein Wort zu,
das sich nicht in Worte fassen lässt.
Mach mich heute hellhörig für Farben,
besonders für leise Farbtöne, die ich nicht nennen kann,
die mich Ehrfurcht lehren vor allem, was unnennbar ist wie du.Amen»
Deshalb ist Achtsamkeit eine so überaus wichtige Aufgabe. Wie kann ich auf diesen jetzigen Augenblick ganz ansprechen, wenn ich nicht wach bin für seine Botschaft? Und wie kann ich wach sein, wenn nicht alle meine Sinne hell wach sind?
Gottes unerschöpfliche Poesie kommt mir in fünf Sprachen entgegen: Gesicht, Gehör, Geruch, Gespür und Geschmack. Alles Übrige ist Deutung – genau genommen Textkritik, nicht die Poesie selbst, denn Poesie entzieht sich der Übersetzung. Sie kann nur in ihrer Originalsprache ganz erfahren werden, was für die göttliche Poesie der Sinnlichkeit umso mehr gilt. Wie kann ich also den Sinn des Lebens verstehen, wenn nicht durch meine Sinne?
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Alles soll heute Begegnung werden mit dir
durch Wort und Bild ‒ durch alles, was meine Sinne anspricht,
durch alles, was dabei in meinem Herzen aufleuchtet.
‹Quellgrund›? ‹Meer›? Bilder und Worte, von mir gefunden.
Aber was dahintersteht, ihre Bedeutung, ist nicht Erfindung, sondern Fund.
Nur im Erfinden kann ich dich finden.
‹Wir dürfen jenen erhorchen›, sagt der Dichter von dir, ‹der uns am Ende erhört›.
Lass mich heute dich erhorchen in allem, was ich mit Ohr und Herz höre!
Und erhöre du dieses Gebet.Amen»
Wann und worauf reagieren unsere Sinne am bereitwilligsten? Wenn ich mir diese Frage stelle, denke ich sofort an die Arbeit in meinem kleinen Garten. Wegen ihres Duftes habe ich dort Jasmin, Minze, Salbei, Thymian und acht Arten Lavendel. Welch eine Fülle köstlicher Düfte auf einem so kleinen Stück Erde!
Und welche Vielfalt von Tönen: Der Frühlingsregen, der Herbstwind, die Vögel im ganzen Jahr – Trauertaube, Blauhäher und Zaunkönig; der scharfe Ruf des Falken zur Mittagszeit und die Rufe der Eule zur Nacht –, das Geräusch der Ginsterruten auf dem Kies, das Spiel des Windes und die knarrende Gartentür.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer dem alles zuströmt!
Öffne du mir heute die Ohren meines Herzens,
damit ich nicht nur Geräusche höre und Töne,
sondern ‒ darüber hinaus ‒ dich? Ja, dich!
Dich in Vogelstimmen mitzuhören ‒
im Singen der Amseln,
im Zwitschern der Spatzen,
im nächtlichen Schrei der Zugvögel ‒
das ist leicht.
Mach mich aber bereit, auch in Stimmen,
die mir nicht so angenehm sind, dich mitzuhören ‒
in Sirenen und Kreissägen,
in den Abendnachrichten,
vor allem aber in allem Unausgesprochenen,
das um liebendes Hinhorchen fleht.
Darum bitte ich dich heute, du, mein ‹Darüber-Hinaus›!Amen.»
Wer könnte den Geschmack einer Erdbeere oder Feige in Worte übersetzen?
Und welch endlose Auswahl von Dingen, die man berühren kann, vom taunassen Gras unter meinen nackten Füßen bis zu den sonnen-durchwärmten Felsen, an die ich mich lehnen kann, wenn die Abende kühl werden.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Zu den schönsten Morgenstunden meines Lebens
gehört das Barfußlaufen durch taufrisches Gras.
Zwar hab ich das gar nicht so oft erlebt,
in meiner Erinnerung aber steigt es immer wieder auf
und ich freue mich daran.
Könnte ich das eigentlich nicht täglich tun?
Du schenkst mir Fantasie genug, die Heilkraft zu fühlen,
die aus dem kühlen, feuchten Rasen aufsteigt;
jeder Grashalm weckt frische Lebendigkeit in meinen Fußsohlen.
Heute soll meine Fantasie mir dienlich sein:
Taufrisches Barfußlaufen (auf dem Bettvorleger)
soll mein freudiges Morgenlob werden.Amen.»
Meine Augen gehen vor und zurück zwischen Fernem und Nahem: der goldgrüne, metallisch glänzende Käfer zwischen den Blütenblättern einer Rose, die unermessliche Weite des Pazifischen Ozeans zwischen der Küste tief unten und dem weiten Horizont, wo Meer und Himmel sich im Dunst begegnen.
Ja, ich gebe es zu: Einen solchen Platz zu haben, ist ein unschätzbares Geschenk. Es lässt das Herz aufgehen, die Sinne erwachen, einen nach dem anderen von neuer Vitalität lebendig werden. Wie auch immer die Umstände beschaffen sein mögen: Wir brauchen Zeit und Ort, um uns dieser Art von Erlebnis zu widmen. Es ist eine Notwendigkeit im Leben eines jeden, kein Luxus.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Erst, wenn ich mich so recht in Vögel einfühle,
wird mir bewusst, dass ja auch wir ohne Hände auskommen müssten,
wenn uns keine geschenkt wären.
Wo immer man im Freien isst, nie fehlen Spatzen unter den Tischen.
Um wieviel geschickter diese Spatzen Krümchen aufzupicken verstehen,
als Kinder beim Wettspiel mit gefesselten Händen in den Apfel zu beißen,
der im Wasser schwimmt!
Sie schauen mich an wie beim Fahrradfahren-Lernen: «Schau! Freihändig kann ich's!»
Was ich alles mit Händen tun kann, will ich heute beachten.Amen.»
Was in solchen Momenten zum Leben erwacht, ist mehr als Augen und Ohren: unsere Herzen lauschen und öffnen sich.
Bevor ich nicht meine Sinne eingestimmt habe, bleibt mein Herz düster, schläfrig, halbtot. In dem Maße, in dem mein Herz erwacht, vernehme ich die Aufforderung, mich meiner Verantwortung zu stellen. Wir übersehen leicht die enge Verbindung zwischen Antwortbereitschaft und Verantwortlichkeit, zwischen Sinnlichkeit und gesellschaftlicher Herausforderung.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Mit verschlafenen Augen sehe ich die Welt weit anders als später am Tag.
Auch darin liegt ein Geschenk:
Beim Aufwachen greifen meine Augen noch nicht nach dem, was ich sehe,
sondern empfangen es einfach, ohne scharf zu unterscheiden,
ohne zu benennen, ohne zu wählen.
Wie viel reicher ist da die Ernte meines Blickfeldes als die karge Auswahl,
die ich dann später treffe.
Hilf mir heute, mich bewusst einzulassen auf diese bereitwillige
Empfänglichkeit des Schauens, und so erst wahrhaft wach
durch diesen Tag zu gehen.Amen.»
Wenn wir lernen, wirklich mit unseren Augen zu sehen, beginnen wir auch mit dem Herzen zu schauen. Wir fangen an, uns dem zu stellen, das wir lieber übersehen, um zu bemerken, was auf dieser unserer Welt geschieht.
Wenn wir lernen, mit unseren Ohren zu lauschen, beginnt unser Herz den Schrei der Unterdrückten zu vernehmen. Mit dem eigenen Körper in Kontakt zu sein heißt, mit der Welt in Verbindung zu sein – und dazu gehören auch die Dritte Welt und alle anderen Bereiche, derer sich unsere stumpfen Herzen bequemer Weise nicht bewusst sind.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Jeden Morgen erwache ich zum Geschenk eines neuen Tages,
aber auch zu allem Elend der Welt.
Unheil, das wir Menschen anrichten, ist entsetzlich genug.
Aber Erdbeben, Epidemien, Tsunamikatastrophen, wo kommen die her?
Ich will keine rosa Brille, will dich nicht nach meinen Wunschträumen erfinden.
Ich möchte dich kennenlernen, wie du bist.
Lebensfülle und Vernichtung ‒ beides stammt von dir, du Unergründlicher.
Mich schaudert. Ich kann verzweifeln oder vertrauen.
Ich wähle vertrauen.
Alles Böse ist das Noch-nicht-Gute.
Mit diesem Vertrauen will ich heute Schreckensnachrichten hören.Amen.»
Auf meinen Reisen merke ich, wie leicht man seine Achtsamkeit verliert. Die Übersättigung unserer Sinne neigt dazu, die Wachheit zu dämpfen. Eine Flut von Sinneseindrücken lenkt das Herz leicht von der gesammelten Aufmerksamkeit ab.
Aber der Einsiedler in jedem von uns läuft nicht vor der Welt davon; er sucht das Zentrum der Stille im Innern, wo der Pulsschlag der Welt zu hören ist.
Wir alle – jeder in anderem Maße – brauchen Einsamkeit, weil die Pflege unserer Achtsamkeit notwendig ist.
Wie sollen wir dies praktisch durchführen? Gibt es eine Methode zur Pflege der Achtsamkeit?
Es gibt viele Methoden. Der Weg, den ich gewählt habe, ist Dankbarkeit; man kann sie üben, pflegen, lernen. Je mehr wir in der Dankbarkeit wachsen, desto mehr wachsen wir in der Achtsamkeit. Bevor ich des Morgens meine Augen öffne, mache ich mir bewusst, dass ich Augen habe zu sehen, während Millionen meiner Brüder und Schwestern blind sind – die meisten aufgrund von Umständen, die man bessern könnte, wenn die Menschheitsfamilie zur Vernunft käme und ihren Reichtum sinnvoll, das heißt gleichmäßig, verteilte.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!»
Wenn ich bewusst und hellwach schauen lerne, wächst meine Lebensfreude,
meine Dankbarkeit fürs Sehen-Können, aber auch Bestürzung darüber,
dass mehr als 40 Millionen meiner Mitmenschen blind sind ‒
Hauptursache: Mangelernährung und Hunger bei Kindern.
Dabei würden die weltweiten Aufrüstungskosten von nur drei Tagen genügen,
Hunger aus der Welt zu schaffen.
Heute will ich wenigstens einem Menschen diese erschütternden Statistiken
bewusst machen und fragen: ‹Was können wir tun?›
Solche Fragen können weite Kreise ziehen und Menschen aufwecken.
Statt zu verzweifeln, lass mich also wach hinterfragen.Amen»
Wenn ich meine Augen mit diesem Gedanken öffne, bin ich höchstwahrscheinlich dankbarer für die Gabe des Sehens und wacher für die Bedürfnisse jener, die dieser Gabe ermangeln. Bevor ich am Abend das Licht ausschalte, notiere ich mir etwas, für das ich noch niemals dankbar gewesen bin. Das übe ich nun seit Jahren, und der Vorrat scheint unerschöpflich zu sein.
Dankbarkeit bringt Freude in mein Leben. Wie könnte ich Freude finden in Dingen, die ich für selbstverständlich halte? Also höre ich auf, etwas für «selbstverständlich» zu halten, und schon ist kein Ende mehr der Überraschungen, die mir begegnen.
Eine dankbare Haltung ist schöpferisch, denn letzten Endes ist Gelegenheit das Geschenk, das verborgen ist in dem Geschenk eines jeden Augenblicks – die Gelegenheit, mit Vergnügen zu sehen, zu hören, zu riechen, zu berühren und zu schmecken.
Es gibt kein engeres Band als jenes der Dankbarkeit, die Verbindung zwischen dem Gebenden und dem Dankenden. Alles ist Geschenk. Dankbares Leben ist ein Fest des universellen Gebens und Nehmens im Leben, ein grenzenloses Ja zur Zugehörigkeit.
Kann unsere Welt ohne Dankbarkeit überleben? Wie die Antwort auch lauten mag - ein bedingungsloses Ja zur gegenseitigen Zugehörigkeit aller Wesen bringt mehr Freude in diese Welt.
Aus diesem Grunde ist Ja mein Lieblings-Synonym für Gott. [[1]]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 1]
[Ergänzend:
1. Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(12:41) Ich habe Glocken ungeheuer gerne, aber in einem gewissen Sinn ist der schönste Klang der Augenblick, in dem die letzte Glocke verstummt. Diese Stille nach dem Glockenläuten, die ist etwas ganz Wunderbares. Und erst wenn wir lernen, auf die Stille zu horchen, die den Ton umgibt, das Schweigen, aus dem der Ton hervorkommt, von dem der Ton sich absetzt, erst wenn wir lernen, mit dem Herzen auf die Stille hinzuhorchen, haben wir wirklich begonnen, mit dem Herzen hören zu lernen.
(13:55) Für jemanden, der wirklich mit dem Herzen fühlen lernt, der wirklich mit dem Herzen der Wirklichkeit begegnet, besteht kein Bruch zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, zwischen dem Sakralen und dem Profanen.
Der Rausch aus dem Räucherstäbchen ist nicht heiliger als der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt. Auch der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt, ist eine Geste des Gebetes.
(14:30) Zu der großen Aufgabe des geistlichen Lebens, durch die Sinne Sinn zu finden, gehört natürlich auch das Riechen und der Geruchsinn. Aber das ist für die meisten von uns ‒ oder zumindest bei sehr vielen Menschen ‒ eine traurige Angelegenheit. Für die gibt es nur zweierlei Gerüche: gut und schlecht. Und das ist eine große Verschwendung unseres Geruchsinns: All diese wunderbaren Gerüche, die es in der Welt gibt. Wenn wir uns einmal darauf eingestellt haben, gar keine Gerüche als schlecht abzuschreiben, sondern uns einmal ihnen auszusetzen, dann finden wir, dass Dinge einen ganz eigenen Geruch haben, denen wir vorher gar keinen Geruch zugeschrieben haben. Holz hat einen ganz eigenen Geruch und verschiedene Holzarten ganz verschiedene Gerüche. Bücher: ein neues Buch, ein altes Buch. Für viele Menschen ist nur das Aufschlagen eines Buches schon mit einem gewissen Geruch verbunden und sogar gewisse Bücher mit der Erinnerung an gewisse Gerüche.
Überhaupt ist ja der Geruchsinn am engsten mit unserer Erinnerung verbunden. Wenn wir nur an die vielen Kindheitserinnerungen denken, die mit Gerüchen verbunden sind: eine Wäschelade, in der Lavendel ist, oder ein Fischmarkt oder das Meer oder Weihrauch: für wie viele Menschen Weihrauch ganz mit dem religiösen Kindheitserleben verbunden ist. Darum soll es uns auch gar nicht wundern, wenn in der Bibel und in vielen andern Traditionen der Geruchsinn eine ganz wichtige Rolle spielt.
(18:34) Der Gesichtssinn ist für die meisten Menschen der am weitesten entwickelte Sinn unserer Sinne. Aber dass jemand ein visueller Typ ist, heißt noch nicht, dass man wirklich gelernt hat mit dem Herzen zu schauen.
Das Wesentliche am mit dem Herzen schauen ist das Staunen: staunen können, so wie Kinder noch staunen können mit ihrer Unbefangenheit. Oder wie Künstler staunend auf die Welt schauen und so die Überraschung geradezu herausfordern. Oder wie Mütter auf ihre Kinder schauen. So sollten wir eigentlich auf alles schauen: auf andere Menschen, auf Tiere, Pflanzen, auf die ganze Welt, mit mütterlichen Augen, die sagen: Überrasch mich! Und so schaffen wir dann einen Raum, in den die Welt hineinwachsen kann, in den auch andere Menschen hineinwachsen können. Wenn wir mit Augen schauen, die ohne Worte sagen: «Überrasche mich!», dann werden wir wirklich unsere Überraschungen erleben.
(19:45) Erst wenn wir Blinde sehen, die uns in ihrer Sensitivität auf dem Gebiet anderer Sinne so viel zu lehren haben, erst dann wird es uns so richtig bewusst, was wir an unserem Gesichtssinn eigentlich haben, was für ein Schatz, was für eine Gabe das ist und mit welcher Dankbarkeit wir damit durchs Leben gehen sollen.
(20:33) In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.
(21:50) Als Kinder hatten wir ein Spielzeug, das Kaleidoskop hieß, diese Röhre, in der verschiedene kleine Glasscherben sich herumbewegten zwischen Spiegeln und immer neue Muster ergaben. Das war schon eine große Überraschung, immer wieder neue Muster zu sehen. Aber heutzutage gibt es eine neue Art von Kaleidoskop, in dem drei Spiegel auf die Wirklichkeit hinzielen und man die verschiedenen Dinge im Raum immer wieder neu gespiegelt sieht. Mir kommt es vor, dass wir uns so ein Kaleidoskop in unser Auge einbauen müssten, um immer wieder überrascht zu werden von der Wirklichkeit, die wir rund um uns sehen. Wir müssten lernen, die Wirklichkeit immer wieder mit neuen Augen zu sehen, mit den Augen eines Kindes.
(23:12) Was es uns so schwer macht, mit kindlicher Frische und Unvoreingenommenheit unsere Welt zu sehen, ist Übersättigung und Gewöhnung. Wir müssten eben lernen, mit ganz frischen Augen wieder zu schauen.
Jede Landschaft hat ihre eigenen besonderen, ganz unverwechselbaren sinnlichen Reize. Wir denken zum Beispiel an eine Berglandschaft. Oder ein Vergleich dazu zur Tiefebene. Wir denken ans Meer, an einen Fluss, aber auch die Stadt: Die Stadt hat einen ganz besonderen Appell an unsere Sinne. Sie überstürzt uns geradezu mit Formen und Farben und Geräuschen, die auf uns einstürzen. Auch die Stadt will etwas zu uns sagen, wenn wir uns nur mit allen Sinnen dafür öffnen.
(27:56) Der Tastsinn spielt eine ganz wichtige Rolle auf den Höhepunkten, den Durchgangspunkten unseres Lebens: in der Geburt, in der Liebesbegegnung, beim alten Menschen, im Tod, beim Sterbenden. Die Zärtlichkeit der Berührung. Etwas ungeheuer Wichtiges. Wir haben oft so harte Griffe. Wir denken nur ans Angreifen und nicht ans berührt werden.
(31:32) Wir vergessen allzu leicht, dass die Berührung, der Tastsinn, der Sinn ist, der immer gegenseitig ist. Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden, wir können hören, ohne gehört zu werden usw., aber wir können nie etwas berühren, ohne selbst berührt zu werden.
Und uns so anrühren zu lassen von den Dingen, die wir berühren, das setzt voraus, dass wir es bewusst tun. Und wenn uns dann etwas berührt, dann wird es uns auch anrühren und wird uns auch zu Herzen gehen. Und darin liegt etwas zutiefst Dialogisches in diesem Sinn des Berührens und des berührt werdens. Wir erfassen etwas nur wirklich, wenn wir uns davon auch berühren lassen.
(34:54) Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.
Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.
(36:46) Der Geschmacksinn ist eigentlich der innerlichste unserer Sinne. Es ist kein Zufall, dass das lateinische Wort für Weisheit ‒ sapientia ‒ eigentlich ein innerliches Schmecken heißt. Wörtlich ist sapientia ein innerliches Schmecken.
Und die tiefste Weisheit des Herzens besteht darin, einen Geschmack für die Welt zu entwickeln.
Und wie sollen wir das tun, wenn wir es nicht auch sinnlich mit unserer Zunge, mit unserm Geschmack lernen? Das ist eine sehr spirituelle Aufgabe wie mit all den andern Sinnen. Es handelt sich einfach darum, wirklich lebendig zu werden, wirklich aufzuwachen zu der Tiefe und Fülle des Lebens.
(38:40) Diese Art der Spiritualität, diese Art wirklich lebendig zu sein, und die Askese der Sinne, die dazu führt, ist im wahrsten Sinne allumfassend und also im echten Sinne katholisch. Sie schließt sich der ganzen Welt auf. Und das ist unsere große Aufgabe.
Das Kind in uns ist immer Dichter, bleibt Dichter. Und es tut das, was der Dichter tut. Es hebt das Sinnliche über den Wandel der Zeit ins Zeitlose hinaus.
(40:09) Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
(41:26) Diese Offenheit der Welt gegenüber von der wir hier sprechen, ist etwas so Wunderschönes, so Anziehendes, dass man sich wundern muss, warum wir uns so oft davor verschließen, warum wir nicht so leben, einfach im Alltag, warum man das üben muss.
Und die einzige Antwort, die ich finden kann, ist, dass wir uns fürchten.
Es kostet uns zu viel, uns dem auszusetzen. Wir wollen auswählen. Wir wollen uns nur dem aussetzen, was uns gut gefällt. Daher verschließen wir uns. Daher engen wir unsern Gesichtskreis ein.
Angst verengt uns überhaupt. Angst verengt schon die Blutgefäße. Angst hat zu tun mit Angina, ángina: mit Enge: mit der inneren Enge, mit dem nicht atmen können. Es hat aber auch zu tun mit der Enge des Geburtskanals, durch den wir durchmüssen, um wirklich das Licht der Welt zu sehen, um geboren zu werden. Und das verlangt ungeheuren Mut von uns.[2]
Dieser Mut, dieser Lebensmut, dieses gläubige Vertrauen in das Leben, das heißt im religiösen Sprachgebrauch Glaube. Und der Glaube ist eben einfach diese Offenheit dem Leben gegenüber, diese Bereitschaft für alles, was uns entgegenkommt. Dieses tiefe Vertrauen in die Welt, in das Leben und in den Urgrund und die Quelle des Lebens: ‹Gott›, wenn wir es so nennen wollen.
(43:41) Das Einzige, das wir wirklich lernen müssen, und das ist sehr einfach, ist aufzuwachen zu den vielen, vielen Geschenken, die wir täglich empfangen und sie dankbar entgegenzunehmen. Wenn wir wirklich dankbar sind, dann nehmen wir schon ganz spontan die Haltung ein, von der hier die Rede ist. Denn in der Dankbarkeit ist schon das Vertrauen beinhaltet dem Geber gegenüber, dem Gegebenen gegenüber, dem Leben, das uns sich gibt. Wenn wir dankbar sind, sind wir offen für dieses Geben, es in Empfang zu nehmen. Wir sind offen für Überraschungen.
In der Dankbarkeit freut man sich über Überraschungen. Man weist sie nicht zurück, sie sind einem willkommen, man ist bereit dafür.
Und wir sind auch bereit für dieses Geben und Nehmen, das zur Dankbarkeit gehört, das in Empfang nehmen und das Dank sagen.
Und in diesem Geben und Nehmen besteht unsere Zugehörigkeit zu der Welt: unser Daheimsein in der Welt.
(47:50) Dieses Ankommen am stillen Punkt, ist das Einzige, worauf es letztlich ankommt. Dieser stille Punkt des großen Tanzes ist das einzig Wesentliche.[[3]]
Wenn wir in diesem stillen Punkt, in diesem Ruhepunkt wurzeln, dann werden wir die Einheit alles Seienden entdecken.
Und eine solche Entdeckung ist immer ein großes Geschenk, ein ganz unerwartetes Geschenk, ein Windfall, ein Fischfang, so groß, dass es sich nicht zählen lässt.
Die Sinnoffenheit von der wir hier sprechen: mit dem Herzen fühlen, das ist nicht nur eine sinnliche Angelegenheit.
Das hat sehr viel zu tun mit sozialen Problemen.
Mit der Ganzheit der Welt.
Wir öffnen uns der Welt als Ganzes. Das heißt: Wenn wir wirklich schauen lernen mit dem Herzen, dann schauen wir auf die Welt wie sie ist und schauen nicht weg, wenn es uns nicht gefällt.
Wir müssen Dinge ins Auge fassen, die wir eigentlich nicht gerne sehen.
Wir werden vielleicht das Weinen der Welt hören.
Das Weinen der Unterdrückten.
Wir werden vielleicht riechen, dass etwas faul ist im Staate Dänemark.
Wir werden, wenn wir uns zu Tisch setzen, das Salz der Tränen kosten, das mit aus der Dritten Welt importiert wird mit unsern Lebensmitteln.
Wir werden ‒ wenn wir wirklich ehrfürchtig fühlen lernen, das heißt, uns auch wirklich berühren lassen von dem, was wir berühren ‒, dann werden wir zutiefst berührt werden von dem Elend der Welt auch.
Nicht nur von allem Schönen. Von allem Schönen und von allem Schweren und allem Schrecklichen das es in unserer Welt gibt.
Und das fällt uns sehr schwer. Es ist aber eine große Aufgabe für uns alle.
2. Audios
2.1. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag und Fragerunde: Hl. Augustinus und die Erbsünde
Christlicher Glaube in heutiger Sprache:
Teil 4: Antworten aus «einem Stück» ‒ Mystik in Tabuzonen von Theologie, Gesellschaft und Kirche
2.2. Im Paradoxen Sinn erfahren (1989)
Vortrag und Dialog:
Teil 3:
(15:31) ‹Es ging um Opfer bringen, Leibfeindlichkeit und Abwehr von zu viel Freude› / (16:59) Manichäische Unterströmung unter dem Einfluss von Augustinus
3. Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021)
Der Dreischritt des horchenden Herzens, 32-52
Die Dankbarkeit der fünf Sinne, 53-79
Sinnlichkeit und christliche Askese, 80-99]
_____________________________
[[1]] Dieser Text ist eine Zusammenstellung aus der Transkription des Videos Wir sind daheim in dieser Welt (1975), dem Text von Bruder David Begegnung mit Gott durch die Sinne (1993) und Gebeten aus seinem Buch DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 10, 19, 18, 71, 54, 17, 12, 11
[[2]]: Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 56f.
«Wir sind daheim in dieser Welt, und das Kind in uns weiß es. Als Kinder zweifelten wir nicht einen Augenblick daran, dass Liebe diese Welt entwarf. Darum blickten unsere Augen noch ‹mit hellem Mut›. Wir hatten eben noch den Mut, die Welt arglos dankbar als das zu erkennen, was sie ist, als Gabe. Was verdüstert uns dann heute so oft hellen Mut und hellen Blick? Furcht. Wir fürchten uns auf die Güte des großen Gastgebers zu verlassen; Furcht, uns ehrfürchtig vor dem Geber zu neigen. Wir haben Furcht vor der Ehrfurcht. Und warum? Weil die Ehrfurcht Gott jene Mitte zugesteht, die wir uns so gerne selber anmaßen. Gerhard Terstegen hat mit wenigen Worten zielsicher auf das Entscheidende an der Ehrfurcht hingewiesen: Nicht wir sind in der Mitte, sondern Gott.
‹Gott ist gegenwärtig; lasset uns anbeten
Und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte …›
Wir müssen wählen zwischen Ehrfurcht und Furcht. Wer nicht den Mut zur Ehrfurcht hat, der fällt unweigerlich existentieller Angst zum Opfer. Nur die Ehrfürchtigen sind daheim in dieser Welt und wissen es.»
[[3]] Stillehalten und Transkription Anm. 3; siehe auch: Die Achtsamkeit des Herzens: Spiegel des Herzens (2021), 112 und 127f.:
… den Punkt erreichen, «den T. S. Eliot den ‹ruhenden Punkt der sich kreisenden Welt› nennt, den Ruhepunkt des großen Tanzes, den Gipfel, ‹wo Vergangenes und Zukunft vereint sind›.
‹Weder Fortgehen noch Hingehn,
Weder Steigen noch Fallen.
Wäre der Punkt nicht, der ruhende,
So wäre der Tanz nicht ‒
und es gibt nichts als den Tanz.›»
«Diese Erfahrung des Einklangs mit sich selbst und mit allem, ein Einklang, im Herzen der Welt gefunden, im ruhenden Punkt, diese Erfahrung ist immer Geschenk. Aber es ist eine Sache, spontan im ‹Augenblick des Glücks, … dem Blitz der Erleuchtung› davon überrascht zu werden, und eine ganz andere, sein ganzes Leben auf diesem Ruhepunkt aufzubauen und es auf ihn auszurichten. Dazu brauchen wir die Unterstützung anderer, die dasselbe Ziel verfolgen.»
Sinnenfreudiges Morgenlob
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Die klösterliche Stunde der Laudes[1] führt uns aus der Finsternis hinaus ins Licht. Mit den Laudes bekommen wir bei Sonnenaufgang den neuen Tag geschenkt. Die Vigil begleitete uns durch die feierliche Finsternis und die dunkle Ewigkeit der Nacht; jetzt feiern wir das Licht.
In Rilkes Stunden-Buch findet sich ein wunderschönes Gedicht, das speziell für die Laudes geschrieben sein könnte.
Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.
Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.
Es ist fast ein kleiner Schöpfungsmythos. Hier hört der Dichter, wie Gott im Schoß der Dunkelheit zu jedem von uns spricht, noch bevor wir geboren werden, bevor er uns vollendet. Dann begleitet Gott uns hinaus aus der Nacht.
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
weist er uns an,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Gott findet seine Äußerung in dieser Welt durch die Art und Weise, wie wir mit der geheimnisvollen Stille und Finsternis umgehen, aus der wir kommen. Jeder ist dazu bestimmt, das göttliche Geheimnis in seiner ganz persönlichen Eigenart auszudrücken.
Und während er uns ins Licht führt, spricht Gott zu uns:
Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken ...
Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.
Und zum Abschied sagt er uns:
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.
Dieses neue Land, in das wir gesandt werden, ist Gottes Geschenk: sein erhabenes Geschenk, das Geschenk des Lebens, das Geschenk des Seins.
Das Geschenk in jedem Geschenk ist immer die Gelegenheit, die es enthält. Meistens ist es die Gelegenheit, sich zu freuen und den Augenblick zu genießen. Wir achten nie genug auf die vielen Gelegenheiten, die wir täglich erhalten, einfach um uns zu freuen: an der Sonne, die durch die Bäume scheint, über den Tau, der auf einer eben aufgegangenen Blume glitzert, am Lächeln eines Säuglings oder über eine lang erwartete Umarmung. Oft gehen wir wie im Schlaf durchs Leben, bis etwas kommt, an dem wir keine Freude haben: Erst dann werden wir wachgerüttelt.
Wenn wir lernen, die zahllosen Gelegenheiten wahrzunehmen, die uns Grund geben zur Freude am Geschenk des Lebendigseins, dann sind wir vorbereitet, wenn die Zeit kommt, die etwas Schwieriges von uns verlangt. Dann werden wir auch in dieser Herausforderung eine Gelegenheit erkennen und ihr dankbar gerecht werden.
Das Leben ist uns gegeben; jeder Augenblick ist uns gegeben. Dafür ist Dankbarkeit die einzig passende Antwort.
Freude ist jene Art von Glück,
das nicht davon abhängt,
was uns zustößt.
Meist sind wir glücklich, wenn uns etwas glückt und unglücklich, wenn es uns missglückt.
Wissen wir aber wirklich, was gut für uns ist?
Was erlaubt uns, so wählerisch zu sein?
Wahre Freude finden wir erst, wenn wir uns aus ganzem Herzen auf die Gelegenheit einlassen, die uns gerade Jetzt geschenkt ist.
Nur in dieser Hingabe finden wir wahre Freude und beständiges Glück, unabhängig davon, was sonst geschieht.
Selbstverständlich ist es oft schwierig, diese Haltung einzunehmen, wenn wir uns plötzlich in einer unangenehmen oder gar tragischen Situation befinden. Wenn wir aber mit einfachen Dingen beginnen, dann wird uns die Haltung der Dankbarkeit nach und nach zur zweiten Natur.
Haben wir nicht Augen, die wir im Morgenlicht öffnen können? Haben wir nicht Ohren, um auf Geräusche zu hören, und Füße; um zu gehen, und Lungen, um zu atmen? Was für Geschenke! Sollten wir nicht dankbar sein und uns an ihnen erfreuen?
Ich verbinde die Laudes immer mit den hohen Fenstern des Oratoriums. Wenn die Gesänge der Laudes an einem Wintermorgen erklingen, sind die Fenster noch immer völlig dunkel. Kaum aber dämmert das erste Licht, beginnen die Farben in den Scheiben zu leuchten und langsam treten Formen und Figuren hervor und werden erkennbar. Diese Klosterfenster in der Dämmerstunde sind für mich ein kraftvolles Bild für das, was geschieht, wenn wir unsere Augen in Dankbarkeit für alles öffnen, was uns begegnet: Wir sehen göttliches Licht durch alles, was ist, hindurchleuchten.
Was für ein Geschenk, jeden Morgen irgendeinem Teil der Natur zu begegnen. Vielleicht haben wir gar nie richtig darauf geachtet auf den Morgenhimmel, auf wiegende Bäume im Wind, auf singende Vögel, oder auf Blumen, die soeben erblühen.
Die Natur ist einfach da; sie hat keinen unmittelbaren Nutzen; sie ist ein reines Geschenk der Schönheit und des Lebens.
Gerard Manley Hopkins sagt:
Tief drinnen in den Dingen lebt die kostbarste Frische.[2]
Und diese ursprüngliche Frische wird jeden Morgen erneuert.
Solange wir unsere Wege gehen und die Dinge als selbstverständlich hinnehmen, werden wir das Licht nie sehen; die Wirklichkeit bleibt undurchlässig wie die Klosterfenster, bevor die Sonnenstrahlen sie zu Wänden aus Licht machen.
In dem Maß, in dem wir Überraschungen in unser Leben hereinfließen lassen, wird unser ganzes Leben lichtdurchlässig. Überraschung ist noch nicht Dankbarkeit, aber mit ein bisschen gutem Willen wächst sie von ganz allein zu Dankbarkeit heran.
Wenn das Licht des frühen Morgens auf das Geschenk des Daseins aufmerksam macht, so durchdringt dieses Mysterium jede Antwort, die wir geben können. Und diese Transzendenz, diese Überfülle ist ein wesentlicher Bestandteil der göttlichen, freizügig geschenkten Gabe, die eine tägliche Einladung zu einer neuen Antwort aus ganzem Herzen ist und zum spontanen Lobpreis ‒ dem Choral ‒ inspiriert.
Die Gregorianischen Gesänge sprechen das Kind in uns an, weil sie die reine Freude am Lebendigsein ausdrücken.
Die Freude äußert sich im Lobpreis Gottes und durchzieht sogar die klagenden Melodien der Gesänge.
Freude ist etwas, das wir pflegen können: wenn wir erst einmal diese dankbare Freude in den Gesängen hören und ihre Schönheit unser Herz ergreift, dann können wir auf leichte und natürliche Weise anfangen, Dankbarkeit zu üben.
Die schlanken melodischen Linien des Gregorianischen Chorals in ihrer Einfachheit und überirdischen Schönheit wecken unsere volle Aufmerksamkeit.
Sie entspringen einer tiefen Stille, und haben die Kraft, uns selbst still werden zu lassen, wenn wir sie nicht nur mit den Ohren aufnehmen, sondern mit dem Herzen.
Diese Musik stumpft niemals unser Gehör ab, sondern verfeinert es.
Ihre «asketische» Schönheit und ihre lautere Sinnlichkeit vermitteln den Hörenden mühelos Sammlung und jene besondere Lebenshaltung, die daraus entspringt.[3]
Wach auf!
heißt es in einer ganz frühen christlichen Hymne:
Wach auf, der du schläfst,
steh auf von den Toten,
so wird dich Christus erleuchten.[4]
Das bedeutet zwar mehr, als dass unsere Sinne wach werden müssen, setzt es aber zumindest unbedingt voraus.
Wie soll unser Herz hellhörig sein, solange unsere Sinne abgestumpft bleiben?
Ist nicht schon das Wiederlebendigwerden unserer halbtoten Sinnlichkeit ein Aufstehen von den Toten?
Auf also endlich!
ruft uns der Heilige Benedikt im Prolog zur Regula zu:
«Auf also endlich, auf mit uns, denn die Heilige Schrift spornt uns an, wenn es heißt:
Jetzt ist die Stunde da, vom Schlafe aufzustehen.
Unsere Augen offen für das Licht, das uns göttlich macht, lasst uns auf die göttliche Stimme horchen, die in unseren Ohren donnert, wenn sie uns täglich ruft und ermahnt und spricht:
Heute, wenn ihr seine Stimme hört,
verhärtet nicht eure Herzen!
Das Wort vom «Licht, das uns göttlich macht» ist eines der kühnsten im Schrifttum der christlichen Überlieferung.
Nur solche Kühnheit aber wird der Frohbotschaft gerecht.
Christus ist das Licht der Welt. In ihm, durch ihn und auf ihn hin ist alles erschaffen ‒ vom «es werde Licht», bis zum «es war sehr gut».
In seinem Lichte sehen wir das Licht und in diesem Licht finden wir ihn als Urgrund alles Geschaffenen.
Indem wir ihn da finden, finden wir zugleich den Sinn alles Geschaffenen und uns selbst.
Sinn aller Schöpfung ist es ja, Gottes Liebe zu offenbaren.
Christus ist Offenbarung von Gottes Liebe; und das müssen auch wir selber werden.
Er ist Ebenbild des unsichtbaren Gottes.
Da wir als Gottes Ebenbild geschaffen sind, finden wir unser wahres Selbst, wenn wir im Herzen aller Dinge ihn finden.
Dem kühnen Wort des Heiligen Benedikt entspricht das berühmte Wort Meister Eckeharts:
Das Auge, mit dem ich Gott anschaue,
ist das Auge, mit dem mich Gott anschaut.[5]
Das findet seine Vollendung in der visio beatifica des Himmels.
Es beginnt aber mit unserer dankbaren Sinnlichkeit hier auf Erden.[6]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3, 6]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen
(55:55) Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht (Das Stunden-Buch)
1.2. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn
(20:46) ‹Wach auf, du Schläfer› (Eph 5,14)
(46:03) ‹Öffnen wir also unsere Augen für das Licht, das uns göttlich macht› (RB prol 9)
2. Weitere Texte
2.1. Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 268f.: Der Text ist aus «Der Dreischritt des horchenden Herzens» im Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021), 35f.:
«In unserem Herzen ist Gott uns näher, als wir uns selber sind. Der Heilige Augustinus versichert uns dies aus seiner mystischen Erfahrung, und wir ahnen es aus unserer eigenen. Zugleich weiß Augustinus aber auch (und wir wissen es), dass unser Herz ruhelos sei, bis es heimfinde zu seinem Ausgangspunkt, heim zur göttlichen Mitte.
Vom Ursprung unserer Ruhelosigkeit sagt Rilke:
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand …
Was aber ist diese Sehnsucht? Ist sie nicht letztlich Heimweh? Heimweh nach jenem Urquell von Sinn, den wir Gott nennen. Und der quillt in unserem innersten Herzen auf. Die Sinne senden uns hinaus. Und nur so können wir dahin kommen, wo wir immer schon sind. Unsere Ausfahrt zum äußersten Rand unserer Sehnsucht ist Heimkehr zur Herzmitte. Sinn finden wir, wenn wir mit dem Herzen horchen lernen.»
2.2. Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019):
«Wenn der heilige Benedikt seinen Mönchen als Ziel setzt, ‹dass in allem Gott verherrlicht werde›, dann geht es ihm um mehr als darum, Gott Ehre zu erweisen. Er zitiert ja hier den ersten Petrusbrief (4,11) – ‹dass in allen Dingen Gott geehrt werde› – ersetzt aber ‹geehrt werde› (honorificetur) durch ‹verherrlicht werde› (glorificetur). Es geht ihm also nicht so sehr um die Ehrerbietung, die wir Gott erweisen, sondern umgekehrt: um die Herrlichkeit, die Gott vor uns erstrahlen lässt. So gut und wichtig unser menschliches ‹Alles-meinem-Gott-zu-Ehren› auch ist, im Vergleich zum Donnerschlag der göttlichen Glorie ist es kaum eine Knallerbse. Wir Menschen können Gott ehren, aber nur Gott selbst kann Herrlichkeit wie Wetterleuchten aufblitzen lassen. Und das ereignet sich in Augenblicken dankbaren Gehorsams, wenn wir, ‹attonitis auribus› (RB Prol 9) – mit dem Donnerkrachen der Gottesstimme in unseren Ohren – auf diesen Ruf hören und darauf antworten. Der Gehorsam und die Dankbarkeit öffnen unsere Augen für das ‹lumen deificum› (RB Prol 9), jenes Taborlicht (Mt 17; Mk 9; Lk 9), das die ganze Schöpfung verklärt, indem es sie durchscheinend macht für Gottes Herrlichkeit.»
2.3. Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 26f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 23f.]:
«Wir können lernen, unseren Sinn für Überraschungen nicht nur durch das Außergewöhnliche anklingen zu lassen, sondern vor allem durch einen frischen Blick für das ganz Alltägliche.
‹Natur ist niemals verbraucht›, sagt Gerard Manley Hopkins und preist Gottes Größe. ‹Ganz tief in den Dingen lebt die köstlichste Frische.›[7]
Die Überraschung des Unerwarteten vergeht, aber die Überraschung über jene Frische vergeht niemals. Bei Regenbogen ist das offensichtlich. Weniger offensichtlich ist die Überraschung jener Frische in den allergewöhnlichsten Dingen. Wir können lernen, sie so klar zu sehen, wie wir den puderartigen Reif auf frischen Blaubeeren sehen können, ‹ein Schleier aus dem Atem eines Windes›, wie Robert Frost das nennt, ‹ein Glanz, der mit der Berührung einer Hand vergeht.›
Wir können uns dazu trainieren, uns für jenen Hauch von Überraschung empfänglich zu machen, indem wir ihn zunächst dort entdecken, wo wir ihn am leichtesten finden. Das Kind in uns bleibt immer lebendig, immer offen für Überraschungen; nie hört es auf, vom einen oder anderen erstaunt zu sein.
Vielleicht sah ich ‹an diesem Morgen des Morgens Liebling›, Gerard Manley Hopkins ‹vom Morgengrauen gezogenen Falken schweben›[8], oder einfach die zwei Zentimeter Zahnpasta auf meiner Zahnbürste.
Für das Auge des Herzens sind sie alle gleich erstaunlich, denn die allergrößte Überraschung ist die, dass es überhaupt etwas gibt ‒ dass wir hier sind.
Den Geschmack unseres Intellekts für Überraschung können wir kultivieren. Und alles, was uns erstaunt aufschauen lässt, öffnet ‹die Augen unserer Augen›.
Wir fangen an, alles als Geschenk zu betrachten. Ein paar Zentimeter Überraschung können zu Meilen von Dankbarkeit führen.»
2.4. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 32-35]
__________________
[1] Die Laudes (Plural von lat. laus‚ Lob, Lobgesang) sind das Morgengebet der Mönche bei Tagesanbruch
[2] «God’s Grandeur
The world is charged with the grandeur of God.
It will flame out, like shining from shook foil;
It gathers to a greatness, like the ooze of oil
Crushed. Why do men then now not reck his rod?
Generations have trod, have trod, have trod;
And all is seared with trade; bleared, smeared with toil;
And wears man's smudge and shares man's smell: the soil
Is bare now, nor can foot feel, being shod.
And for all this, nature is never spent;
There lives the dearest freshness deep down things;
And though the last lights off the black West went
Oh, morning, at the brown brink eastward, springs ‒
Because the Holy Ghost over the bent
World broods with warm breast and with ah! bright wings.»
«Gottes Größe
Die Welt ist erfüllt von Gottes Größe.
Ihr Feuer bricht auf wie aus Spiegelscherben.
Sie strömt ins Große wie gepresstes Öl aus den Kerben.
Warum kniet vor ihr nicht des Menschen Blöße?
Menschenalter immerfort in neuen Gleisen reisen und kreisen.
Und alles verdorrt vom Getriebe, verrucht, verflucht von Qualen.
Alles starrt von Menschenschmutz, riecht nach Menschenschweiß: ohne Schalen
liegt die Erde nackt, kein Fuß kann fühlen mit Sohlen aus Eisen.
Und doch ist von alldem Natur nicht ganz zuschanden.
Es ist noch aus Lebenstiefen köstlichste Frische zu trinken.
Auch wenn die letzten Schimmer im schwarzen Westen verschwanden,
o Morgen, über dem braunen Saum gen Osten, dein Winken ‒
denn der Heilige Geist brütet über den Banden
der Welt mit warmem Flaum und ah! seine Flügel blinken.»
Gerard Manley Hopkins: ‹Poems and Prose› (Penguin Classics, 1985); übersetzt von Detlev Wilhelm Klee
[3] Auszüge aus Musik der Stille (2023), 48-56, 58: Laudes: Tagesanbruch
[4] Eph 5,14
[5] «Soll mein Auge die Farbe sehen, so muss es ledig sein aller Farbe. Sehe ich blaue oder weiße Farbe, so ist das Sehen meines Auges, das die Farbe sieht ‒ ist eben das, was da sieht, dasselbe wie das, was da gesehen wird mit dem Auge. Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben.» (Meister Eckhart: Predigt ‹Qui audit me›)
[6] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 279f.: Der Text ist aus «Der Dreischritt des horchenden Herzens» im Buch
Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021), 51f.
[7] Siehe Anm. 2
[8] «The windhover
I caught this morning morning's minion, king-
dom of daylight's dauphin, dapple-dawn-drawn Falcon, in his riding
Of the rolling level underneath him steady air, and striding
High there, how he rung upon the rein of a wimpling wing
In his ecstasy! then off, off forth on swing,
As a skate's heel sweeps smooth on a bow-bend: the hurl and gliding
Rebuffed the big wind. My heart in hiding
Stirred for a bird, – the achieve of, the mastery of the thing!
Brute beauty and valour and act, oh, air, pride, plume, here
Buckle AND the fire that breaks from thee then, a billion
Times told lovelier, more dangerous, O my chevalier!
No wonder of it: shéer plód makes plough down sillion
Shine, and blue-bleak embers, ah my dear,
Fall, gall themselves, and gash gold-vermilion.»
«Der Windgleiter
Ich fing heut Morgen des Morgens Liebling, den Königssohn
im Reich des Tageslichts, den Falken im getupften Dämmerkleid, er ritt
übers Hügelland, unter ihm die stille Luft, und schritt
hoch daher, wie flog über Flatterflügels Zügel der schrille Ton
in seinem Rausch! Dann weg, weit weg im Schwunge schon,
wie ein Schlittschuh sanft die Schleife saust: Sturz und Gleiten
stieß vor sich her der große Wind. Meines Herzens stumme Saiten,
ein Vogel schlug sie wach ‒ ihn zu erlangen, Ihn zu fangen war mein Lohn!
Wüste Schönheit und Mut und Tat, o Luft Stolz, Gefieder,
hier knicke ein! Und die Feier, die da aus dir brechen ohne Zahl,
ihren Zauber, ihre Fährnis, o mein Troubadour, fassten besser deine Lieder!
Wen nimmt es wunder: Schiere Schufterei pflügt tausendmal
die Lichter unter, und blau-graue Aschenglut fällt hernieder,
mein Teurer, sie sauert ein, und Goldrubine sickern aus dem Wundenmal.»
Gerard Manley Hopkins: ‹Poems and Prose› (Penguin Classics, 1985); übersetzt von Detlev Wilhelm Klee
Sinnlichkeit
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Sinnlichkeit ist leider nicht gut angeschrieben bei manchen, die sich dabei noch besonders christlich vorkommen. Jesus Christus würde sich allerdings nicht recht wohl fühlen mit einer so verstandenen Christlichkeit. Er selbst war so sinnenfreudig, dass seine Gegner ihn einen «Fresser und Weinsäufer» nannten (Matthäus 2,19). Die so urteilten, kamen sich schon damals besonders religiös vor in ihrer Eingeengtheit. Seine Freunde aber erlebten in der Begegnung mit ihm ganz sinnfällig die befreiende Weite von Gottes Gegenwart. Im Leuchten seiner Augen sahen sie Gottes Herrlichkeit. Im Klang seiner Stimme wurde Gottes Wort für sie laut. Wenn er sie anrührte, dann wurde der Gottesbegriff handgreifliche Wirklichkeit. Und von da ist es nur ein kleiner Schritt zur Erkenntnis, dass alles, was unsere Sinne wahrnehmen, Gottesoffenbarung sein will. Das hat unser hellhöriges Herz ja schon immer geahnt.
Gesunder Menschenverstand sagt uns ja schon, dass nichts in unserem Verstand zu finden sei, was nicht zuerst durch die Sinne Eingang fand. Alle unsere Begriffe sind im Begreifen verwurzelt. Wer sich an diesen Wurzeln nicht die Hände beschmutzen will, dessen säuberliche Begrifflichkeit wird bald entwurzelt vertrocknen. Von Übersinnlichkeit ist nur ein kleiner Schritt zur Widersinnlichkeit. Das Unsinnliche wird leicht zum Unsinn. Einem Leben aber, das im Sinnlichen verwurzelt ist, ohne darin verstrickt zu sein, wird daraus immer frischer Sinn erwachsen und immer neue Lebensfreude. Bleibende Freude überdauert freilich die verwelklichen Sinne. Sie übersteigt und übertrifft das Nur-Sinnliche. Nie aber ist echte Lebensfreude dem Sinnlichen entfremdet, so weit sie auch darüber hinauswächst.
Entfremdung von den Sinnen widerspricht so völlig echter Menschlichkeit und echter Christlichkeit, dass wir uns wundern müssen, wie wir uns je da hinein verirren könnten. Die Möglichkeit für eine solche Verirrung ist aber in unserem menschlichen Grundbewusstsein vorgegeben. Dieses ist nämlich zweifach. Einerseits erleben wir uns selbst als leiblich. Wir schauen in den Spiegel und sagen: «Das bin ich.» Andererseits sagen wir aber: «Ich habe einen Körper», weil unser Selbst doch irgendwie über das rein Körperliche, das wir im Spiegel sehen, hinausgeht. Der Geschmack von Walderdbeeren, unsere Zahnschmerzen, oder das Wohlbefinden nach dem Bad, das sind offenbar körperliche Erfahrungen. Von Reue, Heimweh oder heiliger Scheu können wir das nicht mit derselben Überzeugung behaupten. Weil also sowohl Sinnliches wie Übersinnliches zu unserem Erleben gehört, besteht die Gefahr, das wirklich Menschliche ausschließlich in einem dieser beiden Bereiche zu suchen. Aber wir Menschen sind Überbrücker. Unsere große Aufgabe ist es, zwischen den beiden Bereichen menschlichen Bewusstseins keinen Zwiespalt aufkommen zu lassen. Ein Mensch, der das Übersinnliche nicht anerkennt und pflegt, sinkt tief unter das Tier. Wer aber das Sinnliche vernachlässigt oder verleugnet, kann sich gerade deshalb nicht darüber erheben. [ST 121f., Quelle: AH 1-2) 33-36; 3-5) 32-34]
Sinnorgan Herz
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Herz steht hier für den Kern unseres Wesens, in dem wir mit uns selbst eins sind, eins mit allen, eins sogar mit dem göttlichen Grund unseres Wesens.
Deswegen ist ein Schlüsselwort für das Verständnis des Herzens der Begriff Dazugehören ‒ das Einssein im grenzenlosen Dazugehören.
Ein zweites Schlüsselwort ist Sinn, denn das Herz ist das Organ für den Sinn.
Wie das Auge Licht wahrnimmt und das Ohr Klang, so nimmt das Herz Sinn wahr.
Gemeint ist hier nicht Sinn mit der Bedeutung, wie wir im Wörterbuch den Sinn eines Begriffs nachschlagen, sondern Sinn als das, was wir meinen, wenn wir eine Erfahrung als zutiefst sinnvoll bezeichnen.
Sinn mit dieser Bedeutung ist das, worin wir Ruhe finden.[1]
«Ruhelos ist unser Herz.» So drückte Augustinus[2] es aus. Der Kern unseres Wesens ist ein unerbittliches Fragen, Suchen, Sehnen. Selbst das Schlagen des Herzens in meiner Brust scheint lediglich das Echo eines tieferen Hämmerns in mir zu sein, eines Klopfens an eine verschlossene Tür. Noch nicht einmal das ist mir klar: Klopfe ich, um hereinzukommen, oder klopfe ich, um herauszugelangen? Eins aber ist gewiss:
«Ruhelos ist unser Herz, bis ...» Bis was? Bis wir Ruhe finden.
Was aber kann unseren existentiellen Durst löschen?
«Wie ein Hirsch, der da lechzt nach Wasserbächen, so lechzt meine Seele nach dir, o Gott» (Psalm 42,2).
Ein glücklicher Psalmist, konnte er doch dem einen Namen geben, wonach es uns durstend verlangt.
Welchen Namen aber sollten wir heute verwenden? Heute werden viele, deren Durst nicht weniger brennt, den Namen «Gott» nicht gebrauchen wollen, und das wegen jener unter uns, die ihn verwenden. Wir haben ihn missbraucht und sie damit verwirrt. Gelingt es uns, einen anderen Namen zu finden für das, was unserem Herzen Ruhe gibt?
Der Begriff «Sinn» bietet sich von selbst an.
Finden wir Sinn in unserem Leben, dann finden wir Ruhe. Das ist zumindest ein Ansatzpunkt für eine Antwort.
Wir wollen einmal davon ausgehen, dass wir wissen, was Sinn bedeutet. Wir wissen jedenfalls, dass wir zur Ruhe kommen, wenn wir etwas sinnvoll finden. Hier handelt es sich um eine Sache der Erfahrung, und das ist alles, was wir über Sinn wissen.
Sinn ist einfach das, worin wir Ruhe finden. Das aber ist gerade das Herz.
Es scheint ein Widerspruch zu sein. Und doch ist unser ruheloses Herz der einzige Ort, an dem wir Ruhe finden, wenn wir «am Ende all unseres Suchens» dort ankommen, wo wir anfingen und «den Ort zum ersten Mal kennen.»[3]
Das Herz zu kennen bedeutet zu wissen, dass es Tiefen kennt, die zu tief sind, um mit dem Verstand ausgelotet zu werden: die Tiefen des göttlichen Lebens in uns. Das Herz, das schließlich in Gott Ruhe findet, ruht in seiner eigenen unauslotbaten Tiefe.
Ein Gebet aus Rilkes Stunden-Buch lässt diese Intuitionen zu poetischen Bildern kristallisieren. Wieder beginnt Rilke mit der Polarisierung von Lärm und Ruhe.
Diesmal ist es die Versammlung von Widersprüchen in unserem Leben, die den Palast unseres Herzens mit einem ausgelassenen Narrenfest füllt. Natürlich ist es unmöglich, die Widersprüche alle auf einmal aus unserem Leben zu verbannen. Das Leben selbst ist widersprüchlich. Aber wir können Widersprüche in den großen ursprünglichen Symbolen zusammenlaufen lassen, wie das Symbol des Herzens eines ist. Gelingt uns das, dann beginnt eine große Stille zu herrschen, eine Stille, die auf heitere Weise festlich und sanft ist. Und in der Mitte dieser Stille steht Gott als ein Gast, als die ruhende Mitte unserer Monologe, als das temporäre Zentrum, eines Kreises, dessen Peripherie über die Zeit hinausreicht.
«Wer seines Lebens viele Widersinne
versöhnt und dankbar in ein Sinnbild faßt,
der drängt die Lärmenden aus dem Palast,
wird anders festlich, und du bist der Gast,
den er an sanften Abenden empfängt.Du bist der Zweite seiner Einsamkeit,
die ruhige Mitte seinen Monologen;
und jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.»
Ruht unser Herz an der Quelle allen Sinnes, dann kann es auch allen Sinn fassen.
So verstanden ist Sinn etwas, das sich nicht in Worte fassen lässt.
Sinn lässt sich nicht wie eine Definition in einem Buch nachschlagen.
Sinn ist nichts, das sich greifen, halten und aufbewahren lässt.
Sinn ist nichts …
Vielleicht sollten wir diesen Satz hier abbrechen.
Sinn ist nicht Etwas unter anderem.
Eher könnte man ihn mit Licht vergleichen, in dem wir alles andere überhaupt erst sehen.
Ein anderer Psalm ruft Gott durstigen Herzens an:
«Denn bei dir ist der Brunnquell des Lebens, und in deinem Lichte schauen wir Licht» (Psalm 36,9).
Durstend nach der Fülle des Lebens, dürstet unser Herz nach dem Licht, das uns den Sinn des Lebens schauen lässt.
Finden wir Sinn, dann wissen wir es sofort, denn unser Herz findet Ruhe.
Immer ist es unser Herz, worin wir Ruhe finden.
Wie unsere Augen nur auf Licht und unsere Ohren nur auf Töne reagieren, so reagiert das Herz einzig auf Sinn.
Das Organ für Sinn ist das Herz.[4]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1 und 4]
[Ergänzend:
1. Video Der Sinn des Lebens (2011):
«Ich finde es hilfreich, wenn man sich bewusst macht, dass Sinn das ist, worin unser Herz Ruhe findet. Und das hat immer mit Beziehungen zu tun, immer mit Zugehörigkeit: Liebe als das gelebte Ja zur Zugehörigkeit, zum Zusammensein, ist der Sinn des Lebens, nach dem das menschliche Herz sich im Tiefsten sehnt.»
2. Audios zu «Sinn und Herz»:
2.1. Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(06:45) Augenblicke in denen wir als ganze Menschen da sind, oft ganz unverhofft, auch in schwierigen Situationen, Augenblicke, in denen uns die Wirklichkeit berührt, die wir oft auf Armeslänge von uns fernhalten, Herzensaugenblicke: Das Herz ist das Organ für Sinn und die tiefste Sinnsuche des Menschen ist allen Religionen gemeinsam
2.2. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag:
(30:50) Sinn ist das, worin unser Herz Ruhe findet
2.3. Beten ‒ Mit dem Herzen horchen (1988)
Gesamter Vortrag:
(18:57) Unser Herz ‒ Organ für Sinn
3. Audios zu Gedichten:
«Wer seines Lebens viele Widersinne» (R. M. Rilke, Das Stunden‒Buch), in:
Fragen, die uns bewegen (2005):
(28:44) Vortrag
Mit dem Herzen horchen (1988):
(06:26) Vortrag
«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften …» (T.S. Eliot, Four Quartets: Little Gidding, V), in:
Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsreferat, Vortrag:
(15:08) Hungern nach Weisheit und Sinn – Unruhig ist unser Herz (Augustinus) – Wir lassen niemals vom Entdecken / Und am Ende allen Entdeckens / Langen wir, wo wir losliefen, an / Und kennen den Ort zum ersten Mal. / Durchs unbekannte, erinnerte Tor (T.S. Eliot)
4. Weitere Texte:
4.1. RUHE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 154:
«Ruhe wollen wir von Stille unterscheiden. Es gibt ja auch ruhelose Stille. Andererseits gibt es auch Ruhe die Stille nicht unbedingt voraussetzt. Diese innere Ruhe, auch inmitten eines bewegten und geräuschvollen Alltags beizubehalten, ist ein herausforderndes Ziel, das wir aber anstreben müssen. Ruhe in diesem Sinne ist nicht eine Art Grabesruhe, sondern ganz im Gegenteil Ausdruck höchst dynamischer Lebendigkeit. Sie entspringt dem Bewusstsein, jeden Augenblick dem Großen Geheimnis gegenüberzustehen, ja mehr: ihm mit jedem Atemzug zu begegnen.
Bernhard von Clairvaux (1090-1153), der das Große Geheimnis Gott nennt, sagt über diese Begegnung:
‹Der ruhige Gott beruhigt alles und wer sich in die Ruhe Gottes versenkt, ruht.›»
4.2. Vor 50 Jahren (1972) eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Im wahren Wort muss unser Herz zur Sprache kommen; das Herz als unser innerstes Zentrum, unser innerstes Schweigen, muss zu Wort kommen.
Das wahre Wort ist Ausdruck des Schweigens; es ist sozusagen schwanger mit Schweigen.
Das Wort muss ins Schweigen aufgenommen werden, so wie die Saat in die schweigende Erde fallen muss.
Das Wort muss von Herz zu Herz gehen, muss das Schweigen eines Herzens dem Schweigen eines anderen Herzens mitteilen mittels des Wortes.» (41)]
Auf dem Weg der Stille (2016), 24
«Der große Lehrmeister bezüglich des Herzens ist in der christlichen Tradition der heilige Augustinus. Dass er Afrikaner war, mag ein Grund dafür sein, dass er besonders achtsam mit Seele und Herz umging. Er lebte zur Zeit des Zusammenbruchs des Römerreichs an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert ‒ was den Zusammenbruch der damals bekannten Welt bedeutete ‒, wandte sich nach innen und entdeckte das Herz. In der christlichen Kunst wird er so dargestellt, dass er mit der Hand ein Herz hochhält.
Der heilige Augustinus schrieb: ‹In meinem innersten Herzen ist Gott mir näher als ich mir selbst nahe bin.›
Paradoxerweise schrieb er auch: ‹Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, o Gott.›
Das erste dieser beiden Zitate bringt unsere tiefste Sehnsucht zum Ausdruck, das zweite unsere rastlose Sehnsucht nach endgültigem Sinn.
Am Ende unserer Suche entdecken wir den Sinn unseres Dazugehörens.
Und die Antriebskraft der spirituellen Suche ist unsere Sehnsucht nach dem Dazugehören.» [Auf dem Weg der Stille (2016), 24f.]
«We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.
Through the unknown, remembered gate
When the last of earth left to discover
Is that which was the beginning …»«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften
Und das Ende unseres Kundschaftens
Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen
Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.
Durchs unbekannte, erinnerte Tor.
Wenn der letzte unentdeckte Flecken
Der ist, der am Anfang war …»
T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V, in: Stillehalten; [siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114]
Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018) im Kp. «Herz und Sinn», 35-38 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 33-36]]
___________________________
[1] Auf dem Weg der Stille (2016), 24
[2] «Der große Lehrmeister bezüglich des Herzens ist in der christlichen Tradition der heilige Augustinus. Dass er Afrikaner war, mag ein Grund dafür sein, dass er besonders achtsam mit Seele und Herz umging. Er lebte zur Zeit des Zusammenbruchs des Römerreichs an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert ‒ was den Zusammenbruch der damals bekannten Welt bedeutete ‒, wandte sich nach innen und entdeckte das Herz. In der christlichen Kunst wird er so dargestellt, dass er mit der Hand ein Herz hochhält.
Der heilige Augustinus schrieb: ‹In meinem innersten Herzen ist Gott mir näher als ich mir selbst nahe bin.›
Paradoxerweise schrieb er auch: ‹Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, o Gott.›
Das erste dieser beiden Zitate bringt unsere tiefste Sehnsucht zum Ausdruck, das zweite unsere rastlose Sehnsucht nach endgültigem Sinn.
Am Ende unserer Suche entdecken wir den Sinn unseres Dazugehörens.
Und die Antriebskraft der spirituellen Suche ist unsere Sehnsucht nach dem Dazugehören.» [Auf dem Weg der Stille (2016), 24f.]
[3] «We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.
Through the unknown, remembered gate
When the last of earth left to discover
Is that which was the beginning …»
«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften
Und das Ende unseres Kundschaftens
Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen
Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.
Durchs unbekannte, erinnerte Tor.
Wenn der letzte unentdeckte Flecken
Der ist, der am Anfang war …»
T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V, in: Stillehalten; [siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114]
[4] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018) im Kp. «Herz und Sinn», 35-38 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 33-36]
Spiritualität
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Nicht nur unsere innere Gesundheit, auch unser körperliches Wohlbefinden wird weit mehr von unserer Spiritualität beeinflusst, als wir zu denken gewohnt waren.
Das erklärt sich schon aus dem Wort Spiritualität selbst. Da spiritus im Lateinischen Lebensatem heißt, ist Spiritualität unsere Lebendigkeit, die höchste Schwingungsfrequenz unseres Lebens sozusagen. Die ganze Bandbreite des Lebens in all seinen Formen und Graden ist ein Schwingungsganzes. Wenn wir bei diesem Bilde bleiben, können wir uns unsere Beziehung zum tiefsten Daseinsgrund ‒ zu Gott, wenn wir das Wort verwenden wollen ‒ als Erdung des Lebensstromes vorstellen.
Das Bild der elektrischen Erdung kann uns auch helfen, die Kluft zwischen Spiritualität und Religion verstandesmäßig zu überbrücken. Das Wort Religion kommt wohl von dem lateinischen Wort re-ligare her, weist also auf ein Wiederverbinden hin von etwas, das auseinander gerissen wurde. In diesem Sinne dürfen wir Religion als die Wiederherstellung abgebrochener Verbindungen verstehen ‒ Verbindungen zu unserem eigenen innersten Selbst, zu unserer Mitwelt in Gesellschaft und Natur und zu dem tiefsten Grund des Seins. So gesehen ist Religion die spirituelle Erdung in unserer eigenen Tiefe, die zugleich die unauslotbare Tiefe ist, aus der das ganze Universum entspringt. Religion reicht also tiefer als die einzelnen Religionen; sie ist die gemeinsame mystische Matrix, der spirituelle Humus, worin sie alle trotz ihrer Verschiedenheit gemeinsam wurzeln.
Leider betont das in unserer Kultur vorherrschende Gottesbild nicht die «Erdung» im göttlichen Grund, sondern vielmehr die Trennung. Gott wird als der übergroße Jemand gesehen, als völlig anderer und von uns absolut getrennter. Er ‒ und die Idee eines männlichen Gottes herrscht selbst unter jenen vor, die sich dagegen wehren ‒ er ist irgendwo «da oben» und wir sind hier. Eine unüberbrückbare Kluft liegt zwischen Gott und uns Menschen, zwischen Gott und allem, was es gibt. Die Vorstellung, dass Gott der absolut Andere und von uns Getrennte sei, macht uns entwurzelt. Nicht geerdet hängen die Drähte unserer Spiritualität in der Luft.
[ST 125f., Quelle: Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis 76f.]
Sterben
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Freudig zu leben ‒ darum geht’s uns allen, auch wenn wir glauben, wir müssen uns unglücklich machen, um wirklich freudig zu leben ‒ das gibt es, nicht so selten der Fall ‒, das Ziel ist doch immer, freudig zu leben.
Um wirklich freudig zu leben, müssen wir auch mit dem Sterben auskommen. Das Sterben gehört zum Leben dazu und wir müssen irgendwie auch unser Sterben verstehen.
Sterben lernen heißt leben lernen und leben lernen heißt sterben lernen.
Und da können wir jetzt einen anderen Ansatz machen ‒ wir werden sofort sehen, wie eng die beiden verbunden sind ‒, und zwar können wir wieder der Sprache nachforschen und sehen, dass wir sagen: Ich habe einen Leib. Das ist eine sehr sonderbare Feststellung. Wer hat denn diesen Leib? Wer sagt denn das? Das ist ein Leib, der das sagt; wenn er keinen Mund hätte, könnte er es nicht sagen: Ich habe einen Leib. Ist da so ein Kleiner irgendwie, der da drinnen sitzt und einen Leib hat. Sonderbare Situation:
Ich bin ein Leib, der da sagt, ich habe einen Leib. Und das ist das Geist Materie Problem, auf das wir auch immer wieder stoßen.
In unserem Selbst, weil wir eben in diesem Doppelbereich von Materie und Geist leben, kennen wir etwas, was nicht gemessen und nicht geteilt werden kann, und alles, was materiell ist, kann gemessen und geteilt werden. Aber unser Selbst kann nicht gemessen und nicht geteilt werden. Es ist Eines. Und das kennen wir.
Wir kennen es nur von innen ‒ und das ist der Unterschied ‒ und nicht von außen. Von außen kennen wir die Dinge, die geteilt und gezählt werden können. Es gibt eben verschiedene Perspektiven. Und die Geist Perspektive ist eine Erste-Person-Einzahl Perspektive. Von innen her erleben wir das.
Ken Wilber, mit dessen Werk sicher viele von ihnen vertraut sind, hat das ja sehr eingehend und am besten von allen, die darüber schreiben, dargestellt, dass wir immer, was er die Quadranten nennt, beobachten müssen. Also wir müssen beobachten: In welcher Perspektive sprechen wir jetzt? Und über den Geist können wir nur in der ersten Person sprechen. Über die Materie in der dritten Person.
(33:58) Und jetzt leben wir in diesem Doppelbereich: Wir sind Leib und haben Leib. Und das ist die Aufgabe in unserem Leben. Und worum geht es im Leben? Worum geht es? Mit einem Wort: Um Erfahrung oder um Reife, um reif werden.
Was immer für ein Wort wir finden, wir merken, dass im Bereich der Materie ‒ also im Bereich unseres Leibes ‒ ein anderer Vorgang sich abspielt im Leben als im Bereich des Geistes.
Im Bereich des Leibes, der Materie, nehmen wir teil in dem Leben, das wir überall rund um uns beobachten können auch von außen her, und das ist, was Goethe das große «Stirb und Werde» nennt:[1]
Es beginnt mit einem Samen, es führt zu einer Geburt, es kommt zur Blüte, es treibt Früchte, es verwelkt, es stirbt. Und es bleibt vielleicht noch ein Same, der wieder aufwächst und wieder blüht und wieder Früchte trägt: Es ist dieses «Stirb und Werde.» Dem gehören wir an, dem gehört jede und jeder von uns an, weil wir eben im Bereich der Materie leben.
Im Bereich des Geistes geht es um etwas ganz anderes. Da geht es nicht um Entwicklung, sondern um etwas, was man Anreicherung nennen könnte.
Brigitte hat gestern schon in ihrem Vortrag auf das schöne Wort von Rilke hingewiesen, der sagt von uns Menschen:
«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Wir heimsen den Nektar des Sichtbaren ‒ und das heißt, den Nektar des Sichtbaren und mit allen Sinnen Erfahrbaren: darum leben wir in dieser Körperlichkeit im Bereich der Materie ‒ Wir heimsen den Nektar des Sichtbaren in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren.»[2]
Und das ist der Bereich des Geistes. Das ist, was ich Anreicherung nenne und das kann niemand von außen beobachten, das können wir nur aus eigener Erfahrung, nur von innen her.
Dinge, die großartig von außen ausschauen, tragen vielleicht sehr wenig zu unserer Bereicherung innerlich bei. Und andere Kleinigkeiten, die sonst von außen kaum jemand bemerkt, können uns unglaublich Reichtum schenken.
Also, so wie wir im Bereich der Materie diesem «Stirb und Werde» angehören, so geht es im Bereich des Geistes um Erfahrungsreichtum: um Erfahrungsreichtum ansammeln.
Und wenn wir das sehen, dann haben wir schon einen Zugang, nicht nur zu dem, worum es im Leben geht ‒ eben in diesem Doppelbereich um zweierlei, das innigst miteinander verwoben ist ‒, sondern wir haben auch Zugang zu dem Sterben:
Das Sterben kann sich nur auf das Materielle beziehen.
Das, was nicht geteilt und nur innerlich erlebt werden kann, ist nicht diesem Sterben unterworfen.
Und das kann ein großer Trost sein, nicht was äußerlich Beweiskraft hat, aber etwas, das innerlich Trost und Stärke geben kann. Dass wir in diesen großen goldenen Honigwaben etwas ansammeln, was durch unser Sterben, das eben zum Leben gehört ‒ zum Leben gehört das Sterben ‒, überhaupt nicht betroffen wird, sondern eben: Sein ist über den Tod erhaben. Sterben ‒ Tod ist nicht das Gleiche. [Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog: Vortrag (2014), siehe auch Mitschrift 7-9]
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[1] «Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.»
(Johann Wolfang Goethe, Selige Sehnsucht)
[2] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014) 105-107. Br. David spricht in diesem Vortrag von Bereicherung, meint aber dasselbe wie Anreicherung.
Sterben lernen
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Der beste Ausgangspunkt für jedes Gespräch, auch für eines über den Tod, ist der Punkt, an dem man sich selbst befindet. Für mich ist der Ausgangspunkt der eines Benediktiner-Mönchs. Gemäß der Regel des Heiligen Benedikt ist das memento mori eine grundlegende Lebenshaltung: als Mönch leben heißt „den Tod allzeit vor Augen haben“.[1] Als mir zum ersten Mal die Benediktinerregel in die Hände fiel, war dies der Schlüsselsatz, der mich am meisten beeindruckte und anzog. Darin lag die Herausforderung, das Bewusstsein des Sterbens in mein tägliches Leben hineinzunehmen, denn darum geht es hier. Es handelt sich nicht in erster Linie darum, an die letzte Lebensstunde zu denken, also an den Tod als ein physisches Phänomen; die Herausforderung besteht vielmehr darin, jeden Moment des Lebens vor dem Horizont des Todes zu sehen, das Wissen um das Sterben und Vergänglichkeit in jeden Augenblick des Lebens hineinzunehmen, um dadurch erst wirklich lebendig zu werden.
Ich fand später, dass diese Haltung - manchmal ausdrücklich, manchmal implizit -, in allen spirituellen Traditionen geübt wird, mit denen ich in Berührung kam. Im Zen-Buddhismus ist sie sicher sehr stark ausgeprägt, sie findet sich aber auch im Hinduismus und im Sufismus. [Sterben lernen (2005)]
Für viele heutige Menschen ist das ein wichtiges Anliegen: ein würdevoller Tod, ein Tod, der den Kreis unseres Lebens schließt und ein vollständiges Ganzes daraus macht, und nicht bloß Auflösung ist.
Wir befürchten, dass der Tod uns wie ein Dieb in der Nacht überfällt, bevor wir überhaupt Gelegenheit hatten zu leben. Diese Furcht ist dann am größten, wenn wir nicht im Augenblick leben. Wenn wir nicht herausfinden, wie wir im Jetzt leben können, ängstigt uns der Tod, weil wir in unserem Leben nie richtig da waren. Wir haben es verpasst, und jetzt ist es plötzlich vorbei.
Je intensiver wir leben, desto leichter ist es, loszulassen und zu sterben. Mönche lernen, sich den Tod jederzeit vor Augen zu halten. An den Tod zu denken heißt nicht, sich ständig mit dem Tod zu beschäftigen. Es heißt, dass hier und jetzt Gelegenheit ist, uns mit dem Leben zu beschäftigen. Carlos Castaneda berichtet in einem seiner Bücher, dass Don Juan zu ihm sagte: «Du bist so launisch, und du bist nicht wirklich lebensfroh, weil der Tod nicht dein Berater ist. Du glaubst, dass du ewig leben wirst.»
Wenn wir uns eingestehen, dass jeder Tag ein Ende hat, dass jedes Leben ein Ende hat, so heißt das, dass wir der Aufforderung nachkommen, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und etwas aus diesem Tag, aus diesem Leben zumachen. Wenn wir etwas aus diesem Tag gemacht haben, werden wir auch loslassen können. [ST 134f., Quelle: [ST 134f., Quelle: MS 5) 108f.]
Das ist der springende Punkt: Wenn wir uns hingeben an die Wirklichkeit, wie sie auch immer sei, dann sind wir im Fluss des Lebens. Wir halten das fließende Leben nicht an, wir versuchen nicht, es zu halten und zu besitzen, sondern wir lassen los, und alles wird lebendig, sobald wir es lassen. Wenn wir eine Blume abschneiden, ist sie nicht länger lebendig. Wenn wir Wasser aus dem Fluss nehmen, ist es nur noch eine Schale voll Wasser und nicht mehr der strömende Fluss. Wenn wir Luft in einen Ballon füllen, ist sie nicht mehr Wind. Alles was fließt und lebt muss genommen und gegeben werden zur selben Zeit - genommen mit einer sehr, sehr leichten Berührung. Hier spielen wir wieder das Geben und Nehmen nicht gegeneinander aus, sondern lernen die beiden angesichts von Leben und Tod in ein richtiges Verhältnis zu bringen.
Ich erinnere mich an eine Geschichte, die mir von einer jungen Frau erzählt wurde, deren Mutter nahe am Sterben war.[2] Sie fragte sie: „Mutter, hast du Angst vor dem Sterben?“, und ihre Mutter antwortete: „Ich habe keine Angst, aber ich weiß nicht, wie ich es machen soll“. Die Tochter, durch die Antwort überrascht, legte sich aufs Sofa und überlegte, was sie selbst tun würde in dieser Situation, und dann ging sie zu ihrer Mutter und sagte: „Mutter, ich glaube, du musst dich einfach hingeben“. Ihre Mutter gab keine Antwort, aber kurz darauf sagte sie: „Mache mir eine Tasse Tee und mache es genau so, wie ich es gerne mag, mit viel Sahne und Zucker, denn es wird meine letzte Tasse Tee sein. Ich weiß jetzt, wie ich sterben kann.“
Sind wir aufrichtig mit jemandem befreundet, müssen wir diesen Freund immer wieder lassen um ihm Freiheit zu geben, wie eine Mutter, die ihr Kind unablässig freigibt. Gibt die Mutter das Kind nicht frei, kann es schon gar nicht geboren werden; es stirbt im Mutterleib. Aber auch nach der physischen Geburt, muss das Kind immer wieder freigegeben und losgelassen werden. Viele Schwierigkeiten, die wir mit unseren Müttern haben, und die unsere Mütter mit uns haben, kommen daher, dass sie uns nicht gehen lassen können; und offensichtlich ist es viel schwieriger für eine Mutter, einem Teenager das Leben zu schenken als einem Baby. Doch ist dieses Auf-Geben nicht auf Mütter beschränkt; wir müssen uns alle gegenseitig bemuttern, egal ob wir Männer oder Frauen sind. Ich denke, Bemuttern ist in dieser Hinsicht wie Sterben; es ist etwas, das wir unser ganzes Leben hindurch tun müssen. Und immer, wenn wir einen Menschen oder einen Gegenstand oder einen Standpunkt aufgeben, wahrhaft aufgeben, dann sterben wir ‒ ja, aber wir sterben hinein in eine größere Lebendigkeit. Wir sterben hinein in die Einheit mit dem Leben. Nicht zu sterben, nicht aufzugeben heißt, dass wir uns von diesem freien Lebensstrom ausschließen. [Sterben lernen (2005)]
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[1] Wegweisend für Bruder David «Den unberechenbaren Tod täglich vor Augen haben» (RB 4,47), siehe (34) Lebendig sein ‒ den Tod allzeit vor Augen haben (Fest des hl. Benedikt), aus: DVD-Vortrag 2006 – Der Atem der Stille, Mystik heute – Die christlich-buddhistische Begegnung
[2] «Wähle das Leben» (5. Mose 320,19) ‒ Überlegungen zu Tod, Sterben, Leben: Gespräch Teil 1
Sterben und Angst
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Tod und Leben gehören untrennbar zusammen. So heißt es, ich weiß. Aber ich würde es lieber klarer ausdrücken und sagen:
Leben und Sterben gehören zusammen: der Tod aber widerspricht beiden.
Mit dem Sterben bin ich vertraut. Ich muss ja alles, was mir das Leben schenkt, wieder loslassen, bevor ich Neues empfangen kann. Dieses Loslassen aber ist das Entscheidende am Sterben. Starres Festhalten ist Tod ‒ ‹rigor mortis›.[1]
Ich will dabei das Loslassen nicht beschönigen, nicht verharmlosen. Allzu oft ist es bedrohlich und beängstigend, entsagen zu müssen.
Das Leben schenkt uns viel, nimmt uns aber auch erschreckend viel Liebes und bedrohlich vieles, das uns unersetzlich nötig erscheint.
Lass mich täglich zarter loslassen und unbefangener sterben lernen und rette mich vor dem Tod. Amen»[2]
«Es ist doch alles nur aus Liebe schön! Es ist doch alles nur aus Liebe gut!» (Will Vesper).[3]
Was aber, wenn das Selbst ‒ um im Bild zu bleiben ‒ die Handpuppe abstreift oder wenn die Maske in Staub zerfällt? Ist dann alles aus, alles zu Ende?
Zu Ende wohl, würde ich sagen, aber nicht aus. Ich will nicht von einem Leben nach dem Tod reden. Wenn sterben bedeutet, dass für mich die Zeit um ist, dann macht es keinen Sinn, von «nachher» zu sprechen.
Aber alles, was ich erlebe, hat ja schon jetzt eine Dimension, die über Zeit und Raum erhaben ist. T. S. Eliot nennt das Jetzt «the moment in and out of time»[4] ‒ es gehört der Zeit an und doch auch nicht.
Im Doppelbereich des Jetzt sind Zeit und Ewigkeit eins. Darum kann auch nicht die kleinste Einzelheit von allem, was mir hier lieb ist, je verloren gehen.
«Alles ist immer jetzt», sagt wieder T.S. Eliot, «All is always now»[5] ‒ und spricht damit eine Wahrheit aus, die sich nicht leugnen lässt, denn was nicht jetzt ist, ist nicht, es hat nur eine Schattenwirklichkeit in Vergangenheit oder Zukunft.
Im Jetzt aber kann es nicht verloren gehen, da ist es in einem dreifachen Sinn «aufgehoben»:
Es besteht nicht länger (wie etwa ein Gesetz, das aufgehoben wird), es wird aber auf eine höhere Ebene hinaufgehoben und bleibt dort bewahrt (wie ein Goldreif in einer Schatzkammer gut aufgehoben ist).[6]
In diesem Sinn verstehe ich, warum Rilke im Aufheben unsere Lebensaufgabe sieht: «Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Leidenschaftlich heimsen wir den Nektar des Sichtbaren ein in die große, goldene Honigwabe des Unsichtbaren.»[7]
Kann ich dann überhaupt noch Angst haben vor dem Sterben? Ja, ich habe Angst. Ich gebe es zu, aber fürchten will ich mich nicht. Furcht und Angst, das ist ja zweierlei. Angst und Enge sind im Deutschen wurzelverwandte Wörter, und sicher nicht zufällig; unser menschliches Urerlebnis von Angst ist die Enge des Geburtskanals. Durch diesen ersten Engpass gehen wir noch mit instinktivem Vertrauen hindurch; erst später müssen wir mühsam lernen, uns auch auf jede Angst so furchtlos einzulassen, wie uns das bei unserer Geburt spontan gelang.
Furcht und Vertrauen, diese beiden Haltungen sind einander diametral entgegengesetzt. Letztlich sind es Lebenshaltungen.
Angst ist im Leben unvermeidlich; zwischen Furcht und Mut aber können wir wählen: Furcht sträubt sich gegen die Angst und bleibt so in der Enge stecken; Mut lässt sich voll Vertrauen auf die Angst ein und findet so den Weg ins Weite.
Mut nimmt dabei die Angst nicht weg; im Gegenteil: Wer keine Angst hat, braucht keinen Mut. Wer aber mitten in der Angst aufs Leben vertraut, den führt das Leben durch jede Angst zu einer neuen Geburt. Ich beweise mir das selbst.
Ich blicke zurück auf die Engpässe meines Lebens und sehe ganz klar: Je drückender die Beängstigung war, umso strahlender das überraschend Neue, das daraus hervorging. Mich immer wieder daran zu erinnern, gibt mir Lebensvertrauen und Sterbensmut.
Was mir auch hilft, ist das Vorbild von Menschen, deren Tod ich miterleben durfte. Zwei Mitbrüder aus Mount Saviour fallen mir da ein:
Bruder Christopher war damals für Arbeiten am Klosterbau zuständig. Er war erst 40, aber schwer herzleidend. An diesem Tag war er Vorleser beim Mittagessen. Als Tischdiener stand ich neben ihm, als er die Lesung begann:
«In jener Nacht erging das Wort des Herrn an Natan: Geh und sage zu meinem Diener, zu David: So spricht der Herr: Du willst mir ein Haus bauen, damit ich darin wohne?»
Sechs Verse später kam er zu der Stelle: «So spricht der Herr: Ich werde d i r ein Haus bauen.»
Da legte er still seinen Kopf auf das Buch und war tot.
Und unser P. James Kelly (wir mussten seinen Nachnamen verwenden, weil wir zwei Brüder mit dem Namen James hatten) kam am Karsamstagabend noch einmal in die Kapelle, die schon für Ostern geschmückt war, und flüsterte mit für ihn typischer Begeisterung: «Ich kann ja gar nicht warten auf morgen!» Dann ging er schlafen. Am Morgen sollte er das Exultet singen, aber er hatte wirklich nicht warten können und sang nun wohl schon im Himmel.
Knapp eine Woche vor dem Tod meiner Mutter ‒ sie ist schon recht schwach ‒ kommt Vanja Palmers, der ihr lieb ist wie ein Sohn, zu Besuch aus der Schweiz. Er erzählt, dass heute, am St. Martinstag, die Kinder in Sursee sich beim «Chäszänne» mit einer möglichst verrückten Grimasse ein Stück Käse verdienen können. Wir setzen zwar keinen Käse als Preis aus, versuchen aber, einander im Gesichterschneiden zu übertreffen. Mutti auf ihrem Sterbebett überflügelt uns alle.[8]
Bruder David im Gespräch mit Johannes Kaup: «Was mir persönlich Angst macht, wenn ich an den Tod denke, ist zweierlei. Einerseits die Tatsache, dass wir nicht wissen, was im Tod auf uns zukommt. Wir wissen es einfach nicht. Wir gehen auf etwas zu, das uns nicht nur unbekannt ist, sondern ganz und gar unvorstellbar. Wie sollte sich eine Raupe im Puppenstadium vorstellen können, dass sie als Schmetterling von Blume zu Blume fliegt? Auch wir gehen auf etwas ganz Neues zu. Neues und Unbekanntes macht uns jedoch Angst.
Und das Zweite ist, dass wir wissen, dass es um den Tod herum sehr häufig Krankheiten, Leiden und Schmerzen gibt. Das allein genügt, mir Angst zu machen, wenn ich es mir ausmale. Hinzu kommt, dass man heutzutage früher oder später nur mehr ein Fall oder eine Nummer wird in einem Krankenhaus. Diese Entpersönlichung macht mir ebenfalls Angst. Aber das Leben macht uns, abgesehen von Alter und Sterben, immer wieder auf die eine oder andere Weise Angst. Wir brauchen Mut.»
Johannes Kaup: «Was macht Ihnen in diesem Zusammenhang Mut?»
Bruder David: «Mit einem Wort: Lebensvertrauen. Wenn ich auf dem Lebensweg in die Enge gerate und Angst bekomme, wird Lebensvertrauen entscheidend. Furcht sträubt sich gegen die Angst und bleibt darin stecken. Vertrauen lässt sich durchschleusen und vertraut sich dem Auftrieb des Lebens an wie beim Schwimmen.»
Johannes Kaup: «Sie sagen, dass Sie nicht von einem Leben nach dem Tod sprechen wollen. Ist das so missverständlich?»
Bruder David: «Leider ist die Ausdrucksweise missverständlich, weil es so klingt, als ob mit dem Tod alles aus sei. Das will ich keineswegs behaupten. Es dreht sich hier mehr darum, dass mit dem Tod meine Zeit abgelaufen ist. Wenn meine Zeit um ist, dann hat das Wörtchen ‹nach› nicht viel Sinn. Ich sterbe, wenn für mich die Zeit um ist. Wie soll ich da von einem Nachher sprechen? Die Zeit ist mit dem Tod vorbei. Auf der Ebene von Zeit und Raum ist mein Leben zu Ende. Das möchte ich nicht verharmlosen oder beschönigen. Ich möchte es ganz ehrlich konfrontieren: Mit meinem Tod geht die Raumzeit für mich zu Ende. Das heißt aber nicht, dass alles aus ist. Keineswegs! Ich erlebe schon mitten in Raum und Zeit ‒ in der Erfahrung des Jetzt ‒ eine Dimension, die über Raum und Zeit hinausgeht, und die unterliegt dem Tod nicht.
Freilich komme ich dabei um eine Schwierigkeit nicht herum: Jemand könnte sagen: Nur durch meine Sinne, die in Raum und Zeit sind, kann ich das erfahren, und nur mit meinem Gehirn kann ich es denken; wenn aber mein Gehirn zu Staub zerfällt, was dann?
Ich kann nur antworten: Hier und jetzt bringen mich meine Sinne und mein Denken an die Grenze von etwas, das über Zeit und Raum hinausgeht, das nicht gebunden ist durch Zeit und Raum. Und dieser Dimension meines Daseins ‒ dem Bleibenden ‒ gehöre ich genauso an, wie ich Zeit und Raum angehöre. Das ist eben der Doppelbereich, in dem ich lebe.
Diese Erfahrung gibt mir Vertrauen und Zuversicht auf etwas Bleibendes, auch wenn meine körperliche Wirklichkeit endet. Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit. Im Jetzt rühre ich an das Bleibende. Darauf muss ich mich einlassen, muss mich einfühlen ins Jetzt und dort heimisch werden. Im Getriebe der Zeit geht dieses Bewusstsein allzu leicht verloren.»[9]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2 und 8f.]
[Ergänzend:
1. TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(54:39) Bei schweren Prüfungen sehen wir erst nachher, dass wir sie gebraucht haben. Wir alle haben Angst vor dem Leben: Das Leben ist ein ununterbrochenes Sterben in größeres Leben hinein. Sterben ist etwas, was wir tun müssen: Ein sich hingeben – Loslassen üben
2. Wähle das Leben (5 Mose 30,19) (1992)
Gespräch Teil 1
(02:18) Sich ans Leben klammern – sich hingeben, leichter sterben (Angst vor dem Tod, und noch mehr Angst vor dem Leben) / (05:35) Wir müssen mitsterben ‒ ‹Das wird jetzt meine letzte Tasse Tee sein›!
3. Der Anspruch von Engeln und Tieren (1994)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Erlebnisse im Zug, beim Sterben, mit einer Osterkerze:
(02:57) Bruder Christopher stirbt beim Vorlesen]
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[1] ‹rigor mortis› = ‹Totenstarre›
[2] Erwachende Worte (2023): ‹Tod›, 83
[3] Aus dem gleichnamigen Gedicht von Will Vesper (1882-1962), einem deutschen Schriftsteller und Literaturkritiker
[4] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V; siehe auch Stillehalten
[5] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten
[6] Siehe auch die Bedeutung des Wortes ‹aufheben› in Rühmen, Er-innern, Aufheben im Text und in Anm. 2
Bruder David erwähnt den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1830) im Zusammenhang mit ‹Fragen aufheben› in der Einleitung zu seinem Vortrag in Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 1 ‒ Vormittag
[7] Rilke im Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz: ‹Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l’accumuler dans la grande ruche d’dor de l’Invisible.›; ausführlicher in Rühmen, Er-innern, Aufheben
[8] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich›, 184-186
[9] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich ‒ 9. Dialog›, 188f.
Sterben und Tod
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
[Vortrag (05:21-30:56)]
«Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh die andre an: Es ist in allen.Und doch ist einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.»Rainer Maria Rilke: Herbst
«Es sind viele, viele Anklänge in dem Gedicht, nicht nur, dass jetzt gerade so Frühherbst ist und die Blätter fangen schon an zu fallen und
‹sie fallen mit verneinender Gebärde.›
Aber dieses Nein ist doch auch schließlich ein Ja oder fällt in das unendliche Ja Gottes.
‹Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh die andre an: Es ist in allen.Und doch ist einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.›
Und mir klingt das fast wie ein Echo des Satzes im Johannesbrief:
‹Wenn dein Herz dich anklagt, Gott ist größer als dein Herz› (1 Joh 3,20).
Dieses Fallen ist auch ein Anklagen unseres Herzens und ich stell mir vor, dass besonders die, die mit Theresia viel zusammen waren, sich auch ständig immer fragen ‒ so ist das ja in solchen Gelegenheiten: ‹Hab ich das Rechte gesagt, hab ich das Rechte getan, was hätte ich sonst noch tun können. Wo war ich noch nicht, wie sie mich gebraucht hat?›
‹Wenn unser Herz uns anklagt, Gott ist größer als unser Herz› (1 Joh 3,20).
Sein sind diese Hände, in die wir da fallen, die allgemeine Fallkraft uns zieht ‒, die Schwerkraft, die zieht uns auf diesen Schwerpunkt hin. Das müssen wir schon ernst nehmen. Und überhaupt, ich glaube, dass der Trost, den wir finden können, immer daraus entspringt, dass wir den Tod ernst nehmen.
Wenn wir den Tod nicht ernst nehmen, nehmen wir auch das Leben nicht ernst und finden auch nicht den Trost, den wir finden können.
Aber wenn wir den Tod ernst nehmen, dann sehen wir zunächst, dass wir alle unsern Tod wählen.
Wenn es so dramatisch und mitten im Leben ist, wenn die Umstände so ungewöhnlich sind, dann ist es offensichtlicher.
Aber jeder, der mit Sterbenden war und der irgendetwas vom Sterben weiß und den Tod ernst nimmt, weiß auch, dass wir nicht sterben können, solange wir nicht unsern Tod willentlich wählen.
Natürlich ist es meistens für uns eine Krankheit oder einfach Altersschwäche, die uns umbringt, aber umgebracht werden ist ja noch nicht sterben.
Sterben ist etwas, was wir freiwillig tun müssen.
Sterben hat kein Passiv in der deutschen Sprache und in keiner der andern Sprachen, die ich kenne. Man kann nicht sagen: ‹Ich werde gestorben› ‒
‹I c h s t e r b e.›
Und darin drückt die Sprache eine tiefe Einsicht aus, dass es sich hier um etwas handelt, was uns tatkräftigen Mut abverlangt. Wir müssen etwas tun.
Und die Schwierigkeit ist nun, dass wir gerade in den Situationen, in denen wir gewöhnlich sterben müssen, nicht sehr tatkräftig sind, dass wir schwach sind, alt sind, krank sind, unter schrecklichen Schmerzen stehen, leiden, gepresst sind, gedrängt sind.
Und da entspringt auch wieder ein zweiter Punkt aus dem Ernstnehmen des Todes:
Erstens, dass wir willentlich sterben müssen: alle ‒ dass man nur willentlich sterben kann, aber:
Zweitens, Dass die meisten von uns das nicht im letzten Augenblick können. Das ist nicht anzunehmen, daher weiß man nicht, wann wir wirklich sterben.
Wenn wir den Tod ernst nehmen, sehen wir mehr und mehr, dass es wichtigere Todespunkte in unserem Leben gibt als die letzte Minute ‒, dass nicht anzunehmen ist, dass die meisten Menschen in ihrer letzten Minute sterben. Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten Menschen irgendwann in der Mitte ihres Lebens sterben. Wir wissen ja auch nicht ‒ und das ist die andere Seite ‒, wann Menschen wirklich zum Leben kommen.
Und zwar brauchen wir da gar nicht erst hinausschauen und uns fragen, ob das embryonale Leben bei der Befruchtung des Eis beginnt, oder beim Herzklopfen oder im dritten Monat oder im sechsten Monat: Das ist ja alles äußerlich gesehen. Wir brauchen uns nur selber zu fragen: Wann bin ich wirklich völlig lebendig geworden?
Sicher nicht bei der Geburt, sicher nicht wie ich sieben Jahre war, denn wie ich zehn Jahre war, war ich mehr lebendig, als wie ich sieben Jahre war, war mehr Leben da.
Wann bin ich der geworden, der ich eigentlich bin oder sein sollte oder werden sollte?
Wir wissen gar nicht, ob wir nicht schon den Gipfelpunkt erreicht haben in unserem Leben ‒, in gewisser Hinsicht sicher nicht, in gewisser Hinsicht schon. Wir wissen es nicht, es ist völlig verborgen.
Das zum Leben kommen ist völlig verborgen, warum soll denn das Sterben nicht völlig verborgen sein?
Wir wissen nicht, wann ein Mensch völlig lebendig wird und wir wissen nicht, wann der Mensch stirbt. Und meine persönliche Ansicht ‒ ich würde fast schon sagen: Überzeugung ‒ ist, dass wir genau an dem Punkt sterben, wo wir völlig lebendig werden.
(13:02) Das ist irgendwo ein ganz versteckter Punkt in unserem Leben ‒ wir wissen‘s vielleicht selber nicht ‒, aber, wenn wir einmal wirklich lebendig geworden sind, von da an ist nichts mehr übrig, als dass das Äußerliche sich dann zur Ruhe legt irgendwie. Und das ist mit allen von uns so.
Daher kann man auch von einem Leben, das so dramatisch und so plötzlich endet, nicht sagen, dass dieser letzte Sprung oder dieser letzte Tag oder diese letzte Woche das Ende dieses Lebens waren. Das kann irgendwann zur Fülle gekommen sein und schon zum Tod vor Jahren! Das wissen wir nicht, das ist völlig verborgen.
Und dann ‒ das ist auch nur so eine Anregung, einfach mein Denken und mein Fühlen und meine Überzeugung, aber keineswegs irgendwie dogmatisch ‒, können wir uns wieder fragen, wenn wir den Tod ernst nehmen:
(14:04) Wie ist das überhaupt mit der Zeit und dem nach dem Tode?
Was ist nach dem Tode? Und ich würde vorschlagen, dass wenn wir den Tod wirklich ernst nehmen, wie wir ihn ernst nehmen sollten ‒ schon als Christen sollten wir den Tod sehr ernst nehmen, denn Tod und Auferstehung hängen innigst zusammen, und wenn man den Tod nicht ernst nimmt, kann man die Auferstehung nicht ernst nehmen. ‒
Ich würde sagen, wir sollten sehr vorsichtig sein, von irgendetwas nach dem Tod zu sprechen. Denn, wenn wir den Tod wirklich ernst nehmen, so kommt der Tod dann, wenn meine Zeit um ist. Und wenn meine Zeit um ist, dann ist irgendeine andere Zeit für mich uninteressant. Das geht mich weiter nichts mehr an.
Und wenn meine Zeit um ist ‒ wenn sie wirklich um ist, das hängt damit zusammen, den Tod ernst nehmen ‒, dann ist nach dem Tod nichts. Das heißt natürlich nicht, dass ich einfach sage: Mit dem Tod ist alles aus.
Ich glaube, dass viele Menschen heute nur dann ernstlich über das sprechen können, was über den Tod hinausgeht, wenn sie es auch ernst nehmen, dass nach dem Tod ‒ und ich betone das Wort nach, das mit der Zeit zu tun hat ‒, dass nach dem Tod nichts mehr ist, weil nach dem Tod keine Zeit mehr ist.
Was kann dann nach dem Tod sein? Nichts nach dem Tod, für mich gilt nicht ‹nach dem Tod›, aber wir drücken uns halt so ungeschickt aus, weil wir betonen wollen, dass wir ein Leben kennen, das über den Tod hinausgeht. Nicht zeitlich nachher, sondern über den Tod hinausgeht. Und das kann nur ewiges Leben sein, das kann nur Ewigkeit sein.
Das Einzige, das über Zeit hinausgeht, ist Ewigkeit.
Darum betone ich das so, denn wenn wir da nicht vorsichtig sind, wird plötzlich aus der Ewigkeit eine lange, lange, lange Zeit. Wir müssen da schon ehrlich mit uns selber sein: Wer von uns würde nach dem Tod eine lange, lange, lange Zeit weiterleben wollen? Noch so glücklich irgendwo. Es ist ein untragbarer Gedanke, dass die Zeit ewig weitergeht, ununterbrochen weiter, es ist den meisten Menschen ein völlig unerträglicher Gedanke. Und es ist eine große Erleichterung, wenn man sich sagen kann:
‹Meine Zeit wird einmal um sein.›
Und dann kann man erst überhaupt anfangen, wirklich aufzuatmen und das Leben zu leben, das gar nicht von der Zeit gefangen ist. Denn eine Zeit, die auch nach dem Tod nur so in ein Tunnel hineingeht und auf der andern Seite wieder herauskommt und die Minuten reihen sich weiter an für Millionen Jahre und Milliarden Jahre und dann noch Milliarden Jahre, so wie man sich Ewigkeit vorstellt, wäre ja unerträglich, menschlich gesprochen.
Aber wenn wir sehen: Die Zeit ist aus! Gott sei Dank! Besonders, wenn es uns schlecht geht, kann das ein sehr hilfreicher Gedanke sein, und wenn es uns gut geht auch. Das wird auch vergehen. Dann kosten wir es erst so richtig aus. Und dann stoßen wir vor in den Bereich, in den wir als Menschen eigentlich vorstoßen sollten, und das ist der Bereich der Ewigkeit.
(17:43) Und Ewigkeit ‒ das haben wir immer schon gewusst und hätten es schon immer wissen sollen aus unserem Religionsunterricht ‒, ist nicht eine lange, lange Zeit, sondern die Seinsweise Gottes, oder wie der hl. Augustinus es sagt: Das ‹Nunc stans›:[1] das Jetzt, das nicht vergeht, das Jetzt, das stehen bleibt, das besteht. Und wir kennen dieses Jetzt, wir kennen diese Ewigkeit jetzt schon. Das steht hinter Goethes «Faust»,
‹zum Augenblicke möchte ich sagen:
Verweile doch du bist so schön.›[2]
Wir brauchen das dem Augenblick gar nicht sagen, denn Augenblick, der wirklich dieser Augenblick ist, der so schön ist, in dem erleben wir schon etwas, was einfach über die Zeit hinausgeht. Und wir wissen das alle, ich appelliere da nur an Euer eigenes Erleben: Wir haben alle Augenblicke erlebt, die vielleicht nur Bruchteile von Sekunden waren und uns vorgekommen sind wie Stunden oder Tage oder Jahre, und wir haben lange Zeitstriche erlebt vielleicht, unter Umständen Stunden sogar, die wie ein Augenblick vorbeigegangen sind. In diesen Momenten stehen wir über der Zeit, hat Zeit keine Bedeutung mehr. In diesen Augenblicken wissen wir auch zugleich, dass der Tod uns überhaupt nichts anhaben kann, wir sind über den Tod erhaben, sind völlig ausgesöhnt mit dem Tod. Wir denken manchmal, hier in einer solchen Situation sollte man sterben, so jetzt wäre ich bereit zu sterben, denken wir in dieser Lage.
Aber wenn wir in diesem Jetzt, das nicht vergeht, in das wir hineinreichen als Menschen, wenn wir in der Zeit stehen, aber wir sind nicht in der Zeit: wir gehen nicht in der Zeit auf. Wenn wir in dieses Jetzt hineinreichen und hineinwachsen, immer mehr uns darin zu Hause fühlen: Immer wieder beten die Kirchengebete ‒ wenn man das römische Missale anschaut ‒, immer wieder erinnern sie daran, dass wir in der Ewigkeit verankert sein sollen, dass wir dort unsere wahren Freuden haben, sie sollen uns nicht vergehen. Das ist dieser Bereich, das ist nicht später ‒ so eine Art geistliches Sparbuch, in das man so Einlagen macht und dann, wenn man stirbt, kriegt man sie wieder heraus. Dass wir jetzt hier und jetzt schon dort verankert sind, wo die ewigen Freuden sind.
Und wenn wir so leben, dann werden wir viel lebendiger. Dann macht der Tod uns lebendig. Und das steht ja auch hinter dem ‹Memento mori›, das man auf den Sonnenuhren sieht, und manchmal steht dort auch: ‹Memento vivere›, ganz das gleiche: An den Tod sollen wir uns nur deswegen erinnern, weil uns das viel lebendiger macht und weil es uns endlich zeigt, weil es uns endlich dazu aufweckt, so zu leben, wie wir wirklich leben wollen, wenn wir nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung haben. Und wir haben eine begrenzte Zeit zur Verfügung.
Dann könnte man noch sehen, wenn wir den Tod so ernst nehmen, dann haben auch unsere Leiden, unsere Freuden, unsere Lebensumstände, die Wahlen die wir treffen, die Entscheidungen, die wir treffen, ganz eine andere Bedeutung, denn sonst stellen wir uns das nur so vor ‒ ein bisschen karikiert ‒, aber wir denken, das Leben ist so eine Art Wartezimmer, wo man so wartet, oder wenigstens so wie zu Weihnachten, wo die Kinder draußen warten müssen bis das Glöckerl leutet und dann die Tür aufgeht und da ist der Christbaum. So stellt man sich das häufig vor: wir warten so da herum und dann, wenn die Tür aufgeht, sehen alle den gleichen Christbaum. Aber um Gottes Willen, warum müssen wir dann so schreckliche Dinge durchmachen: ich so, du was ganz anderes, ein Dritter wieder ganz etwas anderes: Warum müssen wir so verschiedene Leben erleiden, wenn wir dann alle zu dem gleichen Christbaum gehen?
Wir schaffen sozusagen das Fenster, durch das wir die Visio Beatifica haben werden. In Zusammenarbeit mit Gott schaffen wir jetzt den bestimmten Gesichtspunkt, in dem wir Gott sehen werden. Sonst ist es ja nur eine Quälerei dieses ganze Leben. Aber wenn mein Leben so sein muss, weil ich dann erst zu dem Menschen werde, der Gott so verstehen kann auf eine ganz einzigartige Weise, dann hat es Sinn und auch Sinn, dass wir sagen:
‹O Gott, du bist m e i n Gott› (Psalm 63,2) ganz persönlich.
(23:00) Vielleicht noch einmal zusammenfassend:
Also wenn wir den Tod wirklich ernst nehmen, wird uns zunächst bewusst, dass wir wirklich den Tod wählen und wir erkennen sogar, wenn wir aufmerksam sind, dass unser ganzes Leben sich eigentlich, schon lange vor dem endgültigen Tod, immer wieder durch ein Sterben in größeres Leben verwandelt. Wir kommen immer wieder zu einem Engpass, wo wir sagen müssen, so geht’s nicht weiter, das bringt mich noch um, sagen wir. Es bringt einen auch um. Wir kommen öfters in Gelegenheiten, die einen wirklich umbringen. Und wenn wir dann sterben: in demselben Augenblick, in dem uns etwas umbringt, sehen wir, dass wir auf der anderen Seite herauskommen, viel lebendiger.
Aber auch: Ich fürchte viele von uns sind manchmal durch Situationen hindurchgegangen, wo uns etwas umgebracht hat, und wir sind nicht gestorben. Und da haben wir noch so in unserer Vergangenheit diese nur toten und nicht wieder lebendig gewordenen, nicht auferstandenen Teile von unserem Leben, und solang wir noch in dieser Zeit sind, haben wir die Gelegenheit, durch Erinnerung diese toten Teile unseres Lebens in die Gegenwart zu bringen und jetzt zu sterben. Damals konnten wir nicht. Jetzt sterbe ich dafür. Das heißt:
‹Ich gebe mich völlig dem hin.›
Und auf einmal wird auch der Teil wieder lebendig. Und das kann manchmal nach zwanzig oder dreißig oder noch mehr Jahren sein. Dass plötzlich etwas, was vorher nur tot war, wieder lebendig werden kann in unserem Leben.
Also wir dürfen es ernst nehmen, dass wir unsern Tod wählen. Und zwar nicht nur einmal, sondern immer wieder willentlich sterben, das heißt willentlich uns dem Leben hingeben, denn das Leben zielt immer wieder durch das Sterben auf größeres Leben hin.
Wir sehen dann, dass unsere Zeit begrenzt ist, und das kann auch wirklich eine Erleichterung sein, und zugleich kann es uns in eine ganz andere Dimension hineinführen, nämlich in die Dimension der Ewigkeit, die jetzt mitten in der Zeit anbricht:
Wenn wir mitten im Leben im Tod sind, dann sind wir auch mitten im Leben in der Ewigkeit.
Und dann: dass die Erinnerung an den Tod uns eben wirklich völlig lebendig macht, und dass wir durch unser Leben das Fenster oder die Linse, den Spiegel schaffen, in dem wir dann Gottes Antlitz sehen.
Denn jetzt leben wir in der Zeit, in der die Zukunft ununterbrochen die Vergangenheit auffrisst. Und was wir Gegenwart nennen, ist kaum ein dünner Saum zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und solange es noch die kleinste Strecke von Zeit ist, kann man es immer noch in die Hälfte teilen, und die Hälfte davon ist nicht, weil sie nicht mehr ist, ist schon vergangen; die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist, in der Zukunft: diese Zukunft frisst ständig die Vergangenheit auf. Wo ist die Gegenwart?[3]
Die Gegenwart ist das Jetzt, für uns Menschen das Jetzt ‒ man kann sich fragen, ob Tiere überhaupt eine Gegenwart haben: das wissen wir nicht ‒, aber für unser menschliches Bewusstsein ist die Gegenwart das Jetzt, das nicht in der Zeit ist. Es ragt aus der Zeit heraus ‒ in der Zeit ist nur Vergangenheit und Zukunft. Aber wir kennen die Gegenwart: Wir kennen sie als das Jetzt, das ist Ewigkeit, das ist Gottes Leben: Das, was für uns Zeit ist, ist für Gott Ewigkeit:
‹das Jetzt, das nicht vergeht›.
(27:21) Und jedes Jetzt unseres Lebens ist uns gleich nahe. Wenn wir an ein Jetzt denken vor fünfzehn, zwanzig Jahren und an ein Jetzt von Gestern: die sind uns nur in Hinblick auf die Zeit, irgendwie geschichtlich weiter entfernt, aber in unserem Erleben ‒, wenn wir uns an ein Kindheitserlebnis erinnern, ist es ganz frisch da, wie wenn es jetzt wäre ‒, es ist auch jetzt: Alles, was wir wirklich in unserer Erinnerung haben, ist jetzt, und daher kann man sagen, dass in dem Augenblick, wo für mich die Zeit zu Ende ist ‒ so definiere ich den Tod: die Zeit ist um ‒, wenn meine Zeit um ist, in dem Augenblick brauche ich mich um Zeit nicht mehr zu kümmern, und alles, was ich habe, ist Ewigkeit: Jedes Jetzt meines Lebens ist gegenwärtig.
Und da brauche ich dann nicht den Kopf zu zerbrechen: Werde ich dann in der Ewigkeit alt sein oder jung oder mittelalterlich oder wann wars am besten oder was suchen wir da aus und so: Alles auf einmal! Das Jetzt, das ganze Leben jetzt. Und in diesem Leben sehen wir die Gegenwart Gottes. Denn das macht ja unser Jetzt immer wieder aus.
Und in diesem Jetzt haben wir dann alle die andern, die in irgendeiner Weise zu unserem Leben gehört haben. Selbstverständlich nicht nur die andern Menschen! Da kommt diese ganze Frage: Werden wir unsere Hunde im Himmel wieder sehen oder unsere Katzen usw.? Wenn man das so anpackt, wie das bisher angepackt wurde: Ja, haben die eine unsterbliche Seele, haben die keine unsterbliche Seele? ‒ Das ist mein Hund und i c h habe eine unsterbliche Seele: Wenn ich in den Himmel komme und der Hund nicht dort ist, dann gehe ich wieder! Der Hund ist dort ‒ selbstverständlich ‒, er ist ja ein Teil meines Lebens.
Und alle andern Menschen, denen ich je begegnet bin, und so Menschen, die man nur einmal, so episodenhaft gesehen hat … und da kann man sich dann ausdenken: Was wäre gewesen, wenn wir uns besser kennengelernt hätten? Das ist jetzt alles möglich, und nachdem alles mit allem zusammenhängt ‒ das wissen wir auch in diesem Leben schon ‒, reicht unsere Ewigkeit in jeder Richtung auf das Ganze. In diesem Ganzen sind wir ein kleiner Punkt, der sozusagen das Ganze beinhaltet, und jeder kleine Punkt beinhaltet das Ganze und in dieser unglaublichen Facette spiegelt sich die Gegenwart Gottes.
Und so hängen wir dann auch wieder mit Theresia zusammen und jeder von uns auf ganz verschiedene Weise dadurch, dass wir sie auf ganz verschiedene Weise gekannt haben, aber sie gehört zu unserem Leben. Und zu unserer Ewigkeit.
Also jedenfalls, das sind so ein paar Punkte …, aber wenn ihr etwas von ihr erzählen wollt, vielleicht auch Begegnungen oder so oder irgendwelche Fragen, die durch meine Vorschläge angeregt wurden, wäre es eure Gelegenheit, das weiterzuspinnen.
[Transkription des Vortrags Wähle das Leben (5 Mose 30,19) (1992)]
[Ergänzend:
1. «Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe» (Otto Mauer):
Videointerview Was am Ende wirklich zählt (2022); siehe auch Transkription, 8 und Reifen: Ergänzend 2.:
«Wenn ich Liebe sage, meine ich das gelebte Ja zur Zugehörigkeit und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass sich das eigentlich ‒ so wie eine Definition ‒ auf alle Formen der Liebe anwenden lässt.
Es ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit. Wenn wir das üben ‒ das ist natürlich das Entscheidende am ganzen Leben ‒, die Liebe ist das Entscheidende.
Ein großer Denker ‒ Otto Mauer ‒, ein Wiener Priester, Mitte des 20. Jh., hat das wunderschön ausgedrückt:
‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe›.
Also das ist die Aufgabe des ganzen Lebens: die Liebe ausreifen zu lassen.»
Audio Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 4 ‒ Nachmittag:
‹Memento mori› ‒ ‹Memento vivere›:
(16:02) ‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe›, wie Otto Mauer Thornton Wilders Roman ‹Die Brücke von San Luis Rey› zusammenfasst
(45:48) Gespräch: Was, wenn die Liebe nicht ausgereift ist? Reinkarnation und Fegefeuer
Audio Fragen, die uns bewegen (2005), abgedruckt im kleinen Buch Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 25f.:
«Und dann kommen wir gegen Abend, in der Lebensreife, im Herbst jeden Jahres immer wieder zu der Frage: ‹Woran reifen wir?› Es gibt nichts Traurigeres als ein unausgereiftes menschliches Leben. Und darum nichts Traurigeres als den Tod eines jungen Menschen. Ich muss an den Tod dieser unzähligen jungen Menschen denken, die jetzt im Krieg sterben. Da kann ich mich nur darüber hinwegtrösten, indem ich an ein Buch von Thornton Wilder denke, das vielleicht viele von Ihnen kennen, ‹The Bridge of San Luis Rey›.
Es erzählt von einem Franziskaner, einem Missionar, der im 18.Jahrhundert in Peru zu einer Seilbrücke kommt, die schon Hunderte von Jahren gehalten hat. Doch gerade in dem Augenblick, wo er auf die Brücke gehen will, bricht sie zusammen und reißt fünf Menschen in den Abgrund. Und er stellt sich jetzt die Frage: ‹Warum gerade diese fünf?› Der Missionar geht dem Lebenslauf dieser fünf Menschen nach und kommt am Ende des Buches zu dem Schluss:
‹Man stirbt nicht am Tod, man stirbt an der ausgereiften Liebe.›
Und die Liebe kann schon sehr früh ausreifen. Die Kirschen reifen schon im Juni, die Trauben erst im Oktober. Wir wissen es nicht. Von außen kann man es nicht sehen. Wenn junge Menschen sterben, dürfen wir hoffen, dass ihre Liebe ausgereift war. Ja, wir können dessen eigentlich sicher sein.»
2. Den Tod ernst nehmen und umdenken:
Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe:
(27:21) «Wir sind mit Ewigkeit als Menschen ebenso vertraut wie mit Zeit. Denn wir wissen, was ‹Sein› heißt und was ‹Ist› heißt, in dem Rilke Gedicht:
«Du sagtest l e b e n laut und s t e r b e n leise
und wiederholtest immer wieder: S e i n!»[4]
Wir wissen, was ‹Sein› heißt. Aber ‹Sein› findet man nicht in der Zeit. In der Zeit ist immer nur ‹war› und ‹wird sein›. Und was war, ist nicht, denn es ist nicht mehr, und was sein wird, ist nicht, denn es ist noch nicht. Und was ist, muss im Jetzt sein: Jetzt, hier, aber dieses Jetzt lässt sich immer noch in die Hälfte teilen, und die Hälfte von Jetzt ist nicht, weil sie nicht mehr ist, und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist. ‒ Solange es noch eine Strecke von Zeit ist, lässt es sich teilen: Das Jetzt ist nicht in der Zeit. In der Zeit frisst die Vergangenheit nahtlos die Zukunft auf, und wir wissen, was Jetzt ist, weil wir aus der Zeit herausragen. Wir ‹ex-istieren›, das heißt, wir ragen heraus aus der Zeit in das Jetzt, das i s t.[5]
Und Augustinus definiert die Ewigkeit ‒ soweit man das Definition nennen kann ‒, in wunderbarem Latein, zwei Wörter nur: ‹Nunc stans›: das Jetzt, das steht, das Jetzt, das nicht vergeht.[6] Das ist die Ewigkeit: Das Jetzt, das i s t ohne zu vergehen. Das ist Gottes Ewigkeit.
(29:30) Wir ragen also als Menschen aus der Zeit in Gottes Ewigkeit hinein. Wir kennen beides. Und darum leben wir schon jetzt ewiges Leben. Besonders in den Augenblicken, in denen wir völlig lebendig sind, ragen wir in diese zeitlose Ewigkeit hinein. Und wenn wir wirklich gegenwärtig sind, wenn wir nicht so halb schon uns selbst voraus sind und halb hinten nachhängen, weil wir uns an etwas klammern, was nicht mehr besteht und halb uns hinausstrecken: Wenn wir wirklich gegenwärtig sind, dann ragen wir in dieses Jetzt hinein, das Bestand hat und nicht vergehen kann.
Und das ist jetzt einfach meine Vorstellung ‒ Vorstellung ist vielleicht auch schon zu viel gesagt ‒, aber meine Annäherung an was ewiges Leben und Auferstehung von den Toten bedeuten kann, wenn es nicht ein Herauskriechen aus dem Grab ist, und dann geht alles wieder so weiter wie vorher. Das kann man heute nicht mehr so denken. … Wir müssen das irgendwie umdenken. Und ein Weg das umzudenken ist folgender:
(30:56) Ich weiß, was i s t heißt, ich weiß, was s e i n heißt, finde es aber eigentlich nicht in der Zeit. In der Zeit findet man nur immer ‹wird sein› und ‹war›. Aber ich kenne es doch, weil ich aus der Zeit herausrage. Und wirklich mich im Sein zu verwurzeln wird mir dadurch verhindert, dass ich in der Zeit stehe. Ich kenne das Sein, ich kenne das Ist, ich kenne das Unvergängliche, aber ich bin auch in die Zeit eingetaucht wie in einen Strom, es fließt immer, ich habe keine feste Stelle in der Zeit.
Aber ich weiß, dass früher oder später meine Zeit um sein wird. In diesem Sinn ist es notwendig, dass wir das Sterben, den Tod wirklich ernst nehmen:
Wenn ich sterben muss, ist meine Zeit um. Daher hat es keinen Sinn, von dem zu sprechen, was ‹nach› dem Tod kommt. Wenn es wirklich Tod heißt, kommt nichts nachher. Denn wenn der Tod das Ende der Zeit ist, dann kann nachher nichts mehr kommen.
Es braucht aber gar nichts nachher zu kommen. Denn, was i s t, ist immer schon da. Und das kann eine ungeheure Befreiung sein! Ich weiß nicht, ob ihr es nachvollziehen könnt, für mich ist es eine ungeheure Befreiung.
Denn wenn ich mir vorstellen müsste, dass die Zeit immer weiter geht, immer, immer weiter, immer weiter, immer weiter, das wäre Hölle, das Entsetzlichste, was man sich vorstellen kann.
Wir sind jetzt glücklich, wenn wir s i n d, nicht, wenn wir immer gehetzt werden zwischen ‹wird sein› und ‹war›. In unsern glücklichsten, besten Augenblicken, wo wir wirklich lebendig sind, da s i n d wir.
(32:57) Und jetzt stelle ich mir das so vor, dass in dem Augenblick, in dem ich endlich weiß: Jetzt ist meine Zeit um, alles, was übrig bleibt, ist mein ganzes Leben, alles von meinem Leben, das i s t. Das ist jetzt alles gegenwärtig. Denn wir wissen ja schon jetzt, dass ‒ wenn wir uns an etwas erinnern, was 20 Jahre zurückliegt, 30, 40, 50 Jahre zurückliegt ‒, solang wir uns erinnern können ‒ wenn es ein wirklich lebendiger Augenblick war, in dem wir voll gegenwärtig waren ‒, so ist uns das heute genauso nah, wie es morgen sein wird und gestern war: Wir haben diesen Zugang zu dem, was i s t.
Das Einzige, was uns daran hindert, in dem Bereich wirklich zu leben, ganz da zu sein, ist, dass jetzt schon wieder ein nächster Augenblick kommt und ein nächster Augenblick. Wenn jetzt diese Augenblicke aufhören ‒ die Zeit ist vorbei für mich ‒, dann bin ich da, mit einem Seufzer der Erleichterung b i n ich.
(34:02) Wenn wir es uns so vorstellen können ‒ ich möchte es niemandem aufdrängen ‒, aber wenn wir das so sehen, dann schließt das andere Einsichten ein: Zum Beispiel so viele, viele Fragen, die die Kinder haben ‒ die Kinder haben immer die besten Fragen über Tod und Leben, weil sie sich noch trauen und diese existentiellen Fragen haben, so Fragen wie: Werden wir dann alle wieder beisammen sein? Das ist überhaupt keine Frage.
Natürlich werden wir alle wieder beisammen sein, das ist ja mein Leben. Mein Leben ist das Zusammensein, ich werde alle die Menschen sehen.
Frage: Werden die Tiere auferstehen? Dann kommt man mit der Seele der Tiere, die haben keine unsterbliche Seele. Das hat ja damit überhaupt nichts zu tun. Wenn das mein Tier war und ich lebe, dann lebt dieses Tier. Selbstverständlich ist der Himmel voll mit Haustieren und allen übrigen Tieren, die wir kennen. Die gehören ja zu unserem Leben. Wir brauchen ja gar nicht zu fragen, ob diese Katze das dann weiß, dass sie lebt. Das muss man Gott überlassen und der Katze. Für mich wäre das ja gar kein Himmel ohne die Katze und die Kinder wissen das vollkommen. Aber man muss vorstellungsmäßig dem gerecht werden.»
(35:53) «Wenn wir umdenken, dann ‹haben› wir plötzlich die Visio beatifica, die Schau Gottes, d u r c h unser Leben.
Und man kann sich wieder fragen: Warum hat jeder so ein verschiedenes Leben, um alle dann den gleichen Himmel zu haben?
Wir haben ‒ jeder ‒ ein verschiedenes Leben, um den gleichen Himmel durch so viele verschiedene Weisen zu sehen. Wir sehen den Himmel durch das Fenster, das unser Leben ist. Wir sehen die Ewigkeit ‒ Gottes Gegenwart, die wir auch schon hier beginnen sollen zu erleben ‒, sehen wir dann dort, wenn die Zeit uns nicht mehr ablenkt, völlig gegenwärtig.»]
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[1] Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›; siehe auch Jetzt und ewiges Leben, Anm. 8, und Fragen des Lebens, Anm. 2
[2] Faust zu Mephistoteles in Goethes ‹Faust. Der Tragödie erster Teil›:
‹Und Schlag auf Schlag!
Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Dann mag die Totenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
Es sei die Zeit für mich vorbei!›
[3] Siehe auch Jetzt im Doppelbereich: Ergänzend: 2.3. und Jetzt und ewiges Leben: 3.3.
[4] Bruder David spricht das Gedicht von Rilke aus dem Stundenbuch ‹Ich lese es heraus aus deinem Wort› im Audio
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 4 ‒ Nachmittag:
‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
(04:33) ‹Der Tod ist groß›: Sterben in jedem Augenblick ‒ der Tod, die Frucht des Lebens ‒ den eigenen Tod sterben: Bruder David liest Gedichte und Verse aus dem Stundenbuch von R. M. Rilke
[5] Siehe auch Anm. 3
[6] Siehe auch Anm. 1
Sterben und Wandlung
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Das erste Wort, das Gott im biblischen Bericht an Abraham beim Bundesschluss richtet, ist:
«Wandle vor mir und sei vollkommen!» (1 Mose 17,1)
In diesem Wort ist schon, wie in einem Samen, das ganze Wagnis der Heilsgeschichte beschlossen. Das Wagnis liegt einfach darin, vor Gott zu wandeln, sich dem Wort zu stellen.
Es heißt ja nicht: Wandle vor mir und nimm dich jetzt zusammen, wirklich vollkommen zu sein, denn ich werde dich beobachten!
Es heißt: wandle vor mir und sei vollkommen! In einem Parallelismus, in dem die zweite Hälfte dasselbe aussagt wie die erste: Wandle vor mir; das ist schon Vollkommenheit. Setze dich mir aus, darin liegt das Wagnis der Vollkommenheit.
Das Bibelwort ist zunächst gesprochenes Wort. Wenn es uns anspricht, stehen wir schon im Wagnis. Du wandle vor mir! Du selber.
Es gibt da eine schöne Geschichte, in der ein Rabbi betet: «Herr, mach mich wie Abraham!» Vielleicht hat er genau unsere Bibelstelle im Sinn. «Mach mich wie Abraham!»
Und eine Stimme kommt vom Himmel, die sagt: «Ich habe doch schon einen Abraham.»[1] ‒ Du selber musst vor mir wandeln. Niemand kann es für dich tun. Darin liegt dein Wagnis: Du selber zu sein vor mir.
Aber in dem «Vor mir» liegt ein weiterer Aspekt dieses Wagnisses, wirklich vor dem Antlitz Gottes zu wandeln und sich nicht hinter etwas zu verstecken.
Wir sollten uns angerufen fühlen wie Adam im Paradies:
«Wo bist du?»
Und nachdem es hier um den Sinn geht, dem wir uns aussetzen müssen, könnte dieses «Wo bist du?» fast so interpretiert werden: «Hinter welchem Zweck versteckst du dich heute?»
Hinter welchem Busch versteckt Adam sich? Die besten Büsche, hinter denen wir uns vor Gott verstecken können, sind natürlich die, die Gott am wohlgefälligsten sind, die besten Zwecke. Wir wissen ganz genau, wie oft wir uns hinter diesem oder jenem Zweck verstecken, wenn Gott ruft: «Wo bist du?»
Und es liegt noch ein weiteres Wagnis darin, und das ist vielleicht das wichtigste in diesem Spruch. Es heißt ja ausdrücklich: «Wandle!»
Nicht nur «du»; nicht nur «vor mir»; sondern: «Wandle!»
Wandeln setzt voraus, dass man einen Fuß aufhebt; und da hat man schon das Gleichgewicht verloren; dann muss man ihn niedersetzen und den nächsten aufheben, und dann hat man schon wieder das Gleichgewicht verloren.
Wandeln ist diese sonderbare Art der Fortbewegung, in der man ständig das Gleichgewicht verliert und wiederfindet. Und gerade diese Fortbewegungsart wird von uns erwartet als Ausdruck der Vollkommenheit: Wandle!
Sobald wir uns in das Bleibende verschließen, erstarren wir. Die Sicherheit des Bleibenden führt zur Erstarrung. Rilke sagt das sehr schön in den Sonetten an Orpheus:
«Was sich ins Bleiben verschließt, schon ist's das Erstarrte.»
Und dieses selbe Sonett beginnt mit den Worten:
«Wolle die Wandlung.»[2]
Gott will die Wandlung, wenn er das Wagnis des Wandelns zur Voraussetzung macht für Vollkommenheit. Und da trifft sich das Glückstreben des Menschen mit dem einzigen anderen Punkt, dessen wir sicher sein können, dem Punkt des Todes.
Im Punkt des Todes erreicht das Wagnis der Wandlung seinen Höhepunkt. Der Tod ist die entscheidende Wandlung und das entscheidende Wagnis. Und alles in unserem geistlichen Leben hängt einfach davon ab, ob wir im Laufe des Lebens, während wir uns immer wieder verschließen und öffnen, endlich lernen, uns dem Wort zu stellen.
Dann können wir uns auch diesem letzten Wort stellen, das Tod heißt, und können es wagen, Sinn zu finden, wo wir ergriffen werden, ohne begreifen zu können.[3]
«Es wandelt, was wir schauen,
Tag sinkt ins Abendrot,
die Lust hat eignes Grauen,
und alles hat den Tod.»[4]
Schon lange bevor es uns wirklich bewusst wird, dass allem, was unsere Sinne erfahren, Tod beigemischt ist, so wie bei Pfirsichen die Bitterkeit des Kerns das Fruchtfleisch durchzieht, rührt uns der Wandel der Dinge ganz eigen an.
«Es wandelt, was wir schauen», und nicht nur, was wir schauen. Alles, was unsere Sinne an dieser Welt wahrnehmen, «wandelt».
Seltsam lässt Eichendorff dieses Wort zwischen Bedeutungen schweben. Wandelt, was wir schauen, sich, oder wandelt es uns? Beides schwingt mit. Handel und Wandel der Welt ist Weiterbewegung ‒ voran oder im Kreis herum ‒, aber auch Veränderung. Was aber so wandelt und sich dabei verwandelt, das wandelt auch uns, die es schauen, indem es in unser Leben eingreift.
Wo wir es mit Lebendigem zu tun haben, ist nichts automatisch. Im Leben ist Wachstum organisch mit Sterben verbunden. Leben heißt, mit jedem Wimpernschlag für Altes sterben und für Neues geboren werden. Jeder Fortschritt im Leben ist ein Sterben in größere Lebendigkeit hinein. Wer dazu den Mut nicht hat, kann weder leben noch sterben. Lebensmut ist die Tapferkeit, die wir für jenes Immer-wieder-Sterben brauchen, das zum wachen Lebendigsein untrennbar dazugehört.
Auch im Bereich der Sinnlichkeit müssen wir immer wieder sterben, um so Sinn zu finden. Das ist ja die Bedeutung des memento mori, das wir als Mahnwort etwa an Sonnenuhren alter Klöster lesen.[5]
Aber das ist nur die Hälfte der Botschaft. Nicht selten steht dort stattdessen «memento vivere» – «Denke daran, zu leben!»
Der Heilige Benedikt will, dass seine Mönche «den Tod allzeit vor Augen halten» mit dem Ziel, wach und bewusst zu leben. Nicht ein morbides Grübeln übers Sterben ist mit dem «memento mori» gemeint, sondern ein lebensbejahendes Wachsein in jedem Augenblick, auch in unserem letzten.[6]
Und doch ist es wahrhaftig ein Gewahrsein des Todes, denn der Tod ist letztlich der entscheidende «Punkt, wo sich Zeitloses schneidet mit Zeit».[7]
Aber die Sammlung des Mönchs ist keine morbide Vorwegnahme seiner Todesstunde, sie ist vielmehr ein bewusstes Erleben der Gegenwart, des Hier und Jetzt «Im Kreuzfeld der Zeit».[8]
Und in diesem Sinn ist die «Todesstunde jeder Augenblick».[9]
In jedem Augenblick, in dem wir wirklich gegenwärtig sind, kann durch diese innere Sammlung der Durchbruch durch die Zeitbarriere erfolgen.
Der Augenblick vollkommener Gegenwärtigkeit, durch innere Andacht erreicht, ist der «Augenblick in und außer der Zeit».[10]
So ist «Geschichte ein Gefüge aus zeitlosen Momenten».[11]
Durch ein Leben gesammelter Achtsamkeit wird der jeweils gegebene Augenblick ‒ was immer sein Inhalt sei ‒ zu einem «Symbol, einem Symbol vollendet im Tod».[12]
Wir können beschäftigt sein mit zweckvollen Tätigkeiten, mit der Erledigung von Aufträgen, mit dem Durchführen von Arbeiten ‒ und plötzlich kommt der Tod daher ‒ sei es unser endgültiger Tod oder einer der vielen Tode, durch die wir Tag für Tag gehen.
Der Tod konfrontiert uns mit der Tatsache, dass ein zweckerfülltes Leben nicht genug ist. Wir brauchen Sinn um wahrhaft zu leben. Wenn wir dem Tod nahe kommen und alles was auf Zweck abzielt, uns aus den Händen gleitet, wenn wir die Dinge nicht länger manipulieren und kontrollieren, um bestimmte Ziele zu erreichen ‒ kann dann unser Leben noch sinnvoll sein? Wir tendieren dazu, Zweck und Sinn gleichzusetzen, und wenn der Zweck wegfällt, stehen wir da ohne Sinn. Hier liegt also die Herausforderung: wie kann es, wenn alles Streben nach Zweck zu einem Ende kommt, doch noch Sinn geben?
Diese Frage kann erklären, warum wir im Kloster aufgefordert und herausgefordert werden, den Tod allzeit vor Augen zu haben. Denn das Mönchsleben ist ein Weg, um sich radikal der Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen. In einem solchen Leben kann man nicht im Zweck stecken bleiben: Zwar gibt es viele Zwecke, die Mönche verfolgen, aber sie sind alle zweitrangig. Als Mönch bist du vollkommen überflüssig, und darum kannst du der Frage nach dem Sinn nicht ausweichen.
Unsere Redewendungen, die sich auf Sinn beziehen, zeigen uns mehr passiv als aktiv: «Es ist mir etwas geschehen», «Es hat mich tief berührt», «Es hat mich bewegt». Natürlich möchte ich Zweck und Sinn nicht gegeneinander ausspielen, oder Aktivität gegen Passivität. Es geht eher darum, ein Gleichgewicht in unserer hyperaktiven, von Zweckmäßigkeit besessenen Gesellschaft zu finden. Wir unterscheiden hier Zweck und Sinn nicht, um die beiden zu trennen, sondern um sie zu verbinden. Unser Ziel ist es, Sinn in unsere zweckvollen Tätigkeiten einfließen zu lassen, indem wir Aktivität und Passivität in ihre ursprüngliche wechselseitige Beziehung bringen.
Der Tod stellt diese Beziehung auf die äußerste Probe. Nur wenn unser Sterben unsere volle und letzte Antwort auf das Leben ist, stimmen Aktivität und Passivität zuletzt im Tod überein. Weil wir im Leben so einseitig aktiv sind, denken wir uns den Tod zu einseitig passiv. Natürlich sind wir im Tod offensichtlich passiv, das Sterben ist das am meisten Passive, das uns geschehen kann. Es ist die äußerste Passivität ‒ etwas, das uns unausweichlich widerfahren wird. Wir werden alle einmal getötet werden auf die eine oder andere Weise, sei es durch Krankheit oder Alter oder einen Unfall oder sonst auf eine andere Art. Wir alle sind uns darüber im Klaren, aber nicht viele Leute sind sich bewusst, dass der Tod auch höchste Aktivität von uns fordert.
Hier können uns wieder bezeichnende Redewendungen helfen, dies zu verdeutlichen: Es ist zum Beispiel aufschlussreich, dass der passivste Vorgang in unserer Erfahrung, nämlich das Sterben im Deutschen (und Englischen) nicht in einer Passiv-Form ausgedrückt werden kann. Es gibt keinen Passiv-Ausdruck für das Verb «sterben». Wir können getötet werden, aber wir können nicht «gestorben werden»; wir müssen sterben.
In unserer Sprache ist so die Erfahrung aufbewahrt, dass das Sterben nicht nur passiv ist, vielleicht sogar nicht einmal in erster Linie passiv, sondern auch die höchste Aktivität.
Sterben ist etwas, das wir selbst tun müssen.
Vielleicht können wir getötet werden ohne zu sterben, was solche Gespenstergeschichten erklären würde, in denen ein Haus oder ein Zimmer verwunschen sind durch die andauernde Gegenwart einer Person, die getötet wurde, aber nicht wirklich gestorben ist.
Diese zwei Dinge müssen im Tod zusammenkommen: Wir tun etwas, und wir erleiden etwas. Mehr als das, wir müssen etwas erleiden, was wir tun, und wir tun etwas, das wir erleiden. Dieses Handeln im Erleiden, dieses Geben im Nehmen ‒ die gegenseitige Beziehung ‒, wird durch unsere Konfrontation mit dem Tod in den Brennpunkt gerückt. Es kennzeichnet das Leben in all seinen Aspekten.[13]
Sterben gehört ebenso zum Leben, wie Geborenwerden. Deshalb habe ich keine Angst vor dem Tod als solchem. Wenn der Apfel reif ist, fällt er ab vom Baum. Ausreifen zu dürfen ist ein großes Geschenk. Ich bin dankbar für die Gelegenheit, auch jetzt noch dazulernen zu dürfen im hohen Alter. Was mir Angst macht, ist das Drum und Dran beim Sterben – das Kranksein, das ja meist dazugehört, vielleicht Schmerzen und jedenfalls der zunehmende Verlust körperlicher und geistiger Fähigkeiten, der schon jetzt beginnt. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass wir uns nicht fürchten müssen vor den Engpässen, durch die das Leben uns führt. Furcht sträubt sich gegen die Angst und bleibt dadurch in der Enge stecken. Wenn wir aber unsere Angst zulassen und vertrauensvoll auf sie zugehen, dann führt das Leben uns hindurch, wie durch einen engen Geburtskanal. Wir können uns in diesem Vertrauen üben. Das ist eine gute Vorbereitung auf den Tod.
Wir erfahren es an entscheidenden Wendepunkten unseres Lebens immer wieder: beängstigende Augenblicke führen zu einer neuen Geburt auf einer höheren Ebene. Warum sollte das nicht auch in unserem letzten Augenblick so sein. Wir können uns freilich ein Jenseits ebenso wenig vorstellen, wie wir uns im Mutterleib die Welt vorstellen konnten, in die wir dann geboren wurden.[14]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3, 5f., 12-14]
[Ergänzend:
1. «Wolle die Wandlung» (Rilke):
Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009):
(36:46) ‹Wolle die Wandlung› (Rilke, Sonette 2. Teil, XII)
Siehe auch das Sonett in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 151-155, und Die Achtsamkeit des Herzens (2018): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›, 94
2. «Es wandelt, was wir schauen» (Joseph von Eichendorff):
So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
(18:46) ‹Es wandelt, was wir schauen› (Joseph von Eichendorff) und ein Brauch im jüdischen Laubhüttenfest
Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Stärke unseren Glauben› (Lk 17,5):
(49:08) Hoffnung vor dem Scherbenhaufen zerstörter Hoffnungen ‒ ‹Du bist’s, der, was wir bauen, mild über uns zerbricht› (Joseph von Eichendorff: ‹Es wandelt, was wir schauen›): Die Hütten am Laubhüttenfest sind durchsichtig zu den Nachbarn und den Sternen
Siehe auch das Gedicht in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 93, und Fragen des Lebens
3. «Wandelt sich rasch auch die Welt wie Wolkengestalten» (Rilke, Sonette Teil 1, XIX):
Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(08:59) Ellinor Jensen (Sprecherin): ‹Wandelt sich rasch auch die Welt in Wolkengestalten› (Rilke: Sonette 1. Teil, XIX)
Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009):
(25:52) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt wie Wolkengestalten (Rilke, Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX)
Siehe auch das Sonett in Die Achtsamkeit des Herzens (2018): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›, 98f., und in Altern: Ergänzend: 5.: ‹Unter Tränen lächelnd, willig dieses Lied singen›
4. «Sterben ‒ Teil eines Prozesses, der Leben und Tod zusammenhält»:
Hoffnung des Lebens (2024): Auszug aus dem Interview von Thomas Steininger mit Bruder David:
Bruder David: «Zunächst sollten wir klären, worüber wir genau sprechen. Sprechen wir über Leben und Sterben oder Leben und Tod? Das sind zwei verschiedene Fragestellungen.
Der Tod ist das Gegenteil von Leben.
Sterben ist ein Teil eines Prozesses, der Leben und Tod zusammenhält. Das Ende unseres Lebens ist nicht der Tod. Das Ende ist das Sterben.»
Thomas Steininger: «Das Sterben ist also ein integraler Bestandteil des Lebens. Jeder von uns kennt die Sorge, die aufbricht, wenn man mit dem Sterben konfrontiert ist, egal ob das ein kleines oder ein großes Sterben ist. Die Angst des Nichtwissens ist ein Teil dieser Erfahrung. Aber wenn das Sterben in einem Vertrauen dem Leben gegenüber gehalten ist, bekommt das Sterben sogar seine eigene Kraft. Denn dadurch ist es möglich, dass neues Leben entstehen kann, und das, was enden musste, enden darf.»
Bruder David: «Wunderschön ausgedrückt. Deshalb können wir im Verhältnis zu unserem eigenen endgültigen Tod von den vielen kleinen Sterbeerlebnissen unseres Lebens lernen, dass immer wieder eine Neugeburt daraus wird. Darum dürfen wir hoffen. Das ist eine kräftige Hoffnung. Nicht nur ein Wunsch, sondern eine tiefe Überzeugung, dass mit dem eigenen Tod auch eine neue Geburt Hand in Hand geht. Denn so haben wir das ja immer wieder erlebt ‒ auch wenn ich nicht weiß, wie diese Neugeburt aussehen könnte. Aber auch bei den kleineren Sterbeerlebnissen im Leben wussten wir nicht, was neuwerden kann.
Diese Erfahrung können wir auf die Sterbeprozesse übertragen, die wir um uns herum sehen. Daraus können wir Hoffnung schöpfen. In manchen Bereichen kann man noch darauf hoffen, dass etwas gerettet wird. Aber in anderen Bereichen sind wir schon zu weit über die Klippe gegangen, befinden uns im freien Fall, es lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Aber trotzdem dürfen wir hoffen, ohne dass wir uns vorstellen können, wie eine Neugeburt aussehen könnte. Aber die Hoffnung kommt aus der Erfahrung, dass in meinem Leben jedes Sterben zu einer Neugeburt geführt hat.»
«Die wirkliche Kraft der Hoffnung müssen wir nicht in uns zusammenkratzen, sondern sie kommt aus der Kraft des Lebens. Hoffnung ist Vertrauen auf das Leben, das Öffnen der Schleusen des Lebens, damit die Kraft des Lebens durchfließen kann. Das ist die größte Kraft, die es überhaupt gibt.»]
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[1] Martin Buber: Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre, Heidelberg 81981: ‹II. Der besondere Weg›, 16:
«Der weise Rabbi Bunam sagte einmal im Alter, als er schon erblindet war: ‹Ich möchte nicht mit Vater Abraham tauschen. Was hätte Gott davon, wenn der Erzvater Abraham wie der blinde Bunam würde und der blinde Bunam wie Abraham?› Und mit noch größerer Eindringlichkeit ist dasselbe von Rabbi Sussja ausgesprochen worden, als er kurz vor dem Tode sagte: ‹In der kommenden Welt wird man nicht fragen: ‹Warum bist du nicht Mose gewesen?› Man wird mich fragen: ‹Warum bist du nicht Sussja gewesen?›»
[2] R. M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XII
[3] Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 15f.
[4] Joseph von Eichendorff: ‹Der Umkehrende›, 4; siehe das Gedicht in Fragen des Lebens
[5] Die Achtsamkeit des Herzens (2018): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›, 80, 92
[6] Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt Mystiker zu sein (2020): Interview von Evelin Gander mit Bruder David
Die Achtsamkeit des Herzens (2018): ‹Spiegel des Herzens›, 131:
«Klösterliche Aufmerksamkeit und innere Sammlung stehen, wie das Schweigen, in direktem Zusammenhang zum Gehorsam. Sie sind nicht das finstere ‹memento mori›, als welches sie manchmal erscheinen.»
[7] T. S. Eliot: Vier Quartette. Four Quartets. Englisch und deutsch; übertragen und mit einem Nachwort von versehen von Norbert Hummelt, Berlin, Suhrkamp Verlag 2015: ‹The Dry Salvages, V›, 60f.; siehe auch Stillehalten:
«But to apprehend
the point of intersection of the timeless
With time, is an occupation for the saint ‒
No occupation either, but something given
And taken, in a lifetime’s death in love,
Ardour and selflessness and self-surrender.
For most of us, there is only the unattended
Moment, the moment in and out of time,
The distraction fit, lost in a shaft of sunlight,
The wild thyme unseen, or the winter lightning
Or the waterfall, or music heard so deeply
That it is not heard at all, but you are the music
Wile the music lasts. These are only hints and guesses,
Hints followed by guesses; and the rest
Is prayer, observance, discipline, thought and action.»
«Aber die Stelle zu erkennen,
Wo die Zeit das Zeitlose
Kreuzt, ist ein Beruf für Heilige ‒
Auch kein Beruf, sondern etwas, das gegeben wird
Und genommen, im Liebestod eines ganzen Lebens,
Inbrunst, Hingabe, Aufopferung.
Für die meisten von uns gibt es bloß den unbeachteten
Augenblick, in der Zeit und außerhalb der Zeit,
Einen Anfall von Zerstreuung, verirrt in einem Schacht aus Sonnenlicht,
Den wilden Thymian ungesehen, das Wintergewitter
Oder den Wasserfall, oder Musik so tief gehört
Dass sie unhörbar wird, und Sie selbst die Musik sind
Solange sie währt. Das sind nur erste Andeutungen,
Fingerzeige, Rätselraten; der Rest
Ist Gebet, Zucht, Innehalten, Denken, Handeln.»
[8] Ebd.
[9] T. S. Eliot: The Dry Salvages, III; siehe auch Doppelbereich Ich-Selbst; Augenblicke wach im Jetzt:
«Die Zeit des Sterbens ist jeder Augenblick.» ‒ «And the time of death is every moment.»
[10] T. S. Eliot in Anm. 7; siehe auch Stillehalten; Sterben und Angst; Jetzt im Doppelbereich
[11] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V:
«The moment of the rose and the moment of the yew-tree
Are of equal duration. A people without history
Is not redeemed from time, for history is a pattern
Of timeless moments. So, while the light fails
On a winter's afternoon, in a secluded chapel
History is now and England.»
«Der Augenblick der Rose und der Augenblick der Eibe
Sind von gleicher Dauer. Ein Volk ohne Geschichte
Ist nicht von der Zeit erlöst, weil Geschichte ein Muster ist
Aus zeitlosen Augenblicken. Jetzt, wo es dämmert,
Im Winter, nachmittags, in der entlegenen Kapelle
Ist die Geschichte jetzt und England.»
[12] Die Achtsamkeit des Herzens (2018): ‹Spiegel des Herzens›, 131f.
T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, III:
«Whatever we inherit from the fortunate
We have taken from the defeated
What they had to leave us ‒ a symbol:
A symbol perfected in death.»
«Was wir auch immer von den Siegreichen erben
Haben wir von den Besiegten genommen
Was sie uns geben konnten ‒ ein Zeichen:
Ein Zeichen, vollendet im Tod.»
[13] Sterben lernen (2005)
[14] Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt Mystiker zu sein (2020): Interview von Evelin Gander mit Bruder David; siehe auch Fürchte dich nicht: Ergänzend: 1.
Stille leben
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Ich staune in die große Stille Deines Abgrunds hinein; ich horche bewundernd hin auf ein Wort, das aus der Stille aufsteigt, und versuche, im Alltag danach zu leben.
… Je mehr ich mich bemühe, still zu werden, umso geschwätziger schnattern meine Gedanken. Ich sollte mich wohl gar nicht bemühen, sondern mich mühelos tiefer sinken lassen ‒ von der lauten Oberfläche in die Stille tief in meinem Inneren.
Mein Herzensabgrund bist ja DU.
Wie Wasser danach strebt, sich wieder tief unten zu sammeln, von wo es herkommt, so sehne ich mich nach Sammlung in dir.
Schenk DU mir heute Augenblicke spontaner Sammlung.
Wenn ich etwa selbstvergessen, gedankenlos Wolken nachträume ‒ in dich versunken, DU großes Geheimnis. Amen.
[aus: «DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen» (2019), 40, 61]
Der Dichter Rainer Maria Rilke besingt sowohl unsere Sehnsucht nach Heilung und Ganzheit als auch unsere tiefe Überzeugung, dass die heilende Kraft Gottes unserem innersten Herzen entspringt.
Er findet Gott «die Stelle welche heilt»[1], während wir, wie an ihrer Narbe herumfingernde Kinder, sie mit den scharfen Kanten unserer Gedanken immer wieder neu aufreißen.
Könnten wir nur all diese Aufregung in uns und um uns, den Lärm, der uns ablenkt, beruhigen.
In der Stille könnten tausend verstreute Gedanken in einem einzigen zusammengefasst werden.
[FN 1) 30; 2-5) 32; 6) 34 im Kp. «Herz und Sinn»]
«Mein Herz wird mir so stille und wird nicht untergehn.» (Joseph von Eichendorff)
Je mehr der nervzerrüttende Lärm unserer Städte in unseren Ohren gellt, umso mehr spüren wir die Lebensnotwendigkeit der Stille.
Früher oder später dämmert uns, dass es nicht nur äußere, sondern vor allem innere Stille ist, nach der wir uns sehnen.
Mönche des Ostens wie des Westens haben sich seit Jahrhunderten als Gärtner der Stille bewährt ‒ haben ihren Alltag zu einem Garten der Stille gemacht, und uns in ihren Schriften beides hinterlassen, Früchte der Stille und Anleitungen zum Stillwerden.
Während die Zahl der Mönche in vielen Klöstern heute abnimmt, nimmt die Zahl der Menschen, die ihr Innenleben vom mönchischen Geist befruchten lassen, beständig zu. Gottsuche ist die treibende Kraft im Menschenherzen ‒ nicht weniger bei denen, die das Wort «Gott» (oft aus guten Gründen) vermeiden. Und wer in sich die göttliche Lebensmitte aufspürt, findet Stillung.
Gerhard Teerstegen, ein Dichter, der inmitten des weltlichen Alltags mönchische Stille verwirklichte, fasste das Herzensanliegen aller, die sich gleich ihm darum bemühen, in eine einzige Zeile zusammen:
«Gott ist in der Mitte! Alles in uns schweige.»[2]
Über Stille darf zuletzt nur Dichtung reden. Nur die Worte der Dichter brechen das Schweigen nicht, sondern lassen es vielmehr zu Wort kommen.
Unsere westliche Kultur wird vom Wort beherrscht. Wir können uns in eine Kultur des Schweigens und der Stille kaum hineindenken.
Oft sind wir wie vom Wort besessen, voller Angst vor all dem, was sich nicht in Worte fassen lässt.
Und doch ahnen wir, dass das «erlösende Wort» aus dem Schweigen kommen muss.
Ja, wir ahnen sogar, dass Wort und Schweigen untrennbar zusammengehören, dass an echten Worten die Stille das Wesentliche ist.
Wir haben keine Schwierigkeit, zwischen einem bloßen Wortwechsel und einem Gespräch zu unterscheiden.
Was an einem echten Gespräch wichtiger ist als die Worte, ist die Bereitschaft, uns von den Worten in jene Stille führen zu lassen, aus der sie auf uns zukommen.
Darum münden die tiefsten Gespräche in gemeinsames Schweigen.
Auch jedem guten Gedicht merkt man es an, dass es aus der Stille stammt und in die Stille zurückführen will.
Wenn auch die deutsche Dichtung eindeutig Dichtung des Wortes ist, so hat sie doch Höhepunkte gerade dort erreicht, wo Worte noch sanft am Unsagbaren ausgehen und wo dann nur noch Stille übrigbleibt.
So wenn Eichendorff singt:
«Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.»
Oder Ricarda Huch:
«Tief in den Himmel verklingt
traurig der letzte Stern.
Noch eine Nachtigall singt
fern ‒ fern.»
Und wer denkt da nicht auch an Goethes «Über allen Gipfeln ist Ruh' ...»?
Es ist kein Zufall, dass wir eines der gelungensten Gedichte zum Thema Stille im ersten Teil von Rilkes «Stunden-Buch» finden, im Buch «Vom mönchischen Leben».
Ist nicht Stille der Lebensatem mönchischen Lebens?
Und wetterleuchtet nicht in jedem Menschenherzen manchmal die Sehnsucht nach tiefem Atemholen in Stille. Diese Sehnsucht wird in Rilkes Gedicht zum Gebet.
«Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre verstummte
und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen ‒
Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.»
Die erste Strophe gipfelt in dem Wort «Wachen».
Nur Stille ermöglicht uns ein solches Wachen, das weit mehr ist als bloßes Wachsein.
Wachen ist Hellhörigkeit, ein Hinhorchen, für das die Stille nicht nur Voraussetzung ist, sondern Inhalt.
Wer wirklich wacht, horcht auf die Stille selbst ‒ und schaudert.
«Wir hören’s nicht, wenn Gottes Weise summt.
Wir schaudern erst, wenn sie verstummt»,
sagt Hans Carossa.
Wir schaudern, weil alle, die auf Stille horchen, Gott hören. Wir schaudern, weil alle, die in Stille eintauchen, Gott angehören.
Da solches Angehören immer gegenseitig ist, kann Rilke sich danach sehnen, in der Stille Gott zu «besitzen», wenn auch «nur ein Lächeln lang».
Wie aber sollen wir das überschwängliche Bild verstehen vom «tausendfachen Gedanken», mit dem der Dichter das göttliche DU «bis an den Rand» denken möchte?
In der Glut eines so tausendfach übersteigerten Gedankens schmilzt das Begreifen und wird zu Ergriffenheit.
«Wachen» war das Endwort der ersten Strophe; die zweite Strophe steigert sich zum Wort «Dank»:
Vollwaches Denken wird zum Danken.
Wer kennt nicht diesen Wendepunkt von denken zu danken aus eigener Erfahrung?
Wir müssen nur an einen jener Augenblicke denken, die wir alle manchmal erleben, obwohl wir sie nur den Mystikern zutrauen. Ganz unerwartet werden wir da plötzlich «wach», fallen aus Zeit und Raum in eine unauslotbare Stille hinein und fühlen überwältigende Dankbarkeit in uns aufsteigen.
Ganz gleich wo uns das widerfährt ‒ auf einem Berggipfel, in einer Kathedrale, oder mitten im Verkehrsstau ‒ das ist ein mystisches Erlebnis.
Abraham Maslow erforschte solche «peak experiences», wie er sie nannte, vom Standpunkt der Psychologie. Er fand, dass solche Erfahrungen bei «ganz gewöhnlichen Menschen» häufig sind und sich in keiner Weise von denen der «Mystiker» unterscheiden.
Ein Unterschied liegt vielmehr darin, dass die meisten von uns weiterleben, als ob nichts geschehen wäre, und bald wieder «das Zufällige und Ungefähre» laut werden lassen, während die Mystiker aus der Stille leben.
Es steht auch uns frei das zu tun, und so unser Leben im Bleibenden zu verankern.
Der Schlüssel dazu ist dankbares Leben.
Alles, was wir sehen, hören, riechen, schmecken, tasten oder sonst auf sinnliche Weise wahrnehmen, ist in diesem Sinne Wort, das uns aus der Stille des göttlichen Urgrundes zugesprochen wird.
Wir selber sind in diesem Sinne Wort ‒ «ausgesprochen und zugleich angesprochen» (worin Ferdinand Ebner tiefsinnig unsere menschliche Sonderstellung sieht).
All die Vielfalt rund um uns und in uns ist letztlich ein einziges Wort, das auf immer neue Weise «Ja» sagt, und so allem Dasein Wirklichkeit gibt.
Wenn wir wach darauf hinhorchen, führt uns dieses Wort zurück in die Stille, aus der es stammt. Uns dahin führen zu lassen, heißt verstehen.
Es geht bei diesem Verstehen um weit mehr als intellektuelles Begreifen; es geht um ein Einstehen für das, worauf wir uns verstehend einlassen.
Uns vom Wort führen lassen, heißt verantwortlich handeln.
Im Alltag bedeutet das, dass alle, die «durch den Geist Gottes geführt werden», mit kindlicher Unbefangenheit in jeder Lage die rechte Antwort finden können in Wort und Tat.
In der weitesten Sicht bedeutet es Teilnahme an dem göttlichen Reigentanz, den die christliche Vorstellungskraft aus Johannes 16,28 herausliest, wo der Logos spricht:
«Ausgegangen bin ich vom Vater und gekommen bin ich in die Welt; ich verlasse wieder die Welt und gehe zum Vater.»
Aus dem Schweigen kommend, kehrt das Wort durch liebendes Verstehen ins Schweigen zurück.
Mitzutanzen in diesem Reigen ist die höchste Erfüllung dessen, was wir «Leben aus der Stille» nennen.
Leben aus der Stille ist nichts anderes als dankbares Leben.
Wir können «mitten in der Welt» all das, was wir tun, bestimmen lassen von jener Stille, die in der monastischen Tradition zu Hause ist.
Dazu bedarf es nicht einmal der äußeren Stille, obwohl diese eine große Hilfe sein kann. Wir müssen nur dankbar leben lernen.
Im trinitarischen Rundtanz dürfen wir den Kreislauf der Dankbarkeit sehen. Wir erleben den Urgrund der Wirklichkeit als den Ursprung all dessen, was «es gibt».
Die Wirklichkeit, mit der wir es zu tun haben, zeigt sich uns immer als Gegebenheit ‒ also als Gabe.
Unser eigenes Leben ist uns zugleich gegeben und aufgegeben.
Die Aufgabe, die in dieser Gabe liegt, heißt Leben in Dankbarkeit.
Und worin besteht das?
Einfach darin, dass wir uns dem Leben stellen.
Dankbarkeit ist still und einfallsreich; sie macht etwas aus jeder Gegebenheit. Meistens ist uns Gelegenheit gegeben, uns an etwas zu freuen. Leider sind wir oft nicht wach genug, das wahrzunehmen.
Aber in jeder gegebenen Lage, sei sie noch so schwierig, wird uns Gelegenheit geschenkt, uns schöpferisch ‒ und dadurch dankbar ‒ zu erweisen. Wir müssen uns nur etwas einfallen lassen. Und jeder Einfall ist selber wieder Geschenk.
Indem wir so Schritt für Schritt, aus unserem Leben etwas machen, steigt es zum Ursprung zurück als Dank.
In dieser gegebenen Welt dankbar leben, heißt Sinn finden.
Und in dem Maß, in dem wir Sinn finden, werden wir still. Dann fallen wir nicht mehr, wie Hölderlins leidende Menschen
«blindlings von einer
Stunde zur andern,
wie Wasser von Klippe
zu Klippe geworfen,
jahrlang ins Ungewisse hinab.»[3]
Der Kreislauf in dem alles Gegebene als Dank zum Ursprung zurückkehrt ‒ der Kreislauf, in dem das Schweigen Wort wird und im Verstehen zurückkehrt ins Schweigen ‒ findet ein dichterisches Bild in den Marmorschalen von Conrad Ferdinand Meyers römischem Brunnen:
«… und jede nimmt und gibt zugleich
und strömt und ruht.»[4]
[«Leben aus der Stille», in: Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 152-159; Text entnommen dem Geleitwort und Epilog von Bruder David: Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille im Buch: Buch der Ruhe und der Stille (2005), 7-8, 179-184, siehe auch: Alles in uns schweige (2013) und Finde die Stille (2010)]
[Ergänzend:
1.1. Im Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) kommt das Schweigen zu Wort und führt uns wieder zum Schweigen, dem «stillen Punkt der kreisenden Welt.» (T. S. Eliot, Four Quartets: Burnt Norton, II):
(24:38-27:51) «Die Zeit, um die es hier geht, ist nicht unsere Zeit, aber eine Zeit, die wir in den großen Rhythmen des Lebens entdecken und der wir uns hingeben können auf unserem Weg zum Sinn.»
1.2. Im Video Wort und Stille (2019) spricht Bruder David über die Weitergabe des Schweigens im Buddhismus.
2. Audios zu Gedichten:
«Immer wieder von uns aufgerissen» (Rilke, Die Sonette 2. Teil, XVI), in:
Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992):
(00:28) Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg
«Wenn es nur einmal so ganz stille wäre» (Rilke, Das Stundenbuch), in:
Fragen, die uns bewegen (2005):
(37:46) Vortrag
Wie das Göttliche in uns wächst (2005):
(05:14) Audio: «Was fördert gesundes spirituelles Wachstum» (siehe auch Mitschrift)
«… und jede nimmt und gibt zugleich und strömt und ruht.» (Conrad Ferdinand Meyer, Der römische Brunnen), in:
Lebendige Spiritualität (2015)
(55:30) Verstehen durch Tun
Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
(58:38) Vortrag
3. STILLE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 157f.:
«Stille hängt nicht davon ab, ob die Umgebung ruhig oder lärmerfüllt ist. Das wird verständlicher, wenn wir die Vorstellung von Lärm und Ruhe durch den Gegensatz Tumult und Gelassenheit ersetzen. Stille ist eine heiter gelöste, gelassene Haltung des Herzens.
Innere Stille, und um die geht es hier, kann sich auf zweifache Weise bekunden: durch Schweigen und Wort ‒ durch ein Wort, das nicht das Schweigen bricht, sondern ein Wort, in welchem das Schweigen zu Wort kommt.
In unsrem ganzen Alltag sollte unser Schweigen sowie alles, was wir sagen, aus der Stille kommen. Dies lässt sich üben und Menschen, denen es im täglichen Leben gelingt, strahlen Frieden aus.
Bisher haben wir von Wort und Schweigen gesprochen, die aus unsrer eigenen Stille aufsteigen. Aber auch unsre Antwort auf ein Wort, das wir hören, wird nur dann durch gehorsames Tun zum Verstehen führen, wenn sie aus der Stille kommt.»
4. STILLE, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Schlüsselbegriffe am Ende des Buches:
«Es gibt eine negative und eine positive Bedeutung von Stille. Negativ aufgefasst bedeutet Stille die Abwesenheit von Geräusch oder Wort. Auf diesen Seiten beschäftigen wir uns mit der positiven Bedeutung. Stille ist die Matrix, aus der heraus ein Wort geboren wird, das Heim, zu dem es über das Verstehen zurückkehrt.
Ein Wort (im Gegensatz zur Unterhaltung) bricht die Stille nicht.
Im echten Wort kommt die Stille zu Wort.
Im wirklichen Verstehen kehrt das Wort heim in die Stille.
Für jene, die lediglich die Welt der Worte kennen, ist Stille bloße Leere.
Unser stilles Herz aber kennt das Paradox: Die Leere der Stille ist unerschöpflich reich; alle Worte dieser Welt sind nur ein Tropfen ihrer Fülle.»
5. SCHWEIGEN, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 155
«Schweigen ist eine der beiden Weisen, auf welche Stille sich bekundet. Die zweite Weise ist das Wort. Im Wort drückt sich die Stille ‒ sie drückt sich aus, geht aus sich heraus, indem sie ‹zu Wort kommt›. Im Schweigen bleibt die Stille bei sich selbst. Ein Bild kann das veranschaulichen. Ein Gong, den wir betrachten, bleibt bei sich; ein Gong, den wir anschlagen, ‹äußert sich› ‒ sein innerstes Wesen wird äußerlich offenbar. Um Stille in ihrem Wesen zu erfahren, müssen wir mit ihr einswerden, dadurch, dass wir uns ins Schweigen versenken, uns ins Schweigen hinablassen. Schweigen kann zu einem wirkungsvollen Mittel werden, um im Tumult des Alltags immer wieder stille Gelassenheit zu finden, indem wir Schweigepausen in unsren Tagesablauf einbauen.»
6. Uns wehrlos der Stille aussetzen - COVID 19 (2020):
«Nur was in der Stille wurzelt kann Frucht tragen.»
7. Führung aus der Stille ‒ Wissen und Weisheit für eine Welt im Wandel: Waldzell Dialog (2010)
«Wie man einem Weg nachgeht, wenn man sich führen lässt. So müssen wir der Stille nach-denken. Denn wenn man der Sprache nach-denkt, führt sie immer in die Stille.»
8. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Schweigen und Wort gehören im tiefsten Sinn zusammen. Das kann man auf vielen verschiedenen Ebenen zeigen. Die beiden gehören zunächst einmal zusammen, so wie Licht und Dunkelheit zusammengehören. Ohne Dunkelheit ist das Licht nicht Licht, und ohne Schweigen ist das Wort nicht Wort. Ohne Schweigen ist das Wort schon deshalb nicht Wort, weil man gar nicht sagen könnte, wo ein Wort beginnt und das andere Wort endet. Aber das ist noch eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise.
Es geht schon etwas tiefer, wenn wir bedenken, dass wir in der Musik zum Beispiel nicht nur die Töne hören, sondern auch die Pausen. (Musik gehört ja auch zu dem, was wir hier Wort nennen in diesem umfassenden Sinn.)
Wir bedenken es nur meistens nicht, aber wenn alle Pfeifen einer Orgel zugleich tönen, dann gibt das ebenso wenig Musik, wie wenn sie alle zugleich still sind. Die Musik besteht eben darin, dass jetzt einige Pfeifen spielen und dann einige andere. Und so hören wir nicht nur die Pfeifen, die spielen, sondern auch die, die still sind. Wir hören die Stille.» (40f.)
«Auch in unserer eigenen Tradition gehen wir ja über das Wort hinaus, zum Beispiel im Gebet der Stille. Für uns Christen ist das Gebet der Stille unsere eigene Buddhistische Form des Gebetes.» (43)
«Alle Zen-Geschichten wollen uns dorthin führen, wo das Wort aufhört und das Schweigen beginnt. Und so ist auch die Pointe dieser Geschichten nur ein Hinweis auf das Schweigen, aus dem das Wort entspringt und in das es mündet. In diesem Fall ist die Antwort, mit der der Novize dann kommt und dem Meister zeigt, dass er eingesehen hat:
‹Ich habe das Schweigen gehört.›
Paradox ‒ aber die Antwort lässt sich eben nur in einem Paradox ausdrücken, sonst würden wir uns ja noch im Bereich der Logik bewegen. Was aber über den Bereich der Logik hinausgeht, können wir im Bereich des Wortes nur in einem Paradox ausdrücken:
‹Ich habe das Schweigen gehört.›» (44)]
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[1] «Immer wieder von uns aufgerissen,
ist der Gott die Stelle, welche heilt.
Wir sind Scharfe, denn wir wollen wissen,
aber er ist heiter und verteilt.
Selbst die reine, die geweihte Spende
nimmt er anders nicht in seine Welt,
als indem er sich dem freien Ende
unbewegt entgegenstellt.
Nur der Tote trinkt
aus der hier von uns gehörten Quelle,
wenn der Gott ihm schweigend winkt, dem Toten.
Uns wird nur das Lärmen angeboten.
Und das Lamm erbittet seine Schelle
aus dem stilleren Instinkt.»
(Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XVI)
[2] Gerhard Tersteegen im Kirchenlied: «Gott ist gegenwärtig. Lasset uns anbeten und in Ehrfurcht vor ihn treten.»; siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS TEIL I,, 64
[3] Friedrich Hölderlin: «Hyperions Schicksalslied»
[4] Conrad Ferdinand Meyer: «Der römische Brunnen»
Stille zulassen
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Ich möchte hellhörig werden für das ganz Leise in der Welt ‒ das Leise zwischen Katzenpfoten und Fußboden, die Stille im Schwertlilieninneren, das Schweigen ferner Berge, mein eigenes ruhiges Atmen beim Einschlafen.
Besonders bei Begegnungen mit Menschen möchte ich wach sein, wach für die leiseste Andeutung, dass sich vielleicht ein eisiges Schweigen danach sehnt, aufzutauen.
Zur Vorbereitung will ich heute immer wieder kurz innehalten und still werden.
In dir, DU großes Geheimnis, ist Ruhe.
Ich will alles Laute verklingen lassen und aus Deiner Tiefe Ruhe schöpfen. Amen.
[aus: «DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen» (2019), 39]
Stille schafft eine Atmosphäre, die Losgelöstheit begünstigt.
Wie der Lärm das Leben außerhalb des Klosters durchdringt, so ist das Leben des Mönches von Stille durchdrungen.
Stille schafft Raum um Dinge, Menschen und Ereignisse …
Stille hebt ihre Einzigartigkeit hervor und erlaubt uns, sie eins nach dem andern dankbar zu betrachten.
Unsere Übung, dafür Zeit zu finden, ist das Geheimnis der Muße.
Muße ist Ausdruck von Losgelöstheit im Hinblick auf die Zeit.
Die Muße der Mönche ist ja nicht das Privileg derer, die es sich leisten können, sich Zeit zu nehmen, sondern die Tugend derer, die allem, was sie tun, so viel Zeit widmen, wie ihm gebührt.
Für den Mönch drückt sich das Hinhorchen, das die Grundlage dieses Trainings bildet, darin aus, dass er sein Leben mit dem kosmischen Rhythmus der Jahres- und Tageszeiten in Einklang bringt; mit der «Zeit, die nicht unsere Zeit ist», wie T. S. Eliot es ausdrückt.[1]
In meinem eigenen Leben verlangt der Gehorsam oft Dienste außerhalb des klösterlichen Rhythmus. Dann kommt es ganz besonders darauf an, die lautlose Glocke der «Zeit, die nicht unsere Zeit ist» zu hören, wo immer es auch sei, und zu tun, was es zu tun gibt, wenn es dafür Zeit ist ‒ «jetzt und in der Stunde unseres Todes».
«Und die Todesstunde ist jeder Augenblick», in dem wir wirklich hinhorchen, ist «Augenblick in und außer der Zeit».[2]
Dankbares Hören beginnt damit, dass wir das Gehörte als Gabe erkennen.
Wenn Abendwind in den Linden rauscht, fällt uns das nicht schwer.
Oder wenn uns so etwas geschenkt wird wie das Erlebnis, das ich in Hongkong hatte. Da wohnte ich im Zentrum von Kowloon, einem Stadtteil von unvorstellbarer Bevölkerungsdichte. Zeitlich am ersten Morgen trat ich ans Fenster. Da umgab mich statt des erwarteten Straßenlärms der Jubel von zehntausend Singvögeln. Ganze Familien mögen in einem winzigen Raum der Wohnbauten zusammengedrängt hausen, irgendwo im zwanzigsten Stockwerk, doch vor dem Fenster hängen die Käfige der geliebten kleinen Sänger.
Was aber, wenn der Großstadtlärm uns wirklich umtost? Können wir das auch noch als Geschenk erleben?
Mir persönlich hilft es, wenn ich unangenehmen Geräuschen so lange wie möglich keinen Namen gebe.
Solange ich nur einfach hinhorche, ohne das Gehörte etwa Bremsenkreischen oder Sirenengeheul zu nennen, habe ich es nur mit einem reinen Sinneseindruck zu tun, der, ohne Interpretation, ganz für sich allein genommen, immerhin ‒ ich will nicht sagen angenehm, aber ‒ bemerkenswert ist. Das heißt, er ist meiner Aufmerksamkeit wert. Darin liegt aber schon eine Wertschätzung. Und diese lässt sich unbegrenzt weiterentwickeln.
Manchmal lässt sich ein unliebsames Geräusch sogar uminterpretieren.
In einem Kloster, das ich besuchte, trieb das Kreischen der Kreissäge beim Nachbarn eine der Schwestern buchstäblich die Wände hoch.
«Wie kann denn so ein Geräusch Gabe Gottes sein?»
Mein Vorschlag war: nur hinhorchen; nicht benennen.
Und in diesem Fall wirkte es.
«Ich hab's versucht», berichtete die Schwester nach ein paar Tagen, «und was ich da hörte, klang wie die Stimme eines Erzengels!»
Zwar verstehe ich mich nicht auf die Unterscheidung von Engelstimmen, aber ich glaube, mir würde schon die Stimme eines ganz gewöhnlichen Engels genügen.
Und, wenn wir's bedenken, ist nicht alles, was wir hören, Stimme des einen oder anderen Engels?
Alles, was wir hören, ist ja letztlich göttliche Botschaft.
Und Engel sind Boten Gottes.
Für arglose Ohren ist jeder Laut Geschenk.
Und für Herzen, die hören können, ist jedes Geschenk Botschaft.
Vom Prasseln des Feuers im offenen Kamin, vom Sommerregen vor der offenen Türe, vom Wind in den Laubkronen sagen wir «das spricht mich an». Recht verstanden, spricht aber jedes Geräusch zu uns, wenn wir uns nur ansprechen lassen.
Jeder Laut ist Botschaft von Unaussprechlichem.
Weil er Botschaft ist, sollen wir hinhorchen lernen.
Weil hier aber Unaussprechliches laut wird, sollen wir uns nicht mühen, die Botschaft in Worte zu übersetzen.
Was uns letztlich anspricht, ist das Wort jenseits aller Worte, das Wort, das so unerschöpflich ist, dass es immer neuen Ausdruck finden will ‒ wie die Liebe.
Die Botschaft in jedem uns geschenkten Laut ist Liebesbotschaft; einmalig, unübersetzbar, ganz persönlich.
Aber auch Stille bringt uns Botschaft.
Hat uns nicht schon oft Stille angesprochen?
Manchmal kommt es mir vor, dass der Augenblick der Stille nach dem Verstummen der Orgel alle Musik noch überträfe; jenes unvergleichliche Einatmen, nachdem das allerletzte Nachhallen im Domgewölbe ausgeatmet hat.
Und diese Stille spricht uns nicht nur an, diese Stille horcht.
Auf dem Höhepunkt, wenn wir ganz Ohr sind, horcht plötzlich Stille auf unsere Stille.
Nur einen Augenblick lang können wir dieser Begegnung standhalten.
Dann beginnt das Scharren von Schuhen in den Kirchenbänken.
Wo Menschen noch hellhörig sind für die Botschaft der Laute, da sind sie auch hellhörig für Stille.
Tief im Inneren Australiens lernte ich die Schwestern von St. Joseph kennen, die selber horchende Herzen haben und so zu Hütern dieser Hellhörigkeit unter einem Rest von Ureinwohnern wurden.
Der Stamm lebte noch ohne feste Behausungen im Umkreis von fünf großen Feuern, an denen die nackten Schläfer nachts Schutz vor der Wüstenkälte fanden. Nahe an diesen Lagerplatz hatte die Regierung ein Schulhaus hingestellt, in dem die Kinder hier aus den gleichen Lesebüchern lernen sollten, wie die Stadtkinder in Sydney oder Perth. Da übernahmen es diese verständigen Frauen, den Kulturschock abzufangen. Sie unterrichteten nicht im Schulhaus, sondern im Schatten einer Laube; und eigentlich nicht die Kinder, sondern die Mütter, die mit zur Schule kamen und das Gelernte dort gleich an ihre Kinder weitergaben. Wie still das alles vor sich ging; oft nur durch Bilder, durch Anschauen, durch Zeichnen. Und doch war diesen armen Menschen dabei immer noch zu viel Gerede. In der Pause, wenn Stadtkinder schreiend ins Freie stürmen, gingen diese Kinder schweigend hinaus. Ich kann sie noch vor mir sehen mit ihren großen braunen Augen, von langen Wimpern noch tiefer verdunkelt, wie sie aufatmeten in Stille nach so vielen Worten.
Sei es Wort oder Schweigen, worauf es ankommt, ist, dass wir uns ansprechen lassen von dem, was immer der Augenblick bringt.
Und oft bringt er Unerwartetes.
Nahe bei der Universitätsbibliothek in Berkeley ist ein Kanalgitter, unter dem es Tag und Nacht geheimnisvoll braust.
Wie viele der Studenten da stehenbleiben und ehrfürchtig lauschen, weiß ich nicht. Für mich aber ist das, sooft ich vorbeigehe, ein geradezu heiliger Ort.
Die ganze Musik der Welt ist in diesem Brausen. Wie es in einem altindischen Text heißt:
«Die Urmusik ist das Rauschen von Wasser.»
Ja, jeder gegenwärtige Augenblick ist Botschaft.
Allzuleicht können wir diese Botschaft versäumen, wenn wir nicht aufpassen.
Wenn wir uns nur freimachen vom Zwang, alles selbst leiten und unter Kontrolle halten zu müssen, wenn wir uns endlich wieder, wie Kinder, überraschen lassen, dann ist unser Überraschtsein schon der Anfang der Dankbarkeit.
Unserem dankbaren Hinhorchen öffnet sich dann in der Tiefe jeden Lautes abgründige Stille und im Herzen der Stille die Botschaft der Liebe.
In seinem Kommentar zum Hohenlied sagt es der Heilige Bernhard etwa so:
«Der ruhige Gott beruhigt alles. Und wer sich in Gottes Ruhe hinablässt, ruht.»
Wir haben das, glaube ich, alle erlebt, in Augenblicken, in denen wir einfach am Ende sind und wir einfach nicht mehr weiter können.
Dann tritt so etwas wie eine ganz große Stille ein, und wenn wir uns der hingeben, wenn wir uns nicht ängstlich zurückziehen, dann wendet sich unsere Angst in Vertrauen:
Nicht, als ob wir jetzt plötzlich festen Boden unter den Füßen hätten, aber es ist ein Vertrauen, dass wir auch weitergehen können, ohne festen Boden unter den Füßen zu haben. Dass es einfach weitergeht. Wir können uns diesem Fluss hingeben, und es führt uns weiter.
Es gibt diese Situationen, dass wir uns plötzlich berührt, angerührt und angesprochen fühlen:
wenn wir eine schwere Nacht überstehen oder am Krankenbett.
Das kann man so verstehen, dass Gott, dieses geheimnisvolle DU, uns anspricht.
Aber es ist nicht ein Ansprechen mit Worten.
Man könnte paradox sagen, es ist eine unendliche Stille, eine geheimnisvolle Stille, die zu uns spricht.
Nicht in Worten, aber verständlich.
Wir können verstehen.
Und dieses Verstehen äußert sich in einer Antwort, die wir geben, nicht in Worten, sondern in der Tat.
Beim Gebet gehören diese Bereiche zusammen: unendliche Stille, die uns anspricht, wie ein Wort. Und die Antwort, die wir selber geben, in der Tat.
Unsere lateinische Tradition definiert Frieden als «tranquillitas ordinis», die Stille der Ordnung.
Ordnung ist untrennbar von Stille, aber diese Stille ist dynamisch. Die Ruhe der Ordnung ist eine dynamische Ruhe, es ist die Stille einer unbewegt brennenden Flamme, eines Rades, das sich so schnell dreht, dass es still zu stehen scheint.
Stille in diesem Sinn ist nicht nur eine Eigenschaft der Umwelt, sondern vor allem eine innere Haltung, die Haltung des Hinhorchens.[3]
Jeder von uns ist eingeladen, dieses Geschenk der Stille allen anderen weiterzuschenken.
Wir wollen einander Stille schenken.
Lasst uns hier und jetzt damit beginnen.
Lasst uns einander das Geschenk der Stille geben, so dass wir gemeinsam horchen und einander zuhorchen können.
Nur in dieser Stille wird es uns möglich sein, den sanften Atem des Friedens zu hören, die Musik der Sphären, die allumfassende Harmonie, in der zu tanzen wir hoffen.
[AH 1-2) 18f., 61-65, 31; 3-5) 18f., 60-64, 30f. und ergänzt mit dem Video Wort & Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992), transkribiert von Werner Binder †. Die Transkription erschien im Buch Staunen und Dankbarkeit (1996), 138-147 unter dem Titel: «Teilnahme am göttlichen Leben»]
[Ergänzend:
1. Weihnachtsbrief (2020); gelesen von Bettina Buchholz auch als Video
«Wenn die Stille dieses Jahres weltweiten Leides uns bereit gemacht hat, tief hinzuhorchen, dann wird jedes unsrer Worte, das aus dem Schweigen kommt, ein ‹Ja› sein zu gegenseitiger Zugehörigkeit. Es wird, wie die Antiphon singt, ein «allmächtiges Wort» werden, denn Liebe vermag alles.»
2. Audio Wie wir sinnvoll leben können in der Advents- und Weihnachtszeit (2011)
Bruder David im Gespräch mit Pater Johannes Pausch:
(13:52) Wie wir Stille finden können, wenn Lärm und Geräusche uns stören / (17:47) Die Tiefe des menschlichen Herzens, diese Tiefe liegt hinter allem: diese sehr tiefe Traurigkeit, die gehört dazu, und das Heimweh der Menschen liegt am Grund von allem Lärm
3. Credo - ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Evangelischen Ludwigskirche Freiburg (DE):
(08:24) Empfangen – weiterschenken – die Stille / (09:13) ‹Wenn es nur einmal so ganz stille wäre› (Rilke)
4. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
3. Mit dem Herzen horchen — Die Themen des Gesprächs:
Die Stille nicht brechen: Musik und Alltag aus der Kraft der Stille (Paul an der Panflöte)]
______________________
[1] «And under the oppression oft he silent fog
The tolling bell
Measures time not our time, rung by the unhurried
Ground swell, a time
Older than the time of chronometers, older
Than time counted by anxious worried women
Lying awake, calculating the future …»
«Und unter dem Druck des schweigenden Nebels
Läutet die Glocke
Mißt Zeit, nicht die unsrige, von der nicht eiligen
Dünung geläutet, Zeit
Älter als die Zeit der Chronometer, älter
Als die Zeit, bang gezählt von besorgten Frauen
Die wachliegen und die Zukunft berechnen …»
T. S. Eliot: «Four Quartets»: «The Dry Salvages», I, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 46f.]
«Die Salvages sind eine Felsengruppe vor Cape Ann (Massachusetts), die nur bei Ebbe zu sehen ist und in deren Nähe Eliot in seiner Jugend ‹riskante Segeltörns› unternahm. Die Erfahrung der rauen See, der Urgewalt des Meeres, ein im Zusammenhang mit Eliots Dichtung treffendes Vokabular, schlägt sich in The Dry Salvages entsprechend nieder. Da wird die auf dem Wasser schaukelnde Boje zur Schicksalsglocke, eine sorgenvolle akustische Begleitung für die implizite Frage: Kehren die Seeleute wieder nach Hause zurück?» [Mario Osterland zu T. S. Eliot]
[2] «Pastimes and drugs, and features oft he press:
And always will be, some oft hem especially
When there is distress of nations and perplexity
Whether on the shores of Asia, or in the Edgware Road.
Men’s curiosity searches past and future
And clings to that dimension. But to apprehend
The point of intersection of the timeless
With time, is an occupation for the saint ‒
No occupation either, but something given
And taken, in a lifetime’s death in love,
Ardour and selflessness and self-surrender.
For most of us, there ist only the unattended
Moment, the moment in and out of time,
The distraction fit, lost in a shaft of
sunlight,
The wild thyme unseen, or the winter lightning
Or the waterfall, or music heard so deeply
That it is not heard at all, but your are the music
While the music lasts.»
«Zeitvertreib, Drogen, Zeitungsthemen:
Und werden es bleiben, und zwar ganz besonders
Wenn die Nationen in Not sind und Wirren
Gleich ob an Asiens Küsten oder der Edgware Road.
Die Neugier des Menschen sucht vorwärts und rückwärts
Und hält sich an diese Kategorien. Aber die Stelle
Zu erkennen, wo die Zeit das Zeitlose
Kreuzt, ist ein Beruf für Heilige ‒
Auch kein Beruf, sondern etwas, das gegeben wird
Und genommen, im Liebestod eines ganzen Lebens,
Inbrunst, Hingabe, Aufopferung.
Für die meisten von uns gibt es bloß den unbeachteten
Augenblick, in der Zeit und außerhalb der Zeit,
Einen Anfall von Zerstreuung, verirrt in einem Schacht aus
Sonnenlicht,
Den wilden Thymian ungesehen, das Wintergewitter
Oder den Wasserfall, oder Musik, so tief gehört
Daß sie unhörbar wird, und Sie selbst die Musik sind
Solange sie währt.»
T. S. Eliot: «Four Quartets»: «The Dry Salvages», V, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 60f.]
[3] «Unsere Welt [ist] immer noch mittendurch gespalten ... Worte, die nicht aus der Stille kommen, können uns nur noch weiter trennen. Es wird viel Stille brauchen, bis wir auf einander horchen lernen, und noch länger, bis wir Worte finden, die uns zusammenführen können.» [Interview-Ankündigung zum Video Vom Ich zum Wir ‒ Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021)]
Stillehalten
Text und Interview von Br. David Steindl-Rast OSB
In seinen «Four quartets» spricht T.S. Eliot von dem Paradox, dem Paradox der Hoffnung.
| «We must be still and still moving» | «Wir müssen still sein und dennoch vorangehen»[1], |
Seine Einsichten sind so klar und so treffend ausgedrückt, dass ich hier gerne ein paar von Eliots poetischen Zeilen in meine eigenen tastenden Versuche, über Hoffnung zu sprechen, einfügen möchte.[2]
| «We shall not cease from exploration | «Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften |
| And the end of all our exploring | Und das Ende unseres Kundschaftens |
| Will be to arrive where we started | Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen |
| And know the place for the first time.» | Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.»[3] |
«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften», weil «auf dem Weg sein» das Unterwegs sein bedeutet.
Es spielt kaum eine Rolle, ob wir uns auf der falschen oder der richtigen Straße niederlassen.
Solange wir sitzen, sind wir nach nirgendwo hin auf dem Weg.
Wann immer wir uns bequem niedergelassen haben, sagt Gott: «Eure Wege sind nicht meine Wege» (Jesaja 55,8).
Das lässt die Illusion von Sicherheit zerbrechen und wirft uns wieder hinaus auf die kalte, dunkle Straße.
Und das ist ein Segen.
Arg wäre es, wenn Gott uns selbst überließe, bis uns übel würde von dem, was wir am meisten wünschten.
Im Gefundenen steckenzubleiben ist nicht besser als beim Suchen uns selbst zu verlieren.
Früher oder später werden wir erkennen, dass nicht unser Finden wirklich zählt, sondern unser Gefundenwerden.
Wir werden sehen, dass es nicht darauf ankommt, dass wir den Weg kennen, sondern dass wir an unserem Gehen erkannt werden.
Wichtig ist, dass wir in unserer Hoffnung offen bleiben, offen für die Überraschung, denn Gott kennt unseren Weg viel besser als wir selbst.
In diesem Wissen kann unser Herz Ruhe finden, auch während wir weiterwandern.
«In Stillesein und hoffendem Vertrauen liegt eure Kraft» (Jesaja 30,15).
Hoffnung als die Tugend des Pilgers vereint Stille mit Bewegung.
Es ist wahr, unser erwartungsvolles Verlangen setzt uns in Bewegung.
| «Desire itself is movement Not in itself desirable;» | «Begehren selbst ist Bewegung |
| Not in itself desirable;» | Nicht an sich begehrenswert.»[4] |
Das «in Hoffnung ruhen» (Psalm 16,9) ist ganz gewiss nicht jenen vorbehalten, die am Ende des Weges sind.
Auf einer Pilgerfahrt ist jeder Schritt das Ziel, denn das Ende geht dem Anfang voraus.[5]
Die Spannung der Hoffnung zwischen dem schon jetzt und dem noch nicht ist die Grundlage für ein Verständnis von Pilgerschaft.
Sie ist die Grundlage jener Sinnsuche, die wiederum die Pilgerfahrt jedes einzelnen menschlich menschlichen Herzens ist.
Ruhen wir in der Hoffnung, dann bewegen wir uns laut T. S. Eliot in dynamischer Stille:
| «The stillness, as a Chinese jar still | «Wie eine chinesische Vase |
| Moves perpetually in its stillness. | Regungslos und dennoch in sich unendlich bewegt ist |
| Not the stillness of the violin, while the note lasts | Nicht das Schweigen der Geige, solange der Ton noch schwingt |
| Not that only, but the co-existence, | Nicht dies nur, sondern vielmehr ihr Zugleich-Sein, |
| Or say that the end precedes the beginning | Und, sagen wir, dass das Ende dem Anfang vorangeht |
| And the end and the beginning were always there |
Dass Ende und Anfang bestehen von jeher |
| Before the beginning and after the end.» | Noch vor dem Anfang und noch nach dem Ende |
| And all is always now.» | Dass alles immer jetzt ist.»[6] |
Wann immer wir auf etwas stoßen, das Sinn hat, dann ist dieser Sinn schon jetzt und doch noch nicht gegeben.
Er ist da, aber er führt immer noch weiter.
Sinn findet man nicht wie Blaubeeren auf einer Waldlichtung ‒ als etwas, das man mit nachhause nehmen und im Einsiedlerglas aufbewahren kann.
Sinn ist immer etwas Frisches.
Er leuchtet uns plötzlich ein, so wie die Strahlen der Nachmittagssonne plötzlich auf unsere Waldlichtung fallen.
So oft wir hinschauen, können wir in diesem Licht immer neue Wunder entdecken.
Den Gott der Hoffnung müssen wir uns als «still (...) und dennoch vorangehen(d)» vorstellen.
Hoffnung, als Gottes Leben in uns, entfaltet sich in jener schöpferischen Spannung:
| «We must be still and still moving | «Wir müssen still sein und dennoch vorangehen, |
| Into another intensity | Mit vertiefter Empfindung |
| For a further union, a deeper communion …» | Zu neuer Vermählung, tieferer Vereinigung …»[7] |
Die Überraschung in der Überraschung jeder neuen Entdeckung besteht darin, dass es immer noch Neues zu entdecken gibt.
Hoffnung hält die Gegenwart offen für eine völlig neue Zukunft.
Hoffnung hält uns im doppelten Sinne offen: für eine Zukunft in der Zeit und für eine Zukunft jenseits von Zeit, für Gottes Jetzt.
Diese göttliche Zukunft kommt nicht erst später.
Kennen Sie
| «the moment in and out of time | «… den Augenblick in und außer der Zeit, |
| The distraction fit, lost in a shaft of sunlight | Den Wachtraum, verloren im Sonnenstrahl, |
| The wild thyme unseen or the winter lightning, | Den ungesehenen Thymian, das Wetterleuchten im Winter, |
| Or the waterfall, or music heard so deeply | Den Wasserfall oder Musik, die so innig gehört wird, |
| That it is not heard at all, but you are the music |
Dass du sie nicht mehr hörst, weil du selbst die Musik bist, |
| While the music lasts». | Solange sie forttönt»[8] |
Wenn Sie auch nur einen Vorgeschmack dieser schmerzlichen Seligkeit erfahren haben, so wird es Ihnen sicher nicht schwer fallen zu verstehen, dass manche Menschen ihr ganzes Leben auf dieses eine Ziel ausrichten:
| «But to apprehend, the point of intersection of the timeless with time.» |
«den Punkt, wo sich Zeitloses schneidet mit Zeit zu erkennen.»[9] |
Und wenn Ihnen in einem blitzartig erleuchteten Augenblick klar geworden ist, dass alles Sinn hat, sobald man das rationale Denken zurücklässt, so werden Sie auch verstehen, weshalb manche Männer und Frauen ihr ganzes Leben diesem Paradox widmen.
Was sie suchen ist:
| «Not the intense moment | «Nicht der gesteigerte Augenblick |
| Isolated, with no before and after, | losgelöst, frei von Gewesenem und Künftigem |
| But a lifetime burning in every moment.» | sondern das ganze Leben, glühend in jedem Augenblick.»[10] |
| «But to apprehend | «Aber die Stelle zu erkennen, |
| the point of intersection of the timeless | Wo die Zeit das Zeitlose |
| With time, is an occupation for the saint ‒ | Kreuzt, ist ein Beruf für Heilige ‒ |
| No occupation either, but something given | Auch kein Beruf, sondern etwas, das gegeben wird |
| And taken, in a lifetime’s death in love, | Und genommen, im Liebestod eines ganzen Lebens, |
| Ardour and selflessness and self-surrender.» | Inbrunst, Hingabe, Aufopferung.»[11] |
Eliot spricht auch vom:
| «… the sudden | ...Blitz der |
| illumination ‒ | Erleuchtung ‒ |
| We had the experience | Wir haben das Erlebnis gehabt, |
| but missed the meaning, | doch erfassten den Sinn nicht |
| And approach to the meaning | Aber wenn man den Sinn erkundet, |
| restores the experience | kehrt das Erlebnis wieder |
| In a different form …» | In veränderter Form …»[12] |
Hoffnung besitzt sogar die Macht, die Vergangenheit zu verändern, indem wir in ihr immer neuen Sinn entdecken.
| «What might have been and what has been | «Was hätte sein können und was wirklich war |
| Point to one end, which is always present.» | Weisen auf ein, stets gegenwärtiges Ende.»[13] |
Dieses Ende ist der Sinn, den alles hat. Und der Modus, in dem es gegenwärtig ist, ist Hoffnung.
Der heilige Paulus sagt uns, dass «Drangsal Geduld bewirkt, die Geduld Bewährung, die Bewährung Hoffnung» (Römer 5,3f.).
Dieser Läuterungsprozess findet sich an wichtiger Stelle in jeder spirituellen Tradition.
Die Geduld hält still im Feuer der Bewährung.
Disziplin besteht ja vor allem im Stillhalten. Das macht sie nicht weniger anstrengend.
Aber alle Anstrengung fließt ein in die entscheidende Aufgabe, nämlich, Aufgabe, sich nicht zu bemühen.
Um es wieder mit den Worten von Eliot zu sagen:
| «I said to my soul, be still, and wait without hope |
«Ich sprach zu meiner Seele: sei still und warte [14], ohne zu hoffen, |
| For hope would be hope for the wrong thing; | Denn Hoffen wäre auf Falsches gerichtet; |
| wait without love | warte ohne zu lieben, |
| For love would be love of the wrong thing | Denn Liebe wäre auf Falsches gerichtet; |
| there is yet faith | da ist noch der Glaube, |
| But the faith and the love and the hope are all | Doch Glaube und Liebe und Hoffnung sind alle |
| in the waiting.» | im Warten.» [15] |
Der Schüler hält still vor seinem Lehrmeister. Der Schüler, Auge in Auge mit seinem Lehrer, ist ganz Aufmerksamkeit.[16] Diese Stille ist kein Abschalten. Es ist die Stille der Anemone, die sich weit dem Sonnenlicht geöffnet hat.[17]
Selbst das Durcheinander von Gedanken ist durch die Disziplin dieser Stille beruhigt.
Eliot sagt:
| «Wait without thought, for you are not ready for thought: |
«Warte ohne zu denken, denn zum Denken bist du nicht reif, |
| So the darkness shall be the light, and the stillness the dancing.» |
Dann wird das Dunkel das Licht sein und die Stille der Tanz.»[18] |
Der Tanzmeister spiritueller Disziplin stellt hohe Anforderungen.
Die Stille und das Dunkel, in der Hoffnung geläutert wird, ist ein
| «A condition of complete simplicity (Costing not less than everything)» |
«Zustand vollendeter Einfalt (Der nicht weniger kostet als alles)»[19] |
Das Bild des Tanzes weist auf einen Aspekt der Hoffnung hin, den Joseph Pieper, der meisterhaft über diese Tugend schrieb, aufzeigte:
Hoffnung steht im engen Zusammenhang mit Jugendlichkeit.
Dies ist nicht nur in dem Sinne wahr, dass wir von jungen Leuten erwarten, dass sie voller Hoffnung seien.
Auch alte Leute, sofern sie die Tugend der Hoffnung erlernten, strahlen eine unerwartete Jugendlichkeit aus.
«Deshalb sind wir nicht verzagt», schreibt Paulus, «wenn wir auch äußerlich aufgerieben werden, so werden wir doch innerlich von Tag zu Tag jünger» (2 Korinther 4,16).
Tanzen verjüngt uns.
In der Jugendlichkeit der Hoffnung ist wartendes Stillehalten eins mit dem Tanzen und bedeutet den Punkt erreicht zu haben,
| «At the still point oft he turning world. … | «den ruhenden Punkt der sich kreisenden Welt», |
| Neither from nor towards; | |
| at the still point, there the dance is, | den Ruhepunkt des großen Tanzes, den Gipfel, |
| but neither arrest nor movement. And do not call it fixity, | |
| Where past and future are gathered.» | «wo Vergangenes und Zukunft vereint sind.»[20] |
| «Neither movement from nor towards, | «Weder Fortgehen noch Hingehn, |
| Neither ascent nor decline. | Weder Steigen noch Fallen. |
| Except for the point, the still point, | Wäre der Punkt nicht, der ruhende |
| There would be no dance, | So wäre der Tanz nicht ‒ |
| and there is only the dance.» | Und es gibt nichts als den Tanz.»[21] |
| «And the way up ist the way down, | «Und der sei der Weg hinab, |
| the way forward ist the way back.» | der Weg voran der Rückweg.»[22] |
Das einzig Wichtige ist der Ruhepunkt des Tanzes.
Alte Leute fragen sich häufig, worauf es sich noch zu warten lohnte, und sie fühlen sich zum Tanzen zu steif.
Aber irgendwo zwischen kindischem Optimismus und senilem Pessimismus liegt der jugendliche Tanz der Hoffnung, anmutig in seiner Stille, da er in völliger Sammlung auf jeden neuen Einsatz zu warten weiß.
Warten ist nur dann ein Ausdruck von Hoffnung, wenn es ein «Warten auf den Herrn» ist, auf Gott, dessen Name Überraschungen heißt ‒ und auf sonst nichts.
Solange wir auf eine Verbesserung der Situation warten, machen unsere Ambitionen einigen Lärm.
Und wenn wir auf eine Verschlechterung der Situation warten, dann werden unsere Ängste laut.
Die Stille, die in jeder beliebigen Situation auf das Aufleuchten des kommenden Herrn wartet ‒ das ist die Stille biblischer Hoffnung.
Diese Stille verträgt sich nicht nur gut mit tatkräftigem Dienst an der Welt, wenn das unsere gottgegebene Aufgabe ist.
Sie ist sogar unbedingt nötig, wenn wir klar und deutlich hören wollen, was unsere Aufgabe eigentlich ist.
Auch wie tüchtig wir unsere Aufgabe angehen, beweist sich durch Stille.
Die Stille der Hoffnung ist der Ausdruck einer vollkommenen Energiekonzentration auf die aktuelle Aufgabe.
Die Stille der Hoffnung ist deshalb die Stille der Integrität.
Hoffnung integriert.
Sie macht ganz.
Und so bietet die Hoffnung eine gesunde Basis für spirituelle Disziplin, eine solide Verankerung.
(Es ist kein Zufall, dass das traditionelle Zeichen der Hoffnung ein Anker ist.)
| «A condition of complete simplicity… | «Ein Zustand vollendeter Einfalt |
| (Costing not less than everything) | (Der nicht weniger kostet als alles) |
| And all shall be well and | Und alles wird gut sein, |
| All manner of thing shall be well …» | Und jederlei Ding wird gut sein ...»[23] |
Aber bevor jederlei Ding gut sein wird, steht uns die schmerzhafteste Prüfung unserer Hoffnung noch bevor.
| «The unattached devotion which might pass for dovotionless, | «Das ziellose Frommsein, nach außen unfromm erscheinend, |
| In a drifting boat with a slow leakage …» | Im treibenden Boot, das langsam dahinleckt ...»[24] |
Dieses langsame Dahinlecken, das T.S. Eliot beschreibt, kommt daher, dass für unsere Hoffnungen, die sich im Strom der Zeit bewegen, die Zeit ausläuft.
Für die Hoffnung aber, die «verweilt», erfüllt sich die Zeit auf jene Fülle hin, die sich uns jeweils hier und jetzt schenkt.
| «Here the impossible union | «Hier wird die unmögliche Einheit |
| Of spheres of existence is actual | Der Sphären des Seins Ereignis. |
| ... | ... |
| For most of us, this ist the aim | Dies Ziel ist hienieden |
| Never here to be realised; | Den meisten von uns unerreichbar, |
| Who are only undefeated | Wir, die nur unbesiegt bleiben, |
| Because we have gone on trying.» | Weil wir es stets aufs Neue versuchten.»[25] |
| «For us, there is only the trying. | «Für uns gilt nur der Versuch. |
| The rest ist not our business.» | Der Rest ist nicht unsere Sache.»[26] |
Unsere lateinische Tradition definiert Frieden als «tranquillitas ordinis», die Stille der Ordnung.
Ordnung ist untrennbar von Stille, aber diese Stille ist dynamisch.
Die Ruhe der Ordnung ist eine dynamische Ruhe, es ist die Stille einer unbewegt brennenden Flamme, eines Rades, das sich so schnell dreht, dass es still zu stehen scheint.
Stille in diesem Sinn ist nicht nur eine Eigenschaft der Umwelt, sondern vor allem eine innere Haltung, die Haltung des Hinhorchens.
Jeder von uns ist eingeladen, dieses Geschenk der Stille allen anderen weiterzuschenken.
Wir wollen einander Stille schenken.
Lasst uns hier und jetzt damit beginnen.
Lasst uns einander das Geschenk der Stille geben, so dass wir gemeinsam horchen und einander zuhorchen können.
Nur in dieser Stille wird es uns möglich sein, den sanften Atem des Friedens zu hören, die Musik der Sphären, die allumfassende Harmonie, in der zu tanzen wir hoffen.
Sinn ist Stille.
Er erfüllt sich, indem er Gestalt annimmt; er nimmt Gestalt an, indem er zum Wort wird.
Aber Sinn als solcher ist Stille.
Und
| «Words, after speech, reach into the silence.» | «Worte, nachdem sie gesprochen, reichen in das Schweigen hinein.»[27] |
_________________________
| [1] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V | [17] BLUMENMUSKEL, der der Anemone |
| [2] Dieser Beitrag ist eine Komposition mit Texten aus den Kapiteln «Hoffnung: Offenheit für Überraschungen» in FN und «Die Umwelt als Guru», sowie «Spiegel des Herzens» in AH |
Wiesenmorgen nach und nach erschließt, bis in ihren Schoß das polyphone Licht der lauten Himmel sich ergießt |
| [3] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V | in den stillen Blütenstern gespannter |
| [4] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V | Muskel des unendlichen Empfangs, |
| [5] Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011 (3. Juni 2011) Demut ‒ Der Weg zum Gipfel: (05:46) Pilgerfahrt im Unterschied zur Reise: Die beiden Alten (Leo N. Tolstoi) |
manchmal so von Fülle übermannter, dass der Ruhewink des Untergangs kaum vermag die weitzurückgeschnellten |
| [6] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V, siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS TEIL II, 83 |
Blätterränder dir zurückzugeben: du, Entschluss und Kraft von wieviel Welten! |
| [7] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V | du, Entschluss und Kraft von wieviel Welten! |
| [8] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V | Wir, Gewaltsamen, wir währen länger. |
| [9] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V | Aber wann, in welchem aller Leben, |
| [10] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V | sind wir endlich offen und Empfänger? |
| [11] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V, Übersetzung aus: T. S. Eliot: Vier Quartette. Four Quartets. Englisch und deutsch; übertragen von Norbert Hummelt, Berlin, Suhrkamp Verlag 2015, 61 |
R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, V, siehe auch: Leidenschaft für das Mögliche |
| [12] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, II | [18] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, III |
| [13] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, I | [19] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V |
| [14] Impulskontrolle finden (2022) | [20] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, II |
| [15] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, III | [21] T. S. Eliot : Four Quartets: Burnt Norton, II |
| [16] Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011 Vortrag:«Sehen lernen»: (01:15:11) Das Wort Disziplin stammt aus dem Umfeld der Schule, nicht des Militärs: «Der «Discipulus», der Schüler, schaut den Lehrer an und sieht sich selber in der Pupille des Lehrers. «Pupilla», engl. «pupil», ist «der kleine Schüler», der sich in den Augen des Lehrers sieht, und wenn man so ist Aug zu Auge ist mit dem Lehrer, dann lernt man Disziplin, dann wird man wirklich Schüler.» |
[22] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, III [23] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V [24] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, II [25] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V [26] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V [27] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V, siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS TEIL I, 25 |
Stop ‒ Look ‒ Go
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Kinder in den USA lernen mit «Stop ‒ Look ‒ Go» gefahrfrei die Straße zu überqueren.
Diese drei Wörter sind auch die einfachste Formel, dankbares Leben immer wieder einzuüben. [Siehe die kurze Einführung zum Thema in Dein Herz ist gefragt (2022)]
Schauen wir sie uns hier einzeln an.
Stop ‒ alles Weitere hängt von diesem ersten Schritt ab. Innehalten und Stillwerden sind unbedingt notwendig, bevor wir hinhorchen können auf das Leben, um voll und dankbar unsre Antwort zu geben.
Was dieses Innehalten bewirken will, ist innere Ruhe.
Schweigen hilft uns dabei.
Aber viele Menschen sind heute Lärm und Getue so gewohnt, dass sie sich bei Schweigen und Stille zunächst unbehaglich fühlen. Das ist Gewohnheitssache. Wir können Schweigen und Stillwerden üben ‒ jeden Tag ein bisschen länger. Mit etwas Übung werden wir uns bald darin zuhause fühlen. Dann wird die stille Mitte in uns zu einer Quelle tiefer Freude werden.
Schweigen macht «das Ohr des Herzens», wie der heilige Benedikt es nennt, hellhörig für alles, was das Leben uns zuspricht. Dann erst können wir entsprechend antworten.
Daraus ergeben sich die beiden nächsten Schritte: hellhöriges Innewerden ist das «Look» und unsre Antwort ist das «Go».
In einem Gedicht von nicht mehr als zehn Zeilen führt uns Rilke durch diese drei Schritte ‒ vom Innehalten in der Stille («Stop») über das Innewerden («Look») zum freudigen Tun («Go»).
Der Dichter betet um eine von äußeren und inneren Störungen freie Stille, damit er in ihr einen so hohen Grad von Sammlung erlangen kann, dass seine Empfänglichkeit «bis an den Rand» des großen Geheimnisses reicht.
Dann hofft er, das Geschaute sogar «besitzen» zu können ‒ freilich «nur ein Lächeln lang», denn er muss wohl selber lächeln über die Idee, das Geheimnis zu besitzen. Im Gegenteil, das Geheimnis ergreift Besitz von uns im Augenblick, in dem wir «nur einmal so ganz stille» werden.
Diese Stille ‒ «Stop» in seiner tiefsten Bedeutung ‒ ist ja selbst ein Aspekt des großen Geheimnisses in seiner schweigenden Tiefe.
Aus ihr muss unser Innewerden kommen, damit es zum freudigen Tun führen kann, zur Bereitschaft, alles, was unser Herz vom Geschauten halten kann, «an alles Leben zu verschenken wie einen Dank».
Zunächst aber geht es um den ersten Schritt, ums Innehalten, ums «Stop», ums Stillwerden:
Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen ‒ :
Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken
bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.[1]
Look ‒ in unsrer inneren Stille verankert, können wir jetzt, als zweiten Schritt, mit allen Sinnen wach werden für alles, was es gibt.
Das «Stop» ‒ der Bruchteil eines Augenblickes, in dem wir innehalten ‒ genügte, um unser Schauen «reifen» zu lassen, und jetzt kann wahr werden, was unser Dichter in eines seiner schönsten Bilder fasst:
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.[2]
Alles, dessen wir innewerden, kommt wie eine Braut auf uns zu. Und wie begegnen wir diesem bräutlichen Entgegenkommen des Lebens?
Meist wird uns gar nicht bewusst, wie unsanft, ungeduldig, ja geradezu unverschämt und gewalttätig wir alles, was uns unter die Augen kommt, an uns reißen, einfach durch die Härte, mit der wir es anblicken.
Wir können jedoch lernen, mit sanften Blicken alles, was wir sehen, zu umarmen, wie ein Bräutigam die Braut umarmt ‒ und sich von ihr umarmen lässt.
Dann werden wir die Gelegenheit, nach der wir mit unsrem «Look» Ausschau halten, nicht in erster Linie als Möglichkeit verstehen, alles, was das Leben uns in diesem Augenblick schenkt, auszunutzen.
Es würde uns vielmehr darum gehen, es auszukosten.
Hier stoßen wir wieder auf eine oft übersehene Unterscheidung, die im abendländischen Denken unter dem lateinischen Begriffspaar «uti» (nutzen) und «frui» (auskosten) schon lange eine wichtige Rolle spielt.
Wenn wir lernen, diese beiden Lebenshaltungen ‒ denn das sind sie letztlich ‒ zu unterscheiden und zugleich zu verbinden, dann kann unser «Look», unser Innewerden, sich zu einem wahren Fest entfalten: zur Feier des Lebens.
Nicht nur unsre Augen können diese Haltung erlernen. Das «Look» hier nur aufs Schauen zu beschränken, wäre ein Missverständnis. Jeder unsrer Sinne kann aus verschlafener Stumpfheit aufwachen und sich an dem Reichtum freuen, den das Leben festlich vor uns ausbreitet.
Go ‒ auch zum Verständnis dieses dritten Schrittes kann ein Gedicht Rilkes uns helfen. Der Dichter stellt am Bild des Ballspielens dar, worum es beim echten Tun, das Innehalten und Innewerden voraussetzt, letztlich geht. Mit sich allein Ballspielen ist nicht echtes «gültiges» Tun in diesem Sinn, sondern nur Übung in «Geschicklichkeit»; und was es zustande bringt, ist «lässlich» ‒ das heißt, es zählt nicht.
Echt wird das Tun erst,
wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,
den eine ewige Mit-Spielerin
dir zuwarf.
Diese «Mit-Spielerin» steht hier für das große Geheimnis.
Das erkennen wir daran, dass sie «ewig» genannt wird und weil die Beziehung, die durch ihr Zuwerfen entsteht, «aus Gottes großem Brücken-Bau» stammt.
Dass diese «Mit-Spielerin» weiblich ist, erinnert daran, dass alles, dessen wir mit offenem Herzen innewerden, uns «wie eine Braut» entgegenkommt.
Wenn wir alles uns vom Schicksal Zugeworfene umarmen ‒ wie Braut oder Ball ‒ dann ist unser «Fangen-Können» nicht mehr Übung, sondern Vermögen im Sinne von Können.
So spielt das Geheimnis im All mit dem Geheimnis in dir ‒ letztlich das eine Geheimnis mit sich selbst.
«Lila» nennt der Hinduismus dieses Spiel.[3]
Um völlig in dieses Spiel einzutreten, musst du aber «zurückzuwerfen Kraft und Mut» besitzen ‒ und noch mehr: Du sollst dabei deine mutige Entscheidung und deinen Kraftaufwand völlig vergessen «und schon geworfen» haben ‒ wie von selbst.
Ein Feuerwehrmann springt in die Flammen und rettet einen Erstickenden; eine Mutter reißt ihr Kind vor einem herannahenden Schnellzug von den Schienen. Später weisen beide jede Anerkennung zurück: «Es war schon geschehen, bevor wir überhaupt Zeit hatten, nachzudenken», sagen sie.
Das Beispiel, auf das der Dichter hinweist, sind «die Wandervogelschwärme», die instinktiv tun, was bei uns Menschen willige Bereitschaft verlangt. Durch diese können aber auch wir «gültig» mitspielen und unser alltägliches Tun wird dann ‒ ganz unauffällig ‒ zu einem kosmischen Ereignis: Der Ball wird nun zum «Meteor und rast in seine Räume ...»
Nicht mehr nur unsre Räume sind es, in denen sich nun unser Tun abspielt; unser Alltag nimmt teil am großen Geheimnis, das im Kosmos spielt.
Solang du Selbstgeworfnes fängst, ist alles
Geschicklichheit und lässlicher Gewinn ‒ ;
erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,
den eine ewige Mit-Spielerin
dir zuwarf, deiner Mitte, in genau
gekonntem Schwung, in einem jener Bögen
aus Gottes großem Brücken-Bau:
erst dann ist Fangen-Können ein Vermögen, ‒
nicht deines, einer Welt. Und wenn du gar
zurückzuwerfen Kraft und Mut besäßest,
nein, wunderbarer: Mut und Kraft vergäßest
und schon geworfen hättest ... (wie das Jahr
die Vögel wirft, die Wandervogelschwärme,
die eine ältere einer jungen Wärme
hinüberschleudert über Meere ‒) erst
in diesem Wagnis spielst du gültig mit.
Erleichterst dir den Wurf nicht mehr; erschwerst
dir ihn nicht mehr. Aus deinen Händen tritt
das Meteor und rast in seine Räume ...[4]
Das gelingt uns aber nicht ein für alle Mal. Wir müssen uns wieder und wieder darum bemühen, bevor es uns zur zweiten Natur wird.
Der Dichter weiß, was es uns so schwermacht, an diesem Ballspiel teilzunehmen. In der 4. Duineser Elegie finden wir die Ursache ‒ und auch hier im Bild der Zugvögel:
Wir sind nicht einig.
Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zug-
vögel verständigt. Überholt und spät,
so drängen wir uns plötzlich Winden auf
und fallen ein auf teilnahmslosen Teich.
«Wir sind nicht einig» mit uns selbst, weil wir im Ego stecken, also auch «nicht einig» untereinander und wegen unsrer Eigenwilligkeit auch «nicht einig» mit dem Fließweg des Lebens.
Weil wir nicht stillwerden und hinhorchen, versäumen wir den rechten Augenblick.
Dann «drängen wir uns plötzlich» dem Geschehen auf, anstatt mit ihm zu fließen.
Und doch ist das Einzige, worauf es ankommt, Harmonie mit dem Leben.
Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns.
Und dabei geht es um die grundlegenden Haltungen zum Leben ‒ und zum großen Geheimnis. Unser Dreischritt von «Stop ‒ Look ‒ Go» lässt uns diese Haltungen klarer erkennen.
1. Durch «Stop» üben wir das für alle andren Haltungen grundlegende Lebensvertrauen.
Unsre hektischen Aktivitäten sind oft vergebliche Versuche, diese Haltung stillen Vertrauens durch Kontrolle zu ersetzen. In der Sprache spiritueller Traditionen heißt radikales Lebensvertrauen: Glauben.
2. Durch »Look» üben wir eine Haltung, die traditionell Hoffnung genannt wird.
Hoffnung unterscheidet sich von unsren Hoffnungen, denn diese sind immer auf etwas gerichtet, das wir uns vorstellen können.
Hoffnung aber ist radikale Offenheit für Überraschung ‒ für das Unvorstellbare. Wenn dies die Einstellung ist, mit der wir schauen, hinhorchen und alle andren Sinne öffnen, dann kommt zum Lebensvertrauen eine neue Dimension hinzu: Bereitschaft für die Anforderungen, die das Leben an uns stellt.
3. Durch «Go» antworten wir dann auf diese Anforderungen. Dadurch treten wir bereitwillig in Beziehung zu dem ganzen unendlich weit verzweigten Netzwerk des Lebens.
Durch diese Bereitwilligkeit sagen wir ein radikales Ja zur Zugehörigkeit ‒ nicht mit unsren Lippen, sondern durch unser Tun.
Dies aber kennen wir schon als die Definition für Liebe.
So wie sich die Haltung des Glaubens vom Für-wahr-Halten unterscheidet und die Hoffnung von den Hoffnungen, so unterscheidet sich die Liebe von unsren Vorlieben, unsrem Verlangen.
Durch «Stop ‒ Look ‒ Go» können wir die Haltungen von Glauben, Hoffnung und Liebe ‒ also unsre Beziehung zum Geheimnis als Mitte unsrer grundlegenden Orientierung im Leben ‒ immer wieder erneuern und so Sinn finden.
Sogar jedes Kind kann unsrem einfachen Dreischritt «Stop ‒ Look ‒ Go» folgen und so bleibende Lebensfreude finden durch dankbares Leben. Denn «Stop ‒ Look ‒ Go» ist der Dreischritt der Dankbarkeit.[5]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 5]
[Ergänzend:
1. Musik der Stille (2023) 72-74
«In der Prim[6] verpflichten wir uns, heute alles so zu tun, als würden wir Kindern beibringen, die Straße zu überqueren: anhalten, hinschauen und dann gehen.
Um den Tag richtig gut zu beginnen, ist der erste Schritt: anhalten. Es ist so leicht, sich unverzüglich mitten in irgendetwas hineinzustürzen, das man sich vorgenommen hat, ohne bewusst damit zu beginnen. Jeder bewusste Anfang beginnt mit einem Innehalten, auch wenn es nur für den Bruchteil einer Sekunde ist. Tun wir das nicht, werden wir einfach mitgerissen, wie dies nur allzu oft vorkommt.
Dieser bewusste Beginn findet seinen Ausdruck in den Gesängen, wo alles davon abhängt, im richtigen Zeitpunkt einzusetzen. Um im richtigen Moment einzusetzen, müssen wir zuerst innehalten.
Wenn der Dirigent den Taktstock hebt, verharrt das ganze Orchester einen Augenblick in Stille ‒ danach erst setzt es mit dem ersten Abschlag des Taktstocks ein. Würde der Dirigent einfach aufs Podium steigen und unverzüglich damit beginnen, den Taktstock zu schwingen, könnte nie Musik daraus entstehen, sondern lediglich ein klanglicher Wirrwarr. Dieser Augenblick der Stille, bevor die Musik anhebt, ist auch beim Singen unerlässlich.
Der zweite Schritt ist Hinschauen. Wenn wir nicht hinschauen, dann nützt uns auch das Anhalten nichts. Der Chor muss auf den Kantor schauen und auf sein Zeichen zum Einsatz achten. Bei jeder Tätigkeit ist es wichtig, zunächst auf alles zu achten, was diese Handlung betrifft: Wurde uns diese Aufgabe vielleicht schon früher einmal gestellt? Wie haben wir sie damals gelöst? Was ist uns dabei gelungen? Was haben wir versäumt? So vermeiden wir, den gleichen Fehler allzu oft zu wiederholen.
Es heißt, ein Narr begehe immer wieder denselben Fehler, ein Weiser hingegen jedes Mal einen neuen. Wir können nicht vermeiden, Fehler zu machen, aber wir können diejenigen vermeiden, die wir schon einmal begangen haben. Dummerweise neigen wir dazu, geflissentlich zu übersehen, was wir nicht sehen wollen. Ehrliches Hinschauen kann aber gelernt werden.
Zum Dritten müssen wir gehen. Es hilft uns nicht, anzuhalten, wenn wir nicht hinschauen, und es nützt nichts, anzuhalten und hinzuschauen, wenn wir nicht auch gehen. Schlussendlich müssen wir handeln. Die drei gehören zusammen, und der Trommelschlag des Engels signalisiert: ‹Halt an, schau hin, geh voran!› Lass uns aufbrechen.»
2. Bruder David geht auf das Ringen Jakobs mit dem Engel ein in TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 82-89
3. Video und Audios zu Stop ‒ Look ‒ Go
Video Was am Ende wirklich zählt (2022), siehe auch Transkription, 3f.:
(09:20) «Was würdest Du denn sagen, Bruder David: Was ist ein ganz wichtiges Werkzeug, um das in sich zu erschaffen, wenn’s nicht schon da ist oder wenn wir’s einfach nicht sehen können. Ich denke, so viele wünschen sich ja diesen Zustand des Vertrauens und der Liebe und der Dankbarkeit und sich Wohlfühlen. Sie erahnen, wie schön das wäre, wenn es in ihnen wach wäre und finden trotzdem nicht dahin. Gibt’s ein Werkzeug?»
David Steindl-Rast: «Und da kommt wieder die Dankbarkeit herein. Und die Übung der Dankbarkeit ist ein ganz einfacher Dreischritt:
Stop ‒ Look ‒ Go.
Also ein Innehalten, Innewerden und dann Tun.
Und das heißt immer wieder im Laufe des Tages ‒ und das kann man üben ‒, immer wieder innezuhalten, einen kleinen Augenblick der Stille dieses automatische Dahinleben unterbrechen und einen Augenblick lang still zu werden. Und in dieser Stille: die schafft jetzt Raum zu sehen. Und zwar hinzuschauen: Was gibt mir jetzt das Leben in diesem Augenblick für eine Gelegenheit? Und das ist das ‹Look›.
Jetzt kommt das ‹Go›: Das ‹Go› heißt: Mach jetzt etwas aus dieser Gelegenheit.»
Lebendige Spiritualität (2015)
Die Themen des Gesprächs:
‹Stop ‒ Look ‒ Go› leben
Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(29:24) Die Methode: Stop ‒ Look ‒ Go, Innehalten ‒ Innewerden ‒ Tun: Unsere täglichen buddhistischen Augenblicke, unsere ‹amunah›-Spiritualität und unser Yoga
4. Audios zu Gedichten
Fragen, die uns bewegen (2005)
Vortrag:
(37:46) ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (R. M. Rilke, Das Stunden-Buch)
Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag:
Was fördert gesundes spirituelles Wachstum (siehe auch Mitschrift):
(05:14) ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (R. M. Rilke, Das Stunden-Buch)
Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Fragerunde:
‹Solang du Selbstgeworfnes fängst› (R. M. Rilke)
Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast:
Teil 1:
(11:04) Stufen im Gedicht von R. M. Rilke: ‹Solang du Selbstgeworfnes fängst›
Audio-Vortrag Fülle und Nichts (1996):
(01:47) ‹Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt› (Rilke, Die vierte Duineser Elegie)
Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus unsern Herrn:
(20:21) ‹Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt› (Rilke, Die vierte Duineser Elegie)
5. Weitere Texte und Interviews
Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt, Mystiker zu sein (2020): Interview von Evelin Gander mit Bruder David:
«Haben Sie vielleicht einen Tipp wie wir uns in Achtsamkeit üben können?»
«Als beliebtester Tipp hat sich eine Merkhilfe eingebürgert. Sie besteht aus drei englischen Wörtern, die man Kindern einprägt, wenn sie lernen, an einer Kreuzung ohne Verkehrsampel gefahrlos die Straße zu überqueren: ‹Stop / Look / Go!› — innehalten / rechts und links schauen / und dann rasch machen, bevor die Verkehrslage sich ändert.
Aufs Üben von Dankbarkeit übertragen, bedeutet das: innehalten, denn sonst läufst du an der Gelegenheit vorbei, die dieser Augenblick dir schenkt; / Ausschau halten nach der Gelegenheit, die du ergreifen willst; / und sie dann auch wirklich beim Schopf packen, denn im nächsten Augenblick kann sich die Lage schon ändern.
Meist ist, was uns geboten wird, die Gelegenheit uns einfach zu freuen, an dem was dieser Augenblick bringt. Das klingt zu gut, um wahr zu sein, bis wir das Stop ‒ Look ‒ Go selber ausprobieren.
Wir halten ja so selten inne, sondern laufen wie Schlafwandler an der Gelegenheit uns zu freuen vorbei und wachen erst auf, wenn etwas Unangenehmes uns wachrüttelt. So oft wir aber dieses Stop ‒ Look ‒ Go üben, lassen wir dieses Roboterdasein einen Schritt zurück und kommen näher heran an das wache, erfüllte Leben dankbarer Menschen. So werden Selbstfindung und Selbstverwirklichung gerade denen geschenkt, die diese Werte nicht als ausdrückliches Ziel anstreben.»
Von Augenblick zu Augenblick (2020): Interview von Ester Platzer mit Bruder David:
«Wie kann man lernen, jeden Augenblick zu genießen?»
«Ich habe da eine kleine Methode entwickelt, die lautet: ‹Stop. Look. Go.› Mit ‹Stop› meine ich: Kurz innehalten, still werden, ins Jetzt kommen, um einen Augenblick zu erkennen. ‹Look› heißt: schauen, welche Gelegenheit das Leben gerade offenbart. ‹Go› bedeutet: etwas aus der Situation machen, handeln, sich erfreuen oder etwas lernen.»
Die drei Schritte der Dankbarkeit (2020) von in KARUNA-Straßenzeitung (Text 2001 erschienen)
Die Innehalten ‒ Schauen ‒ Handeln-Technik (2018):
«INNEHALTEN – präsent, wach, bewusst, empfänglich werden
SCHAUEN – bemerken, beobachten, betrachten, eine direkte Erfahrung machen
HANDELN – anerkennen, etwas in die Hand nehmen, etwas mit den Möglichkeiten und dem Bewusstsein tun, die durch Dankbarkeit entstehen»]
________________
[1] R. M. Rilke: ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (Das Stunden-Buch) ‒ Siehe auch Stille leben
[2] «Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann ‒
und ich fasse den plastischen Tag.
Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.
Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los...»
Mit diesem Gedicht eröffnet Rilke Das Stunden-Buch.
[3] LILA, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 147f.:
«Lila ist ein Sanskrit-Wort, das ‹Spiel› bedeutet, und steht im Hinduismus für die Vorstellung, dass das gesamte Weltgeschehen letztlich Spiel des Großen Geheimnisses ist: göttliches Kinderspiel, der große Reigentanz des Universums.
Auch für Nicht-Hindus kann dieses Bild große Bedeutung haben: Sinn unsres Lebens ist es, mit dem kosmischen Tanz im Schritt zu sein.»
[4] R. M. Rilke: ‹Solang du Selbstgeworfnes fängst› (Aus dem Nachlass)
[5] Orientierung finden (2021), 102-104, 106f., 86, 107f.
[6] Musik der Stille (2023), 66:
«Die Prim ist die Stunde der Arbeitsverteilung. … Der Ort der Prim ist der Kapitelsaal, wo die Mönche zusammenkommen, um die praktischen Fragen der Gemeinschaft zu besprechen. Die Arbeit wird gemeinsam verteilt.»
Tanz ‒ der Sinn des Ganzen
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
I want to know what this whole show
is all about, before it's out.
Wüsst‘ ich nur jetzt, um was zuletzt
sich alles dreht, bevor‘s vergeht!
Piet Hein (19O5-1996)
Jetzt, mitten in meinen 90er-Jahren, frage ich meinen Freund Thomas, der in seinen 20ern ist:
«Wie steht's da eigentlich mit jungen Leuten heute? Wollt auch ihr so leidenschaftlich wie Piet Hein und ich wissen, worum sich letztlich alles dreht?»
«Ja», sagt er, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, «diese Frage beschäftigt auch uns immerfort!»
Tommys Antwort hat mich letztlich dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben. Ich möchte versuchen, die wichtigsten Orientierungspunkt zu markieren, die ich im Laufe meines Lebens finden konnte.
Denn: Wollen wir unsern Platz im Ganzen finden, dann müssen wir auf die dynamische Vernetzung von allem mit allem schauen. Das kann unsere persönliche Aufgabe im weitesten Zusammenhang erkennen lassen.[1]
Mein ganzes Leben lang wollte ich vor allem wissen, wie alles mit allem zusammenhängt.
Was mich brennend interessiert, ist das Gesamtbild ‒ die Frage nach dem äußersten Horizont, die Frage, worum es letztlich geht.
Karte ist ein zu statisches Bild. Es geht wohl eher um ein Verständnis der Choreografie des Ganzen, dessen wichtigste Merkmale Bewegung und Veränderung sind.
Wenn wir uns tief einfühlen, dann bemerken wir, dass zum Gesamtbild nicht nur verändernde Bewegung gehört, sondern auch ruhendes Bleiben.
Beides muss unser Sinnbild der Wirklichkeit ausdrücken können, Bewegung und Ruhe.
Da bietet sich das Bild eines Reigens an, der ohne Anfang und Ende in sich ruht, während er sich doch unaufhörlich bewegt.
Wir tanzen nicht, um irgendwo anzukommen. Tanzen bezweckt nichts. Es ist zweckfrei, aber sinnvoll. Und doch zielen wir beim Tanzen auf etwas ab:
Wir wollen der Musik den bestmöglichen Ausdruck verleihen und perfekt im Schritt sein, jetzt und jetzt und jetzt.[2]
Beim Tanz dreht sich alles um die Gelegenheit, Augenblick für Augenblick im Schritt zu sein mit denen, die uns am nächsten stehen im Kreis, und durch sie mit allen Tänzern in eine Wechselwirkung zu treten.
Das Ziel ist, völlig eins zu werden mit Rhythmus und Harmonie des Tanzes.
Tanz aber ist hier Sinnbild für Wandel und den Gang des ganzen Universums.
Vergiss das Sinnbild des Reigentanzes nicht!
Es sollte aufleuchten, sooft es um das Gesamtbild geht, und als Hintergrund dienen für alle Erwägungen, auf die wir uns in diesem Buch einlassen werden.
Ringelreigen kennen zwar auch jetzt noch alle vom Kindergarten her, aber der Rundtanz für Erwachsene ist schon fast verlorengegangen. Es freut mich, dass junge Menschen heute diese Urform des Tanzens wiederentdecken.
Kreis und Ring sind unerschöpfliche Sinnbilder für das kosmische Ganze ‒ von den vorgeschichtlichen Steinkreisen bis zum Ensō in der japanischen Kalligraphie.
Oft werden wir sehen, dass es Dichter sind, die uns besonders gut den tieferen Sinn von Wort und Bild erschließen können. Das gilt auch für den Reigentanz.
Dabei ist es bedeutsam, dass wir als bloße Zuschauer das Wichtigste nicht sehen können.
Von außerhalb des Kreises gesehen, muss es uns immer so erscheinen, als ob die uns Fernsten in die entgegengesetzte Richtung jener gehen, die uns am nächsten sind.
Erst wenn wir selber in den Kreis eintreten, links und rechts unsre Partner bei den Händen fassen und mittanzen, wird uns klar, dass alle sich in der gleichen Richtung bewegen.[3]
Beim Bild des Reigentanzes schwingt stets die Vorstellung von Gemeinschaft mit. Wir müssen das betonen, weil beim heutigen Tanzen oft nur die Musik das Verbindende ist, die einzelnen Tänzer aber weitgehend unabhängig voneinander ihre eigenen Tanzschritte und Figuren ausführen.
Beim Rundtanz tanzen sie miteinander, er vereint die Tanzenden zu einer Gemeinschaft.
Dein Leben ist untrennbar verbunden mit dem Leben aller andren ‒ dem ganzen Universum.
Im großen Chor ist jede Stimme unentbehrlich; im großen Tanz ist jede Tänzerin, jeder Tänzer unersetzlich.
Das allumfassende Leben wird Dir schon zeigen, was du mit deinem Anteil am Ganzen tun sollst. Darauf darfst du dich vertrauensvoll verlassen.[4]
Bei C. S. Lewis (1898-1963) bin ich zum ersten Mal auf das Bild des großen Tanzes gestoßen, den er auch das große Spiel nennt.
In seinem Weltraumroman «Perelandra» heißt es:
«Er hat vor allem Anfang begonnen ... Der Tanz, den wir tanzen, ist die Mitte und um des Tanzes willen wurde alles erschaffen ... Im Plan des großen Tanzes greifen Pläne ohne Zahl ineinander, und jede Figur führt zu ihrer Zeit zum Aufblühen des gesamten Entwurfs, auf den alles hinzielt ... Alles Geschaffene erscheint dem verdunkelten Geist planlos, weil da mehr Pläne im Spiel sind, als er sich vorstellen kann ... Fasse eine Bewegung ins Auge, und sie wird dich durch alle Figuren führen und dir als die Hauptfigur erscheinen. Und das Scheinbare wird wahr sein. Möge kein Mund widersprechen. Alles scheint planlos, weil alles Plan ist: Alles scheint ohne Mitte, weil überall Mitte ist.»
Der amerikanische Schriftsteller T. S. Eliot (1888-1965) spricht von dieser geheimnisvollen Mitte ‒ vom Jetzt ‒ als «dem stillen Punkt der sich drehenden Welt».
«Das Jetzt ist der Augenblick, in dem der Tänzer ‹ruht und immer noch in Bewegung› ist, völlig im Schritt mit dem kosmischen Rhythmus. Es ist der Augenblick, in dem paradoxerweise der Pfeil unsrer Tanzbewegung sein Ziel erreicht, ohne anzuhalten in seinem Flug. An diesem ‹ruhenden Punkt, da ist der Tanz. ... Ohne den Punkt, den Ruhepunkt, gäbe es keinen Tanz, und es gibt nichts als den Tanz.›»[5]
Die Worte des bekannten Kanons «Liebe ist ein Ring. Ein Ring hat kein Ende» könnten gut von einem nachdenklichen Zuschauer bei einem Ringelreigen stammen.
Der Dichter Robert Frost (1874-1963) fügt hinzu:
«Wir tanzen rätselnd rundum im Kreis;
Das Geheimnis sitzt in der Mitte und weiß.»
Zusammengenommen weisen diese beiden kurzen Texte auf das Gleiche hin, was schon Dante (1265-1321) in seinem berühmten Vers angesprochen hat:
«L'amor che move il sole e I'altre stelle ‒ die Liebe, die alles bewegt.»
Das zentrale Geheimnis des kosmischen Rundtanzes ist die Liebe.[6]
Lila ist ein Sanskrit-Wort, das «Spiel» bedeutet, und steht im Hinduismus für die Vorstellung, dass das gesamte Weltgeschehen letztlich Spiel des Großen Geheimnisses ist: göttliches Kinderspiel, der große Reigentanz des Universums.
Auch für Nicht-Hindus kann dieses Bild große Bedeutung haben: Sinn unsres Lebens ist es, mit dem kosmischen Tanz im Schritt zu sein.[7]
Unser wahres Selbst ist nicht das kleine individualistische Selbst neben anderen.
Dies entdecken wir in jenen Augenblicken, in denen wir zu unserer großen Überraschung eine tiefe Kommunion mit allen anderen Wesen erfahren. Diese Momente gibt es in unser aller Leben.
Vielleicht erinnern wir sie als «Hochwassermarken» der Bewusstheit, der Lebendigkeit, als Momente unserer besten Verfassung, als jene Augenblicke, in denen wir am meisten wir selbst waren.
Vielleicht aber versuchen wir auch die Erinnerung an jene Momente zu verdrängen, denn jene Springflut der Kommunion ist eine Bedrohung der defensiven Isolation, in der wir uns geschützt vorkommen.
Die Mauern, hinter denen wir uns verstecken, mögen dem Ansturm des Lebens lange standhalten.
Aber ganz plötzlich, an irgendeinem Tag, wird, wie in dem folgenden Bericht aus «The Protean Body» von Don Johnson, die große Überraschung über uns einbrechen:
«Ich ging hinaus auf eine Mole im Golf von Mexico. Ich hörte auf zu sein. Ich erfuhr mich als Teil des Windes, der von der See hereinkam, als Bestandteil der Bewegung von Wasser und Fischen, der Sonnenstrahlen, der Farben der Palmen und tropischen Blumen. Es gab keine Vorstellung mehr von Vergangenheit oder Zukunft. Und es war kein besonders seliges Erlebnis: es war Furcht erregend. Es war die Art ekstatischer Erfahrung, die ich mit einigem Aufwand an Energie zu vermeiden versucht hätte. Ich erlebte mich nicht als identisch mit Wasser, Wind und Licht, sondern als nähme ich teil am gleichen Bewegungssystem. Wir tanzten alle miteinander...»
In diesem großartigen Tanz sind Gebende und Empfangende eins. Ganz plötzlich können wir erkennen, wie unwesentlich es ist, welche der beiden Rollen man in einem gegebenen Moment zu spielen hat.
Jenseits aller Zeit ruht unser wahres Selbst in vollkommener Stille in sich selbst.
Verwirklicht wird dies in der Zeit durch ein anmutiges Geben-und-Nehmen im Tanz des Lebens.
Wie bei einem sich schnell drehenden Kreisel sind Stille und Tanz eins.
Nur in jenem Einssein von Geben und Nehmen findet sich wahre Selbstständigkeit. Jede andere Selbstständigkeit ist Illusion.
Das Wirkliche aber erweist sich am Ende immer als jeder Illusion überlegen.
Früher oder später wird es durchscheinen wie die Sonne durch den Nebel. Das Leben, unser Lehrer, wird das besorgen.[8]
DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Manchmal fällt es mir schwer, zu vertrauen, dass wirklich alles dazugehört zum großen kosmischen Tanz und daher Sinn hat ‒ sogar meine Depression. In beängstigender Lustlosigkeit verfangen, kann ich bestenfalls an meinem gewohnten Tageslauf festhalten, tief durchatmen, spazieren gehen und abwarten, dass der Nebel sich lichtet.
Wie soll ich mich Dir zuwenden in meiner inneren Lähmung?
So tun als ob, wäre Verlogenheit.
Heute kann ich nur warten ‒ offen bleiben für unvorstellbare Überraschungen.
Dieses hoffnungsvolle Warten ‒ ohne Hoffnung zu fühlen ‒ soll heute mein Gebet sein.
Amen.[9]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3-4, 6-9]
[Ergänzend:
1. Im Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) kommt das Schweigen zu Wort und führt uns wieder zum Schweigen, dem «stillen Punkt der kreisenden Welt.» (T. S. Eliot, Four Quartets: Burnt Norton, II, siehe auch: Stillehalten):
(24:38-27:51) «Die Zeit, um die es hier geht, ist nicht unsere Zeit, aber eine Zeit, die wir in den großen Rhythmen des Lebens entdecken und der wir uns hingeben können auf unserem Weg zum Sinn.»
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun:
(31:00) ‹Singe die Gärten, mein Herz, die du nicht kennst … Seidener Faden kamst du hinein ins Gewebe› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, XXI) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus) / (34:52) ‹Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn› (Rilke, Die Sonette 1. Teil, VIII) – ‹Zwischen den Hämmern besteht unser Herz› (Rilke, Die neunte Elegie)
(48:31) … «das heißt: Kehre von der Vielfalt in die Einheit zurück, aus dem Wort ins Schweigen, in das eine Schweigen, was die kappadozischen Väter, die frühen griechischen Väter, schon im 4. Jh. den Reigentanz der Trinität genannt haben: Aus dem Schweigen des Vaters in das Wort des Logos und durch das Verstehen des Hl. Geistes zurück in das Schweigen: Aus der Einheit in die Vielfalt und durch das Tun und Verstehen wieder zurück in die Einheit. Also immer wieder geht es um unser Eingebettet sein in dem Geheimnis.»
2.2. Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Vortrag
[ebenso weiter unten auch das Audio: «Ich vertraue dem Leben» (Rilke, Augustinus)]:
(01:15:24) ‹Seidener Faden kamst du hinein ins Gewebe› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, XXI) ‒ ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus)
2.3 Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Dem Welthaushalt freudig dienen: Pater Johannes und Bruder David im Dialog:
(16:37) Ordnung als Zustand, in dem jedes Ding dem andern den ihm angemessenen Platz zugesteht ‒ Das Hochzeitsfest in der Natur /
(18:54) Ordo est amoris (Augustinus): Was würde die Liebe dazu sagen?
(38:59) Wie kann Gott Unglück, Leid und Not zulassen? Unsere Vorstellungen verlassen und uns auf das Leben verlassen: ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus)
2.4. Audio TAO der Hoffnung (1994)
Vortrag:
(28:12) «Wenn wir uns vom Wort in das Schweigen führen lassen und vom Schweigen in das Wort ‒ das ist ein Tanz, das ist eine Rundbewegung vom Wort ins Schweigen und vom Schweigen ins Wort ‒, dann verstehen wir. Wir verstehen erst wirklich, wenn wir uns einem Wort: einer Situation, einem Menschen … diesem Wort, dem, was Sinn hat, so hingeben, dass es uns in die Stille führt ‒, dann verstehen wir. Und wenn wir so in die Stille lauschen, dass die Stille zu Wort kommt, dann verstehen wir auch. Oder wenn wir so uns dem Wort so hingeben, dass es uns in die Stille führt und uns dann sendet sozusagen, hinaussendet, etwas zu tun: In dem Tun verstehen wir dann. Im Tun, nur im Tun können wir richtig verstehen. … Verstehen und Tun gehören engstens zusammen.»
(41:47) ‹Das ist es!›: die Melodie zum Tanz in drei verschiedenen Betonungen – Der Reigentanz der Religionen von außen und von innen her betrachtet: «Wir können es nicht von außen verstehen, nur von innen. Und wenn wir selber aus dieser Mitte heraus leben, dann gibt es Hoffnung für unsere Welt. Denn dann werden wir nicht immer wieder in den Fehler verfallen, zu behaupten, dass die, die uns am weitesten entfernt sind, in der entgegengesetzten Richtung gehen wie die, die uns am nächsten sind. Sondern dann werden wir gemeinsam tanzen ‒ und tanzen! Darauf kommt es eigentlich an: uns freuen, singen, tanzen. Und das ist dann die Gesellschaft der Zukunft, die uns Hoffnung gibt, das TAO der Hoffnung. Das TAO ist ja diese Bewegung, das TAO ist dieser Fluss …»
2.5. Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(51:31) Der himmlische, überirdische, außerzeitliche Reigentanz der Dreieinigkeit Gottes gespiegelt im Reigentanz der Religionen – Der Blickwinkel der Außenstehenden auf einen Kreistanz im Unterschied zu jenen, die drinnen sind
2.6. Audio-Vortrag Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsreferat:
(12:17) ‹Das Herz, das ins Ganze geborne› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, II) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus)
2.7. Mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
(49:55) «Was könnte sich mehr unterscheiden als Wort, Schweigen und Verständnis, drei Begriffe, für die wir überhaupt keinen Oberbegriff haben. Wir können es kaum ‹drei› nennen, und das ist ja auch sehr passend, denn auch in der Trinität soll man ja eigentlich letztlich nicht von ‹drei› sprechen. Der hl. Augustinus sagt schön: ‹Wenn du anfängst zu zählen, bist du schon in Häresie gefallen. Zu zählen ist da nichts. Aber es handelt sich um drei Grunderlebnisse.»
3. Texte
3.1. Im Buch Orientierung finden (2021):
«‹Ich sprach zu meiner Seele, sei still und warte›, sagt T. S. Eliot.[10] Aber er weiß auch, dass Stille beängstigend werden kann, weil sie uns des Lärms beraubt, mit dem wir uns gerne ablenken von der Dunkelheit, die in uns aufsteigt, wenn wir still werden. Fürchte dich nicht, sagt daher der Dichter, du kannst der inneren Stille und Dunkelheit vertrauen. Und er schließt mit den tröstlichen Worten:
‹Die Dunkelheit wird das Licht sein, und die Stille das Tanzen.›
Wenn wir also ein gesundes Zeitbewusstsein wiederfinden wollen, müssen wir zunächst gewahr werden, dass wir nicht im Schritt sind mit dem großen Tanz.
Rilke weiß: Wir sind nicht einig mit dem Rhythmus des Lebens und darum auch nicht einig mit uns selbst.
Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zug-
vögel verständigt. Überholt und spät,
so drängen wir uns plötzlich Winden auf
und fallen ein auf teilnahmslosen Teich.»
[Orientierung finden (2021): Berufung ‒ Folge deinem Stern!, 97; siehe auch Audio-Vortrag Fülle und Nichts (1996)[11]]
‹Wir sind nicht einig› mit uns selbst, weil wir im Ego stecken, also auch ‹nicht einig› untereinander und wegen unsrer Eigenwilligkeit auch ‹nicht einig› mit dem Fließweg des Lebens. Weil wir nicht stillwerden und hinhorchen, versäumen wir den rechten Augenblick. Dann drängen wir uns plötzlich› dem Geschehen auf, anstatt mit ihm zu fließen. Und doch ist das Einzige, worauf es ankommt, Harmonie mit dem Leben. Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns. Ganz gleich, ob wir im Garten arbeiten, ein Buch lesen, ein Hemd bügeln oder an einer Telefonkonferenz teilnehmen, ‹gute Arbeit› ist wie ein kosmisches Ballspiel, ‹wie ein heiliger Tanz.›»[12]
«So oft wir innehalten, sei's auch nur für einen Augenblick, umfängt uns das Geheimnis als Schweigen. So oft wir aus innerer Stille heraus hinhorchen auf das, was der Augenblick uns zuspricht, öffnen sich die Ohren unsres Herzens für das Geheimnis als Wort. Und so oft wir dann durch unser Tun Antwort geben auf dieses Wort, sei es ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, ein Ding oder ein Ereignis, werden wir das unbegreifliche Geheimnis durch unser Tun verstehen, so wie wir den Tanz nur dadurch verstehen können, dass wir tanzen.» [Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 108f. und 113]
Schweigen, Wort und Verstehen durch Tun sind grundlegende Schlüsselwörter, die wir unbedingt brauchen, um Sinn zu finden.
Jedes echte Wort muss aus dem Schweigen kommen, sonst ist es nur Geplapper.
Wenn wir dieses Wort schweigend empfangen und tief darauf hinhorchen, wird es uns ergreifen und uns dazu bewegen, durch unser Tun darauf zu antworten.
Dies ist es übrigens, was Gehorsam, richtig verstanden, bedeutet.
Durch intensives Hinhorchen ‒ gehorchen ist ja die Intensivform von horchen ‒ zeigen wir uns bereit, zu tun, was das Wort fordert, und kommen durchs Tun zum Verständnis.
So führt uns das Wort, das uns ergriffen hat, in das Schweigen zurück, aus dem es hervorgegangen ist.
Erkennst du in dieser Bewegung unsren ‹Rundtanz› wieder?
Kein Wunder. Es geht ja bei diesem Orientierungs-Dreischritt von Schweigen, Wort und Verstehen-durch-Tun letztlich um das, worum sich alles dreht ‒ und das ist das Geheimnis.» [Orientierung finden (2021): «Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›», 45f.]
«Wenn wir nach dem hier Gesagten nun nach dem Sinn des Lebens fragen, so ergibt sich die überraschende Antwort, dass es Spiel sein muss ‒ ‹Lila› nennt es der Hinduismus ‒ der große Tanz.» [SINN, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 157]
«Östliche Weisheit verweist auf diesen natürlichen Fluss der Dinge als das TAO. ‹Watercourse Way› nennt Alan Watts das TAO auf English. ‹Fließweg› könnten wir es vielleicht nennen ‒ ein schönes deutsches Wort, das Geologen bei der Beschreibung von Flüssen verwenden. Um mit dem TAO zu fließen, müssen wir zu unsrer ursprünglichen Geisteshaltung, zum ‹Anfängergeist› des Kindes zurückfinden. Als Baby bist du ganz selbstverständlich sowohl im Fluss des Lebens als auch im Jetzt. ‹Du hast noch kein Ich, das sich von dem, was geschieht, unterscheidet›, wie Alan Watts es ausdrückt. ‹Deshalb geschieht Dir auch nichts. Es geschieht einfach.› Du nimmst teil, sagt er an ‹den wundervollen Tanzfiguren … fließenden Wassers›.
Wann immer wir im Jetzt sind, sind wir auch als Erwachsene im ‹Fließweg›. Dann fließt unsre Entscheidung im Einklang mit dem Universum ‒ nicht durch irgendwelche Magie, sondern durch unser vernünftiges Eingehen auf die Gelegenheit, die das Leben uns hier und jetzt bietet. Wie beim Baby ‹geschieht einfach› das Lebensbejahende, aber mit unsrer Zustimmung. Unsre willige Entscheidung ‒ was immer sie betrifft ‒ wird von der Lebenskraft getroffen, die frei durch uns durchfließt.» [Orientierung finden (2021): «Entscheidung ‒ Was will das Leben jetzt von mir?» 88f.]
3.2. Im Buch Die Achtsamkeit des Herzens (2021)
«Um im Rhythmus zu bleiben, muss man hinhorchen. Um den Weg zu sehen, muss man hinschauen. Das Kloster ist deshalb ein Ort, an dem man lernt, Augen und Ohren offen zu halten.
‹Höre!› ist das erste Wort der Klosterregel des Heiligen Benedikt, ein weiteres Schlüsselwort lautet: ‹Betrachte!› (lateinisch: considera, von sidus: das Sternbild/Gestirn, also wörtlich: seinen Kurs nach den Sternen bestimmen).
Der Heilige Benedikt, Vater des abendländischen Mönchtums, will, dass die Mönche ‹apertis oculis› und ‹attonitis auribus› leben, d. h. mit so offenen Augen und so horchenden Ohren, dass die Stille göttlicher Gegenwart sie wie Donner trifft.[13]
Deshalb ist ein Benediktiner Kloster ‹schola Dominici servitii›, eine Schule, in der man lernt, sich auf die höchste Ordnung einzustimmen.
Eine solche Ordnung ist allerdings keineswegs starr.
Es wäre ein großes Missverständnis, die höchste Ordnung als statisch zu begreifen. Ganz im Gegenteil. Sie ist zuinnerst dynamisch.
Das Einzige, womit wir diese Ordnung vergleichen können, ist der Tanz der Sphären.
Wir sind eingeladen, uns auf diese Harmonie einzustimmen, nach der das ganze Universum tanzt.
Im Kloster können wir dies in einem professionellen Rahmen lernen.
Der Heilige Augustinus drückt die Dynamik der höchsten Ordnung aus, wenn er sagt: ‹Ordo est amoris›, das heißt, Ordnung ist einfach Ausdruck der Liebe, die das All bewegt, Dantes ‹l‘amor che muove il sole e l'altre stelle›.
Während sich jedoch das übrige Universum frei und anmutig in kosmischer Harmonie bewegt, sind wir Menschen nicht ohne weiteres dazu in der Lage.
Es kostet uns Mühe, unser Leben mit der dynamischen Ordnung der Liebe in Einklang zu bringen.
An einem gewissen Punkt müssen wir sogar die ungewohnte Anstrengung machen, uns nicht anzustrengen.
Das mag uns die größte Kraft kosten. Das Hindernis, das es zu überwinden gilt, ist Verhaftetsein, selbst das Verhaftetsein mit unserem eigenen Bemühen.
Die Askese ist professionelles Training zur Überwindung des Verhaftetseins in jeglicher Form.
Das Bild vom Tanz kann uns helfen, dies zu verstehen. Losgelöstheit ‒ der verneinende Aspekt der Askese ‒ befreit unsere Bewegungen, macht uns behende, gelöst.
Der bejahende Aspekt der Askese ist wache Lebendigkeit. Indem wir frei werden, uns gelöst zu bewegen, lernen wir, Schritt für Schritt auf den Rhythmus einzugehen und lauschend mit der Musik lebendig zu werden.» (23-25)
«Wir wollen einander Stille schenken. Lasst uns hier und jetzt damit beginnen. Lasst uns einander das Geschenk der Stille geben, so dass wir gemeinsam horchen und einander zuhorchen können.
Nur in dieser Stille wird es uns möglich sein, den sanften Atem des Friedens zu hören, die Musik der Sphären, die allumfassende Harmonie, in der zu tanzen wir hoffen.» (31)
«Die Choreographie des kosmischen Tanzes verlangt von uns den Willen zur Wandlung. Das Planmäßige an der Askese entspringt ja nicht der Willkür menschlichen Planens, sondern letztlich dem Bauplan des Kosmos, der sich wandelnd entfaltet.»
«Das Herz, das wirklich gehorsam hinhorcht auf den Rhythmus des großen Tanzes, steht immer am Wendepunkt, lässt leicht los, nimmt Abschied vorweg.» (94)
FÜNF BLAUE FALTER
SOMMERFEST AM STRASSENRAND
IHR, STIEFEL, STEHT STILL
Auch hier ergibt sich der Sinn aus der Zweideutigkeit der letzten Zeile. Handelt es sich um einen Befehl? Mahnt der Dichter: ‹Schau doch hin! Hier ist er ja, der große Tanz. Alles, was es dazu braucht, ist dies: eine Handvoll der allergewöhnlichsten kleinen Falter, der winzigen blauen, die man nur selten auf Blumen sieht. Sie sind damit zufrieden, ihr Sommerfest in den Spurrillen staubiger Feldwege zu feiern. Hier ist er, der ruhende Punkt des großen Tanzes, ganz für dich allein. Du musst nur stehen bleiben›?
Oder handelt es sich hier wieder um einen vollendeten Augenblick des Sich-Verlierens und Sich-Findens?
Vielleicht ist es die All-Einheit des einsamen Wanderers, dessen staubige Stiefel endlich ‹in dem ruhenden Punkt der kreisenden Welt› stillstehen ‒ ‹und es gibt nichts als den Tanz›.
DER SEE VERLIERT SICH
IM REGEN DER SICH WIEDER
TIEF IM SEE VERLIERT
SIE BLÜHEN UND DANN
SCHAUEN WIR UND DANN FALLEN
DIE BLÜTEN? UND DANN …
Der Schmerz seligen Alleinsseins und die Seligkeit des einenden Schmerzes verschmelzen auf dem Gipfel des Gipfelerlebnisses, im Ruhepunkt, im Haiku.» (112f.)
3.3. In Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 175f. und 163 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 176f. und 163f.]:
The universe may
Be as great as they say.
But it wouldn't be missed
If it didn't exist.
Das Weltall ist vielleicht
so großartig wie man sagt.
Aber niemand würde es vermissen,
wenn es gar nicht da wäre.
Piet Hein (19O5-1996)
«Mit einem entwaffnenden Lächeln legt dieser kleine Reim von Piet Hein die Tatsache bloß, dass alle gegebene Wirklichkeit reine Gabe ist. Das Universum ist gratis. Es kann und braucht auch nicht verdient werden.
Dieser einfachen Erfahrungstatsache entspringt dankbares Leben, ein Leben aus Gnade.
Dankbarkeit ist die uneingeschränkte Antwort des Herzens auf eine uns gnädig geschenkte Welt.
Und Dankbarkeit ist Begabung im doppelten Sinn. Durch sie wird uns die Welt, mit der wir begabt sind, erst richtig zur Gabe.
Und unsere Dankbarkeit macht uns begabt, anmutig am großen Tanz des Lebens teilzunehmen.»
«So ist schließlich Dankbarkeit einfach ein Weg, das Leben des Dreieinigen Gottes in uns zu erfahren
Dieses Leben kommt aus dem Vater, dem Quellgrund und unerschöpflichen Born der Göttlichkeit, dem Geber aller Gaben.
Der Vater verschenkt sich rückhaltlos im Sohn.
Der Sohn empfängt sich selbst vom Vater und wird zum Wendepunkt dieses göttlichen Stroms des Gebens.
Denn im Heiligen Geist gibt der Sohn dem Vater sich selbst als höchsten und letzten Dank zurück.
Der Dreieinige Gott ist Geber, Gabe und Dank.
Alles was ist, nimmt; teil an dieser Bewegung vom Vater durch den Sohn und im Heiligen Geiste zurück zum Ursprung.
Das ist es, was der heilige Gregor von Nyssa ‹den Reigen der Heiligen Dreieinigkeit› nannte.
Tanzen, das ist Gottes Art zu beten.
Es ist ein einziges großes Fest des Zusammengehörens im Geben und Danken.
An diesem Fest können wir in unserem Herzen jederzeit teilhaben: durch Dankbarkeit.
Mit welchem anderen Namen könnten wir Leben in Fülle benennen?» (163)
3.4. Das Buch Musik der Stille (2023) 142f. entlässt uns am Schluss wieder in den Alltag:
«Wir haben nun alle mönchischen Tageszeiten durchlaufen, den Kreis geschlossen und sind im großen Schweigen angelangt, der Brücke der Stille zwischen Komplet und Vigil, die erneut den Kreislauf der Stunden eröffnet. …
Die Botschaft der Stunden lädt uns ein, täglich nach dem wirklichen Tagesrhythmus zu leben. Aufmerksam, bewusst und absichtsvoll zu leben, unser Leben von innen heraus zu lenken und uns nicht von den Forderungen der Uhr oder äußeren Terminen oder von bloßen Reaktionen auf irgendwelche Geschehnisse fortreißen zu lassen.
Wenn wir dem wirklichen Rhythmus zufolge leben, werden wir selbst wirklicher.
Wir lernen, auf die Musik dieses Augenblicks zu lauschen, lernen, ihr süßes Flehen und ihre nüchternen Anweisungen zu hören.
Wir lernen, im Herzen ein wenig zu tanzen, unsere inneren Pforten einen Spalt weiter zu öffnen und auf die Musik der Stille, den göttlichen Herzschlag des Universums, zu horchen.»
3.5. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten.
Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen.
Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet.
Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens.
Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz. (66)
Bruder David schließt mit den Worten: «Um Offenbarung zu verstehen, müssen wir in die Offenbarung eintreten; müssen dem Logos als Anführer des Reigens folgen; müssen uns in liebender Ergriffenheit durch das Wort in das Schweigen führen lassen und aus dem Schweigen heraus gehorsam werden. Unser Thema geht über bloß akademisches Bemühen weit hinaus. Um im Wort der Offenbarung Sinn zu finden, müssen wir etwas tun ‒ das Wichtigste und zugleich das Schwerste ‒: uns dem Wort des Lebens stellen und ‒ mittanzen.» (67)]
_________________________
[1] Orientierung finden (2021): «Vorbemerkungen», 8
[2] «Angesprochen auf das Ende aller Dinge, auch auf sein eigenes, benutzt Steindl-Rast gerne das bekannte Bild einer tickenden Uhr. Diese mache allerdings für ihn nicht Tick-Tack, sondern ‹Jetzt-Jetzt-Jetzt-Jetzt.›» [Der Zen-Christ: David Steindl-Rast im Portrait (2012)]
[3] Orientierung finden (2021): «Auf der Suche nach einem Gesamtbild», 12f.
[4] Orientierung finden (2021): Berufung ‒ Folge deinem Stern!, 99, 93, 100
[5] «At the still point oft he turning world. Neither flesh nor fleshless;
Neither from nor towards; at the still point, there the dance is,
But neither arrest nor movement. And do not call it fixity,
Where past and future are gathered. Neither movement from nor towards,
Neither ascent nor decline. Except for the point, the still point,
There would be no dance, and there is only the dance.»
T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, II, in: Stillehalten
[6] Orientierung finden (2021): «Auf der Suche nach einem Gesamtbild», 12-14
[7] LILA, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 147f.
[8] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): «Staunen und Dankbarkeit», 27f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 24f.]; siehe auch ST 112-114 unter dem Titel «Selbständigkeit»
[9] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen» (2019), 92
[10] «Wait without thought, for you are
not ready for thought:
So the darkness shall be the light, and the stillness the dancing.»
«Warte ohne zu denken, denn zum Denken bist du nicht reif,
Dann wird das Dunkel das Licht sein und die Stille der Tanz.»
T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, III, siehe auch: Stillehalten
[11] Audio-Vortrag Fülle und Nichts (1996):
(01:47) ‹Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt› (Rilke, Die vierte Elegie) – horchen, gehorchen, Gehorsam als Methode und Ziel)
[12] Rilke verwendet das Bild vom kosmischen Ballspiel im Gedicht «Solang du Selbstgeworfnes fängst» und der taoistische Philosoph Huang Tsu (369-286 v. Chr.) die Bilder vom heiligen Tanz und von guter Arbeit in seinem Gedicht «Einen Ochsen zerteilen» [Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 106-108, 109-112]
[13] «Wir Menschen können Gott ehren, aber nur Gott selbst kann Herrlichkeit wie wetterleuchten aufblitzen lassen.
Und das ereignet sich in Augenblicken dankbaren Gehorsams, wenn wir, attonitis auribus (RB Prol 9) – mit dem Donnerkrachen der Gottesstimme in unseren Ohren – auf diesen Ruf hören und darauf antworten.
Der Gehorsam und die Dankbarkeit öffnen unsere Augen für das lumen deificum (RB prol 9), jenes Taborlicht (Mt 17; Mk 9; Lk 9), das die ganze Schöpfung verklärt, indem es sie durchscheinend macht für Gottes Herrlichkeit.» [Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019)]
Tasten, berühren, behüten
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Zauberkraft begegnet uns auf Schritt und Tritt, daran zweifle ich keinen Augenblick. Wie oft habe ich sie doch erlebt. Zuerst mein ganz automatisches Dahintrotten auf dem heißen Gehsteig, dann ein kühler Zugwind aus einer Seitenpassage ‒ und plötzlich hat das Straßenbild Farben, Klänge, Bewegung.
Oder bei Tisch: Mein unaufmerksames Hinunterlöffeln wird durch das Klirren eines Wasserglases in wache Freude an der warmen Suppe verwandelt. Sogar ein untätiges Daliegen im Bett kann durch ich weiß nicht, was, auf einmal zum wohligen Wahrnehmen von Decke und Polster werden, zu einem letzten Aufleuchten aller Sinne vor dem Einschlafen.
Ich weiß wirklich nicht, was diese geheimnisvolle Kraft ist, die da so unvermittelt alles verzaubert ‒ ja, die eigentlich m i c h bezaubert, indem sie mich belebt.
Jedenfalls nehme ich sie dankbar an; sie muss ja von Dir kommen.
Und Dankbarkeit legt mir auch das Zauberwort in den Mund, das Zauberwort, das mich und die Welt belebt: ‹Danke!› ‒ Amen.»[1]
In der gütigen Hand, die ihnen übers Haar streicht, können Kinder die Berührung eines Engels spüren. Aug’ in Auge mit einem Tier können wir dem Blick eines Engels begegnen. Ja, manchmal springen Engel sogar aus dem Gebüsch hervor als Kinder, die uns lachend erschrecken wollen, und uns dann umso fester umarmen.
Ich habe herausgefunden, dass durch eine ganz leichte Berührung ein kraftvoller Impuls von Güte und Wohlwollen übermittelt werden kann.
Die Welt, in der wir leben, ist so entfremdend, dass wir buchstäblich nicht mehr in Berührung miteinander sind.
Es hilft schon, wenn wir jemanden konkret wissen lassen, dass er uns wirklich etwas bedeutet.
Das schafft ein Gefühl der Zugehörigkeit, ein Gefühl, dass wir Schwestern und Brüder sind in dieser Welt, in unserem gemeinsamen Zuhause.[2]
«Mein Fuß spricht mit den Steinen, die er betritt»,
sagt Rilkes Blinde,[3] und das sollten auch unsere Füße tun. Sobald wir die Gewöhnung abgelegt haben, mehr noch als die Schuhe, dann ist schon die Möglichkeit gegeben für diese Zwiesprache.
Rasen spricht anders mit unseren Füßen als sonnenwarme Felsplatten am Fluss; ein Holzboden wieder anders. Kork, Kiesel, Kokosläufer, feuchter Sand am Meer, oder das Herbstlaub, durch das wir als Kinder so gerne wirbelnd wateten; diese und so viele andere Sprachen sind unseren Fußsohlen bereits geläufig.
Leinen, Leder, Luffa, wie verschieden sie unsere Schultern berühren. Strohhut und Wollmütze, Tropenhelm und Schleier. Kühles, Bauschiges, das den Wind einfängt, oder enganliegendes Warmes und Weiches um Hüften und Beine.
Wie so verschiedentlich uns all das anspricht, wenn wir nur darauf achten. Wie unsere Haut an jeder Stelle des Körpers anders darauf antwortet. Welche Freude argloser Dankbarkeit man daran erleben kann.
Und dann erst die Hände. Für mich ist nicht nur das Streicheln der Katze («Gypsie» heißt sie, «Zigeunerin»), für mich ist auch das Abstauben der paar Möbel in der Einsiedelei ein liebkosendes Berühren; oder das Stutzen der Sträucher im Garten; oder das Aufkehren.
«So geht man nicht mit dem Staub um», erklärte Soen Nakagawa Roshi jungen Mönchen, die das Saubermachen praktisch, schnell und gründlich erledigt haben wollten. «S o geht das nicht. Wenn ihr den Besen in der Hand habt, soll die Hand zum Staub sagen: ‹Verzeih, aber du bist zur Zeit am falschen Platz. Erlaube, dass wir dir weiterhelfen, wo du hingehörst›»
Hände haben höfliche und unhöfliche Redeweisen. Sie lassen sich erziehen.
Hände reden, Sie können aber auch horchen.
Das hat mich Sen Soshitsu gelehrt, der Groß-Teemeister Japans, dessen Urahne Sen Rikyu, im 16. Jahrhundert der Teezeremonie ihre klassische Form gab.
In einer vornehmen Privatwohnung in New York wurde das Ehepaar Sen an jenem Abend mit einem Empfang geehrt. Man wollte den Gästen aus dem Osten das Beste westlicher Kultur darbieten. Ein berühmter Cembalist sollte auf einem Instrument spielen, das eigens für diese Gelegenheit ausgeliehen worden war.
Da stand es in seiner schlichten Schönheit, glänzend im Licht der vielen Kerzen, aber versperrt. Der Schlüssel zum Deckel der Tastatur war einfach unauffindbar.
Verwirrung, Geflüster, peinliche Stille.
Mit heiterer Gelassenheit geht Sen Soshitsu auf das Cembalo zu, lässt seine Hand bewundernd über das seidige Holz gleiten.
Völlig gesammelt scheint er dankbar zu sagen:
«Ist das nicht schon mehr als genug?»
Dann lächelt er, und alle atmen auf.
Alle nur mögliche Musik war aus dem Instrument durch seine horchende Hand in dieses Lächeln gestiegen und darin Wirklichkeit geworden.
Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden und so mit allen Sinnen. Aber niemand kann berühren, ohne berührt zu werden. Daher kommt die Ehrfurcht, die echter, wacher, dankbarer Berührung eignet.
Rilke sieht diese Ehrfurcht in der Art, wie die Figuren im Bildwerk griechischer Grabsäulen einander berühren:
«Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht
menschlicher Geste? War nicht Liebe und Abschied
so leicht auf die Schultern gelegt, als wär es aus anderm
Stoffe gemacht als bei uns? Gedenkt euch der Hände,
wie sie drucklos beruhen, obwohl in den Torsen die Kraft steht.
Diese Beherrschten wussten damit: so weit sind wirs,
d i e s e s ist unser, uns s o zu berühren; stärker
stemmen die Götter uns an. Doch dies ist Sache der Götter.»[4]
Wer ehrfürchtig an-greift, wird zugleich ergriffen vom göttlichen Gegenüber, mit jener bräutlichen Ergriffenheit, die weise macht.
Es ist unmöglich, Sinnliches und Übersinnliches
säuberlich auseinanderzuhalten.
Wir finden das eine im anderen.
Nur glühend dankbare Lebensfreude kann diese Verschmelzung zustande bringen.
Das ist eine tägliche Aufgabe, ein Training, welches uns von Augenblick zu Augenblick herausfordert:
Ich esse eine Mandarine, und schon beim Abschälen spricht der leichte Widerstand der Schale zu mir, wenn ich wach genug zum Horchen bin.
Ihre Beschaffenheit, für Duft, sprechen eine unübersetzbare Sprache, die ich erlernen muss.
Jenseits des Bewusstseins, dass jede kleine Spalte ihre eigene, besondere Süße hat (auf der Seite, die von der Sonne beschienen wurde, sind sie am süßesten), liegt das Bewusstsein, dass all dies reines Geschenk ist.
Oder könnte man eine solche Nahrung jemals verdienen?
Ich halte die Hand eines Freundes in der meinen, und diese Geste wird zu einem Wort, dessen Bedeutung weit über Worte hinausgeht.
Es stellt Ansprüche an mich. Es beinhaltet ein Versprechen. Es fordert Treue und Opferbereitschaft.
Vor allem aber ist diese bedeutungsvolle Gebärde Feier von Freundschaft, die keiner Rechtfertigung durch einen praktischen Zweck bedarf.
Sie ist so überflüssig wie ein Sonett oder ein Streichquartett, so überflüssig wie all die wirklich wichtigen Dinge im Leben.
Sie ist ein überfließendes Wort Gottes, von dem ich Leben trinke.[5]
Sakramentales Leben ist das Geheimnis, dass in unserem riesigen Erd-Haushalt alles mit allem in Verbindung steht, in Myriaden von verschiedenen Wegen, das Leben des heiligen Einen mitten in uns.
Es gibt nur eine Bedingung, um das Leben sakramental sehen zu können:
«Zieh’ deine Schuhe aus!»[6]
Erkenne, dass der Boden, auf dem wir stehen, heiliger Boden ist. Die Schuhe ausziehen ist eine Geste der Dankbarkeit und durch Dankbarkeit kommen wir in sakramentales Leben hinein.
Barfuß gehen hilft wirklich! Es gibt keinen direkteren Weg, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen als durch den direkten physischen Kontakt.
Zu fühlen wie verschieden es ist, ob man auf Sand geht oder auf Gras, auf glattem, von der Sonne erwärmten Granit, auf dem Waldboden; sich durch die Kieselsteine etwas wehtun lassen, Schlamm durch die Zehen quetschen.
Es gibt so viele Wege, durch die Erde Gottes heilende Kraft dankbar zu spüren.
Immer wenn wir die Abgestumpftheit des Gewöhntseins wegnehmen oder aufhören, Dinge als selbstverständlich zu nehmen, berührt uns das Leben mit seiner ganzen Frische und wir erkennen, dass alles Leben sakramental ist.
Wenn wir unsere Lebendigkeit messen könnten, so wäre der Maßstab sicher unser Berührtsein vom heiligen Einen, dem unerschöpflichen Feuer im Herzen aller Dinge.[7]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Zu den schönsten Morgenstunden meines Lebens
gehört das Barfußlaufen durch taufrisches Gras.
Zwar hab ich das gar nicht so oft erlebt,
in meiner Erinnerung aber steigt es immer wieder auf
und ich freue mich daran.
Könnte ich das eigentlich nicht täglich tun?
Du schenkst mir Fantasie genug, die Heilkraft zu fühlen,
die aus dem kühlen, feuchten Rasen aufsteigt;
jeder Grashalm weckt frische Lebendigkeit in meinen Fußsohlen.
Heute soll meine Fantasie mir dienlich sein:
Taufrisches Barfußlaufen (auf dem Bettvorleger)
soll mein freudiges Morgenlob werden. Amen»[8]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f., 5, 7f.]
[Ergänzend:
1. Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(27:56) Der Tastsinn spielt eine ganz wichtige Rolle auf den Höhepunkten, den Durchgangspunkten unseres Lebens: in der Geburt, in der Liebesbegegnung, beim alten Menschen, im Tod, beim Sterbenden. Die Zärtlichkeit der Berührung. Etwas ungeheuer Wichtiges. Wir haben oft so harte Griffe. Wir denken nur ans Angreifen und nicht ans berührt werden.
(31:32) Wir vergessen allzu leicht, dass die Berührung, der Tastsinn, der Sinn ist, der immer gegenseitig ist. Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden, wir können hören, ohne gehört zu werden usw., aber wir können nie etwas berühren, ohne selbst berührt zu werden.
Und uns so anrühren zu lassen von den Dingen, die wir berühren, das setzt voraus, dass wir es bewusst tun. Und wenn uns dann etwas berührt, dann wird es uns auch anrühren und wird uns auch zu Herzen gehen. Und darin liegt etwas zutiefst Dialogisches in diesem Sinn des Berührens und des berührt werdens. Wir erfassen etwas nur wirklich, wenn wir uns davon auch berühren lassen.
(34:54) Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.
Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(01:01:13) ‹Dass unsere Hände wären, wie unsere Augen sind› (Rilke, Schmargendorfer Tagebuch) – ‹Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht menschlicher Geste?› (Rilke, Die zweite Elegie) – Das empfängliche Tasten ist das Behüten ‒ letztlich, das Geheimnis hegen: ‹Meine Hand ist dir viel zu breit› (Rilke, Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I, 76f.) – ‹Ich habe dich bei deiner Hand gefasst und habe dich behütet.› (Jes 42,6)
Rilke in einem Brief: Arco, am 10. März 1899 (Schmargendorfer Tagebuch):
«… denn in unserem Schauen liegt unser wahrstes Erwerben. Wollte Gott, dass unsere Hände wären, wie unsere Augen sind: so bereit im Erfassen, so hell im Halten, so sorglos im Loslassen aller Dinge; dann könnten wir wahrhaft reich werden. Reich aber werden wir nicht dadurch, dass etwas in unseren Händen wohnt und welkt, sondern es soll alles durch ihren Griff hindurchströmen wie durch das festliche Tor des Einzugs und der Heimkehr. Nicht wie ein Sarg sollen uns die Hände sein: ein Bett nur, darin die Dinge dämmernden Schlafes pflegen und Träume tun, aus deren Dunkel heraus ihre liebsten Verborgenheiten reden. Jenseits der Hände aber sollen die Dinge weiterwandern, stämmig und stark, und wir sollen von ihnen nichts behalten als das mutige Morgenlied, das hinter ihren verhallenden Schritten schwebt und schimmert.»
Denn Besitz ist Armut und Angst, Besessenhaben allein ist unbesorgtes Besitzen.
2.2. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(26:54) Spüren, tasten ‒ Der brennende Dornbusch: ‹Zieh’ deine Schuhe aus› ‒
Deutung des Exils als ‹Gewöhnung›, ‹Abstumpfung›:
«‹Tritt nicht herzu!› Komm nicht näher. Eine rabbinische Auslegung sieht darin eine Zurückweisung unserer Neigung, Gott an diesen oder jenen Ort zu binden.
‹Der Ort, darauf du stehst, ist ein heilig Land.›
Wo immer es auch sei, du stehst auf geheiligtem Ort. Werde dir dessen bewusst!
‹Zieh’ deine Schuhe aus von deinen Füßen!›
Der Schuh aus toter Tierhaut bedeutet für diese Auslegung: Gewöhnung, Abstumpfung.
Nichts sonst kann uns von Gottes Gegenwart trennen. Im Exil sein, verbannt vom heiligen Land, heißt vergessen zu haben, dass wir auf heiligem Boden stehen.
Auch ‹an den Flüssen Babylons›, oder wo auch sonst, stehen wir auf heiligem Boden, solange uns nicht Abstumpfung davon trennt.
Der Name unseres Exils ist nicht Babylon oder Ägypten, sondern Gewöhnung.»[9]
2.3. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
Teil 2:
(13:06) Einander behandeln: Die Hand massieren, den Puls greifen
2.4. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Tasten, greifen, begreifen, Begriffe im Unterschied zu Ergriffenheit, Rührung ‒ gerührt sein, berühren ‒ berührt sein]
__________________
[1] Erwachende Worte (2023): ‹55 Zauberkraft›, 127
[2] Musik der Stille (2023), 8 und 61
[3] R. M. Rilke: ‹Die Blinde› (Das Buch der Bilder, 2. Buch, 2. Teil)
[4] R. M. Rilke, Duineser Elegien, Die Zweite Elegie
[5] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 71-73, 69, 16; siehe auch Horchen und Gehorchen
[6] Moses und der brennende Dornbusch in Exodus 3,1-6
[7] Sakramentales Leben ‒ «Zieh’ deine Schuhe aus!» (1979), aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Eve Landis; siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 8 ‹Auf heiligem Grund stehen›, 112-119
[8] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 71
[9] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne, 70f.
Teilhard de Chardin: ‹Das göttliche Milieu›
[Le milieu divin]: ein Entwurf des innern Lebens›[1]
«Wir müssen jedoch sehen ‒ die Dinge sehen, wie sie sind, wirklich und eindringlich. … Machen wir, es lohnt die Mühe, die heilsame Übung, die darin besteht, im Ausgang von den personalisiertesten Bereichen unseres Bewusstseins die Verlängerung unseres Seins durch die Welt hindurch zu verfolgen. Wir werden aufs höchste erstaunt sein, wenn wir die Ausdehnung und Innigkeit unserer Beziehungen zum Universum feststellen.
Die Wurzeln unseres Seins? Sie tauchen doch zunächst in die unauslotbarste Vergangenheit ein. Wie groß ist das Geheimnis der ersten Zellen, die der Hauch unserer Seele eines Tages überbeseelt hat! Welch unentzifferbare Synthese aufeinanderfolgender Einflüsse, in die wir für immer einverleibt sind! Durch die Materie findet in jedem von uns zu einem Teil die ganze Geschichte der Welt ihren Widerhall. So autonom auch unsere Seele sein mag, sie ist Erbin einer vor ihr durch die Gesamtheit aller irdischen Energien wunderbar ausgearbeiteten Existenz: sie begegnet und verbindet sich dem Leben auf einer bestimmten Stufe. ‒ Kaum aber ist sie an diesem besonderen Punkt in das Universum hineingenommen, fühlt sie sich ihrerseits von dem Strom der zu ordnenden und zu assimilierenden kosmischen Einflüssen belagert und durchdrungen. Blicken wir um uns: die Wellen kommen von überall her und aus der Tiefe des Horizonts. Durch alle Öffnungen überflutet uns das Sinnenhafte mit seinen Reichtümern: Speise für den Leib und Nahrung für die Augen, Harmonie der Töne und Fülle des Herzens, unbekannte Phänomene und neue Wahrheiten, all diese Schätze, alle diese Reize, all diese Anrufe durchdringen, von allen Himmelsrichtungen aufsteigend, in jedem Augenblick unser Bewusstsein. Was wirken sie in uns? Was werden sie dort tun, selbst wenn wir, schlechten Arbeitern gleich, sie passiv oder gleichgültig aufnehmen? Sie werden sich in das innigste Leben unserer Seele mischen, um sie zu entwickeln oder zu vergiften. Beobachten wir uns eine Minute lang, und wir werden davon bis zur Begeisterung oder bis zu Beklemmung überzeugt sein.» (40f.)
«Uns ist kaum bekannt, in welchem Maße oder in welcher Gestalt unsere natürlichen Fähigkeiten in den endgültigen Akt der Schau Gottes eingehen werden. Doch kann es kaum einen Zweifel darüber geben, dass wir uns hier unten mit der Hilfe Gottes die Augen und das Herz geben, aus denen eine letzte Transfiguration die Organe eines Anbetungsvermögens und einer Fähigkeit zur Seligkeit machen wird, die jedem von uns eigentümlich sind.» (42)
[1] Olten, Walter-Verlag 91982, 40f., 42:
Tod
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Wir wissen wenig über unsere letzten Augenblicke, wir wissen aber, worauf es jetzt ankommt. Ich würde also sagen: Stirb, solange du lebendig bist, weil du nicht weißt, wie gut du etwas tun kannst, das deine ganze Energie braucht, wenn du erst einmal senil, schwach oder sehr krank bist.
Hier ist wieder einer der Punkte, wo meines Erachtens Geburt und Tod einander sehr nahe kommen. Weder Geburt noch Tod können auf einen zeitlichen Augenblick festgelegt werden. Wir wissen nicht genau, wann eine Person geboren ist. Wir können auf den körperlichen Vorgang verweisen, in dem die Nabelschnur durchschnitten wird, doch manche Leute werden vielleicht erst nach 40 Jahren richtig lebendig oder noch später. Wann wird eine Person lebendig? Ich kann mir vorstellen, dass der eigentliche Augenblick, in dem Jemand zum Leben erwacht, genau derjenige ist, in dem er wirklich stirbt. Und alles was dahin führte, vielleicht 45 Jahre lang, ist Zeit, die zum Üben gebraucht wurde für diesen wichtigen Moment; und alles, was danach folgt, ist Zeit, die gebraucht wird, um der Natur ihren Lauf zu lassen. Im Leben mancher Leute geschieht das vielleicht ganz plötzlich, in einem einzigen Augenblick, während es bei anderen schrittweise geschieht, mühsam durch viele Stufen hindurch. [Sterben lernen (2005)]
Wenn man tot ist, dann ist man tot. Deine Zeit ist abgelaufen, daher gibt es nichts «nach» dem Tode. Von der Definition her ist Tod dasjenige, nach dem es nichts mehr gibt. Die Zeit ist vorbei; die Uhr ist abgelaufen. Die Zeit eines anderen mag weiterlaufen, deine eigene jedoch ist vorbei. Für dich gibt es kein «danach».
Und doch erleben wir selbst jetzt, vor dem Tode, wichtige Augenblicke, die nicht in der Zeit liegen. Sie sind, wie T. S. Eliot es formuliert, «innerhalb und außerhalb der Zeit». Wir erfahren hier und jetzt Wirklichkeiten, die jenseits der Zeit liegen. In solchen Augenblicken wird Zeit eine Begrenzung erfahren. Wenn meine Zeit jedoch abgelaufen ist, dann bleibt alles das bestehen, was jenseits der Zeit ist. Das ist keinem Wandel unterworfen. Es dauert. Wenn mein Leben schließlich vollendet ist, ist es so, als wenn eine Frucht vom Baum fällt. Ich fahre nicht fort, für alle Zeiten irgendetwas zu tun. So wie in den lebendigsten Augenblicken in diesem Leben, besitze ich mein gesamtes Leben auf einmal. Außerhalb der Zeit besitze ich mein Leben. Und da alles mit allem in diesem «Jetzt, das nicht vergeht» zusammenhängt, besitzen wir alles. Wenn Zeit uns nicht mehr trennt, besitzen wir alle diejenigen, die wir lieben, einschließlich aller Tiere und Pflanzen. [ST 133f., Quelle: WZ 1-3) 128]
Tod ‒ ‹memento mori›
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Mein Staunen kennt keine Grenzen: Der Krieg ist vorbei und ich bin am Leben! Nur langsam dämmert es mir auf, aber dann steht mir plötzlich klar vor Augen: Ein ganzes Leben liegt jetzt vor mir!
Beglückt und erschreckt zugleich bin ich von dieser Einsicht ‒ erschreckt, weil ich ahne, dass diese große Gabe mir eine ebenso große Aufgabe stellt. Was soll ich aus meinem Leben machen?
Wenn ich eine der unzähligen Möglichkeiten ergreife, so bedeutet das, dass ich alle anderen loslassen muss. Was ist mir also am wichtigsten?
Vorausblickend denke ich darüber nach und fühle, dass es mir weniger wichtig sein wird, was ich tue, als dass ich es mir Freude tue.
Auf die Kriegszeit zurückblickend sehe ich, dass mir gerade in den schwersten, unglücklichsten Zeiten jene innere Freude, um die es geht, Auftrieb gab, eine Freude, die von Glück oder Unglück gar nicht abhängt. Aber wovon hängt sie dann ab? Darüber grüble ich nach.
Da kommt mir plötzlich aus heiterem Himmel der Satz in den Sinn:
«Den Tod allzeit vor Augen halten.»
Ja, wirklich «aus heiterem Himmel» ‒ aus heiterstem!
Es ist ein strahlender August in Salzburg. Ich bin hierher eingeladen worden von Freunden, darunter ein entzückendes Mädchen, in das ich verliebt bin. Die Stadt ist voller Musik; überall flattern Klänge im Sommerwind auf Straßen und Plätzen, unter Arkaden und aus offenen Fenstern. Zum ersten Mal finden dieses Jahr die Salzburger Musikfestwochen wieder in einem freien Österreich statt. Für eine Packung amerikanischer Zigaretten findet ein Platzanweiser im Festspielhaus wie selbstverständlich zwei freie Parterresitze und wir können Mozarts «Don Giovanni» miterleben.
Don Giovannis Ende bringt es mir wieder in den Sinn:
«Den Tod allzeit vor Augen halten.»
Dieser Satz geht mir im Kopf herum. Er stammt aus der Regel des heiligen Benedikt, einem fast 1500 Jahre alten Büchlein, das ich als Student gelesen habe, weil wir aus Trotz alles lasen, was dem totalitären Regime gegen den Strich ging. Ausgerechnet diese wenigen Worte haben sich mir eingeprägt und jetzt dämmert mir auch, warum:
In all den vergangenen Jahren hatten wir junge Menschen den Tod zum Greifen nahe vor Augen. Es scheint mir jetzt, dass mehr meiner Freunde an den Fronten umgekommen sind, als übrig blieben. Und auch zu Hause hatten Bomben täglich Zerstörung und Tod gebracht. Ein einziges unvorsichtig geflüstertes Wort konnte die Todesstrafe nach sich ziehen; einer unserer Kapläne wurde verhaftet und hingerichtet.[1] Aber trotzdem muss ich jetzt sagen: Diese schrecklichen Kriegsjahre waren für mich und meine Freunde Jahre echter Freude, jener Freude, dich ich nie einbüßen möchte. Darum die Frage: Wovon hing denn noch bis vor Kurzem diese Freude ab?
Darauf steht nun plötzlich die überraschende Antwort vor mir: Wir haben so freudig gelebt, weil wir gar nicht anders konnten, als den Tod allzeit vor Augen zu haben. Das zwang uns, im Augenblick zu leben ‒ ganz im Jetzt ‒, und darin lag das Geheimnis unserer Lebensfreude.
Um diesen Zündfunken freudigen Lebendigseins nicht zu verlieren, müsste ich also auch in Zukunft
«den Tod allzeit vor Augen halten.»
Diesen Leitsatz hatte ich aber in der Benediktsregel gefunden. Sollte das also von mir verlangen, Benediktinermönch zu werden? Bei diesem Gedanken wird mir unbehaglich und so gehe ich lieber Polka tanzen; niemand tanzt die Krebspolka mit so viel Feier wie meine Elisabeth.
Johannes Kaup im Gespräch mit Bruder David:
«Die Kriegsjahre, in denen so viele Freunde und Kameraden an der Front oder durch Bombentreffer in Wien ihr Leben lassen mussten, haben Sie einmal in einem früheren Gespräch als ‹Jahre höchsten Lebendigseins› geschildert. Wie ist das zu verstehen, denn Sie hätten bei jedem Schicksalsschlag verzweifeln und resignieren können? Woher trotzdem Lebendigkeit und Lebensmut?»
Bruder David: «Ich glaube, viele Menschen erleben das auch heute noch, wenn sie in Lebensgefahr geraten, dass die Lebendigkeit umso mehr aufflammt. Der Grund scheint mir zu sein, dass man dann ganz in der Gegenwart leben muss. Der Grad unserer Lebendigkeit misst sich am Ausmaß, in dem wir nicht an der Vergangenheit hängen oder auf die Zukunft schauen, sondern wirklich im Jetzt sind. Dazu waren wir damals gezwungen, und darum waren wir so lebendig und freudig, trotz allem.»
Johannes Kaup: «Weil Sie den Tod vor Augen hatten?»
Bruder David: «Weil wir den Tod ständig vor Augen hatten, waren wir gezwungen, diesen möglicherweise letzten Augenblick des Lebens voll zu genießen.»
Johannes Kaup: «Also: Lebe deinen Tag so, als ob es dein letzter wäre.»
Bruder David: «Ganz in diesem Sinn.»
Johannes Kaup: «Du weißt nicht, ob du morgen noch aufwachst.»
Bruder David: «Wir mussten als Kinder in den Kriegsjahren praktisch jede Nacht in den Luftschutzkeller.»
Johannes Kaup: «Bei einem dieser Angriffe haben Sie es einmal nicht geschafft.»
Bruder David: «Das war in unserem Haus im Kaasgraben. Unser Hausherr hatte selbst einen Luftschutzkeller gebaut, weil er kleine Kinder hatte, und wir durften dann auch immer in diesen Keller flüchten. Einmal konnten wir diese schwere Tür nicht mehr zuziehen, weil der Luftdruck von den fallenden Bomben schon so stark war und sie immer wieder aufriss. Zu dieser Zeit haben wir unsere Kleidung abends immer genauso legen müssen, dass wir sie schnell finden und anziehen können, auch im Finsteren; viel Licht durfte man nicht machen. Es war Verdunkelung in Wien befohlen. Beim Fliegeralarm in der Nacht mussten wir also im Dunkeln alles schnell finden und anziehen und dann in den Luftschutzkeller. Heute noch lege ich beim Ausziehen alles so hin, dass ich es auch im Finstern finden könnte. Das ist mir zur Gewohnheit geworden.»
Johannes Kaup: «Das war schon eine unglaublich aufregende Zeit, zwischen Leben und Tod hin und her zu pendeln und alle Emotionen zu erleben.»
Bruder David: «Es war sicher prägend, aber wir haben es nicht anders erlebt als: Jetzt muss das getan werden. Augenblick für Augenblick. Man hatte gar keine Zeit, um darüber nachzudenken. Das muss jetzt erledigt werden; so muss jetzt geholfen werden, mehr dachten wir nicht. Sich darüber Gedanken zu machen, wie schrecklich alles ist, wäre uns gar nicht in den Sinn gekommen.»
[Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹3 Entscheidung, 1946-1956›, 50f. und ‹2 Christ werden: Meine frühe Jugend zwischen Menschenwürde und Verdemütigung, 1936 und 1946› ‒ 2. Dialog›, 44f. und 47]
[Ergänzend:
‹Den Tod allezeit vor Augen› (Regula Benedicti RB 4,47):
1. Videointerview Was am Ende wirklich zählt (2022); siehe auch Transkription, 13f.:
Isha Johanna Schury: «Ich hätte Dich jetzt gefragt, ob sich aus Dir noch etwas mitteilen möchte, abschließend für unser Gespräch, wo Du das Gefühl hast, das möchte noch hinaus?»
David Steindl-Rast: «Vielleicht den Gedanken, den Tod allzeit vor Augen zu haben.
Das ist ein Satz aus der Regel des hl. Benedikt, der mich schon bevor ich Benediktiner geworden bin, sehr berührt hat, und ich habe erkannt ‒ damals war ich so ungefähr 19 oder 20 Jahre, höchstens ‒, dann habe ich erkannt, dass unser ganzes Leben bis dahin dadurch geprägt war, dass wir den Tod allezeit vor Augen hatten. Das war ja mitten im Krieg und unsere Freunde sind immer wieder gefallen an der Front, die Bomben sind gefallen links und rechts, also, wir hatten den Tod allezeit vor Augen.
Und rückblickend, damals habe ich gesehen: ‹Ah, darum waren wir so glücklich!
Darum waren wir so freudig! Weil wir ‒ damals hätte ich das nie so ausdrücken können ‒, weil wir im Jetzt leben mussten.
Wenn man den Tod vor Augen hat, muss man im Jetzt leben.
Warum ich dann Mönch geworden bin und Benediktiner, hat viel damit zu tun, dass ich wirklich den Tod täglich vor Augen halten wollte. Und ich muss sagen, wenn ich auch sonst Vieles besser machen hätte können. Aber das ist mir jedenfalls gelungen. Ich bin vollkommen überzeugt, dass es keinen Tag in meinem Leben gegeben hat, an dem ich nicht viele Male den Tod vor Augen hatte.
Und darum muss ich sagen, ich hatte wirklich ein sehr freudiges Leben. Dafür bin ich auch sehr dankbar.»
2. Video Dem Geheimnis auf der Spur (2016):
(01:22) «Was ist das Kostbarste, das man sich vorstellen kann? Der nächste Augenblick. Wenn du den nicht bekommst, ist alles andere, was du dir wünschst, nicht da. Der geschenkte Augenblick. Dieser wird dir einfach gegeben. Du kannst nichts machen, nicht einmal, wenn du dir einen weiteren kaufen willst. Ein reines Geschenk! Das größte Geschenk ist jeder Augenblick, der dir gegeben wird ‒ jetzt und jetzt und jetzt. Und sich dieses Geschenkes bewusst zu werden, das ist ‹dankbar leben›
Und dieser Viktor Springer:[2] Ich bete für ihn und bin dankbar: mein ganzes Leben, das hat er mir geschenkt sozusagen, und darum auch diese ganze Idee von Dankbarkeit: Werde dir bewusst, dass du jetzt einen einzigartigen Augenblick vor dir hast!
Das Mönch werden war eigentlich, weil ich die Idee von ‹den Tod allezeit vor Augen haben› damit verbunden habe, Benediktiner zu werden, weil dieser Satz in der Benediktiner Regel steht: ‹den Tod allezeit vor Augen haben›, und mir bewusst geworden ist, ‒ nach dem Krieg ‒, dass wir das eigentlich verwirklicht haben und darum so glücklich waren. Wir waren darum so glücklich, denn das heißt ja: im Augenblick leben.»
3. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 4 ‒ Nachmittag: ‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
(49:25) Leiden als Hebel zur Praxis: ‹den Tod allezeit vor Augen haben›
4. Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 92:
«Wo wir es mit Lebendigem zu tun haben, ist nichts automatisch. Im Leben ist Wachstum organisch mit Sterben verbunden. Leben heißt, mit jedem Wimpernschlag für Altes sterben und für Neues geboren werden. Jeder Fortschritt im Leben ist ein Sterben in größere Lebendigkeit hinein. Wer dazu den Mut nicht hat, kann weder leben noch sterben. Lebensmut ist die Tapferkeit, die wir für jenes Immer-wieder-Sterben brauchen, das zum wachen Lebendigsein untrennbar dazugehört. Auch im Bereich der Sinnlichkeit müssen wir immer wieder sterben, um so Sinn zu finden.
Das ist ja die Bedeutung des ‹memento mori›, das wir als Mahnwort etwa an Sonnenuhren alter Köster lesen. Wenn es uns auch dem Wortlaut nach auffordert, daran zu denken, dass wir sterben müssen ‒ und nicht später irgendwann, sondern hier und jetzt ‒, so ist diese Mahnung gerade deshalb Aufruf, bewusster zu leben. Darum lautet die Aufschrift auch manchmal ‹memento vivere›, ohne dass die Bedeutung sich ändert.»
5. Die christlich-buddhistische Begegnung, 1-3: Transkription der DVD: ‹Der Atem der Stille: Mystik heute›, Benediktushof Edition (2006):
«Und da ist mir plötzlich klar geworden in dieser herrlichsten Zeit meiner Jugend, dass wir deshalb so glücklich waren. ‒ Wir waren ungeheuer glücklich: Die ganze Verwüstung geschehen, aber inmitten von dem allem, und besonders in den vorhergehenden Jahren, waren wir die glücklichsten jungen Leute, die ich mir vorstellen kann. Es war wunderbar trotz all dem. ‒ Und jetzt hab ich dann plötzlich gesehen, das war deshalb so, weil wir den Tod allezeit vor Augen hatten. Dadurch sind wir so lebendig geworden.»]
______________
[1] P. Heinrich Maier (1908-1945) war ein österreichischer römisch-katholischer Priester, Pädagoge, Philosoph sowie Widerstandskämpfer gegen Hitler.
[2] (00:45) «Da oben ‒ hinter diesem Fenster oben, war die Geschichte, wo die Russen uns gedroht haben, uns zu erschießen, wenn wir diese Nadja nicht herausgeben. Und wir haben natürlich keine Ahnung gehabt, wo diese Nadja ist, und dann haben sie so in die Luft geschossen und da ist der Viktor Springer, der unten in der nächsten Villa wohnt, gekommen und hat uns retten wollen und hat an der Gartentüre gerüttelt und da haben sie dann ihn erschossen. Der hat mein Leben gerettet.»
Tod und Auferstehung
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Rilke sagt in dichterischer Sprache etwas aus, dessen wir uns alle irgendwie bewusst sind, wenn er zu Gott spricht:
«Du sagtest l e b e n laut und s t e r b e n leise
und wiederholtest immer wieder: S e i n!»[1]
In Augenblicken glühendster Lebendigkeit wird uns bewusst, dass wir inmitten allen Wandels etwas in uns kennen, das Bestand hat: Wir haben Anteil am Sein. In solchen Augenblicken wird uns klar, dass unser eigenes Sein am Einen Schönen, Guten und Wahren Anteil hat und daher unzerstörbar ist, so wie diese höchsten Werte es sind.
Wir wissen darum auch, dass dieses Heilsein unser ganzes Wesen umfasst, nicht nur unseren Geist, sondern auch unsere ganze leibliche Wirklichkeit, trotz ihrer Vergänglichkeit.
Aus dieser Perspektive können wir also doch etwas über «Auferstehung der Toten» wissen, obwohl der Inhalt dieses Glaubenssatzes auf den ersten Blick entschieden jenseits des Horizontes unserer jetzigen Erfahrung zu liegen scheint.[2]
Die innere Erfahrung unzerstörbaren Seins ist grundsätzlich jedem Menschen zugänglich. Wie aber könnten wir daran Anteil haben, ohne selbst unzerstörbar zu sein?
Unser innerstes Sein ist unverwelklich, obzwar wir uns nicht vorstellen können, was das für uns bedeuten wird, wenn unsere zeitgebundene Form sich auflöst. Das Bild vom Aufstehen (wie vom Schlaf) das hinter «Auferstehung der Toten» steht, soll uns nicht irreführen; es gehört der Zeit an. Wenn es um überzeitliche Aussagen geht, dann lässt uns unsere Vorstellungskraft im Stich. Aber unsere Zugehörigkeit zum unvernichtbaren Sein wiegt schwer, auch wenn wir uns nicht vorstellen können, wie sie sich am Ende auswirken wird.[3]
Das Credo verpflichtet uns zu keiner bestimmten Vorstellung vom Leben nach dem Tode. Wenn ich sterben muss, weil für mich die Zeit um ist ‒ wie die Weisheit der Sprache es so treffend ausdrückt ‒, was soll dann «n a c h dem Tod» überhaupt bedeuten?
Das «Ewige Leben» kommt nicht nach dem Tod, sondern ist ein Leben, dem der Tod nichts anhaben kann.
Diese Sicht leugnet natürlich nicht, was im landläufigen Sinn mit «Leben nach dem Tod» gemeint ist, berichtigt es aber am entscheidenden Punkt und darf es umso nachdrücklicher behaupten, weil es das «nach» leugnet.
Selbst wenn wir uns das noch nicht voll bewusst gemacht haben, so sehnen wir uns ja vor allem nach einem Leben, das über den Tod hinausgeht ‒ nicht der Zeit nach, sondern essentiell, seinem Wesen nach.
Auf dieses Leben brauchen wir nicht bis zu unserer Todesstunde zu warten. Heute schon können wir über die Zeit ‒ und so über den Tod ‒ hinausgehen, in dem Ausmaß, in dem wir im Jetzt leben.[4]
Unsere Sterblichkeit widerspricht dem nicht. Sie zeigt nur an, dass Sterben zum Leben dazugehört. Wir wissen ja aus Erfahrung, dass wir nur dann wirklich leben, wenn wir jeden Augenblick sterben.
«Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und Werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.»[5]
Goethe wusste: Wir müssen den jetzigen Augenblick loslassen und so für das Alte sterben, um für das Neue, das uns entgegenkommt, empfänglich zu sein. Unsere vielen kleinen Tode bereiten uns für den letzten, großen vor.
In gläubigem Vertrauen auf die innerste Dynamik der Lebendigkeit ‒ im Glauben an den Heiligen Geist also ‒ dürfen wir sicher sein, dass auch im letzten Augenblick unseres Lebens, so wie in jedem vorhergehenden, das Loslassen des Alten Voraussetzung sein wird für den Empfang des Neuen ‒ dann des unvorstellbar Neuen.[6]
Verlangt das nicht Mut von uns? Großen Mut? Sollten wir nicht erwarten, dass «Ewiges Leben» höchsten Lebensmut von uns verlangt? Und nicht später einmal, sondern jetzt.
Wie anders sieht das doch aus, als die landläufige Vorstellung vom «Ewigen Leben» als Fortleben nach dem Tod.
Der indische Mystiker Kabir (1440-1518) sagt dazu:[7]
«Wenn du deine Fesseln nicht als Lebender sprengst,
meinst du,
Geister werden es später tun?
Seliges Entzücken der Seele,
nur weil der Leib verwest,
ist reine Phantasterei.
Was du jetzt findest, wirst du dann finden.
Wenn du jetzt nichts findest,
wirst du eben eine Wohnung
in der Stadt der Toten erben.
Wenn du dich jetzt auf göttliches Liebesspiel einlässt,
werden dann deine Züge befriedigte Lust spiegeln.»
Im Jetzt leben bedeutet nicht weniger, als sich auf ein Liebesspiel einzulassen mit der göttlichen Wirklichkeit, die uns mit jedem Atemzug neu begegnet.
Scheint es nicht so, als ob dieses letzte Wort im Credo uns «Das Ewige Leben» als größtes Versprechen vor Augen halte und zugleich als höchste Herausforderung für unser Leben hier und jetzt?[8]
[Audio Teil 4 (03:05-06:16)] Bruder David im Gespräch mit Pater Anselm Grün: «Unser Selbst ist nicht in Raum und Zeit, wir erleben es im Jetzt, das über Raum und Zeit erhaben ist. Unser Ich dagegen ist in Raum und Zeit. Und wir leben in diesem Doppelbereich. Das ist die Ehre und zugleich die Schwierigkeit ‒ die Aufgabe unseres Lebens in diesem Doppelbereich zu leben.
Ich und Selbst durchlaufen dabei, obwohl vereint, zwei unterschiedliche Prozesse:
Meine Lebensspanne von meiner Empfängnis bis zu meinem Tod gehört einem großen zyklischen Ereignis an, in dem Leben und Sterben ‒ ich unterscheide Tod und Sterben ‒ zusammengehören in unserer Lebendigkeit: Wir müssen viele Male sterben in dem vollen Sinne: loslassen und ganz was Neues kommt ‒ das gehört zum Leben dazu, das ist so eine Wellenbewegung oder eine Kreisbewegung, wie wir das ausdrücken wollen.
Zum Selbst gehört das Ausreifen. Also Ich-Selbst, dieser eine Ausdruck des Selbst, der ich bin, der gehört einerseits diesem Leben und Sterben an, das ist der Anteil in Raum und Zeit, aber in dem überzeitlichen Anteil geht es um Ausreifen.
Unter diesem Begriff verstehe ich, was der Dichter Rilke sagt:
‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren und unablässig ‒ éperdument ‒heimsen wir den Nektar des Sichtbaren in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren ein.›
Das Selbst wird durch alles, was wir an Freude und Leid erleben, irgendwie bereichert. Und in diesem Doppelbereich stehen wir auf den beiden Beinen einerseits in Zeit und Raum und anderseits im Jetzt ‒ über die Zeit erhaben im Selbst ‒, und ich sehe auch meine Aufgabe gerade jetzt in meinem hohen Alter darin, mehr und mehr das Selbst zu meinem Standbein zu machen, damit das Ich mehr das Spielbein wird. Und wenn dann das Ich stirbt, also nicht mehr da ist ‒ genau so wenig, wie es vorher da war, bevor ich da war und mich niemand vermisst hat ‒, dann bleibt noch das Selbst. Ich kann mir das freilich nicht bildlich vorstellen. Auch ein Embryo kann sich ja nicht vorstellen, wie man außerhalb des Mutterschoßes leben könnte. Ebenso kann sich eine Raupe nicht vorstellen, wie es sein könnte, als Schmetterling zu fliegen.
(06:34) «… Ich glaube als Christ an die Auferstehung des Fleisches. Darum bemühe ich mich zu verstehen, was das heißen kann, dieses Anreichern und ‹Einheimsen in die große goldene Honigwabe›. Ich kenne viele Menschen, die sagen: Ich lebe ein volles Leben und wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Die leben auch nicht schlecht …»
(08:38) Weil wir eben in unserem ganzen Wesen auf ein Du bezogen sind, das über Zeit und Raum erhaben ist, kann sich das nicht ändern, wenn unsere Zeit zu Ende ist. Diese Beziehung bleibt. Sie hat ewigen Bestand. Beweisen lässt es sich wohl kaum, dass uns das physisch Erlebte auch über den Tod hinaus bewusst bleibt. Aber ich habe ein Argument dafür: Nachdem das unvergängliche Göttliche jetzt schon in unserem Erleben jeder Kastanienblüte, jeder-Wimper eines geliebten Menschen, jedes leisesten Seufzers gegenwärtig ist, wie sollte das Erlebte durch den Tod plötzlich verschwinden?
Ich freue mich also auf die Wiederbegegnung mit meiner Mutter, meiner Großmutter und mit Freunden, die schon gestorben sind. Aber ich möchte auch Menschen sehen, die ich nie persönlich kennenlernen konnte. Joseph von Eichendorff zum Beispiel möchte ich sehr gerne kennenlernen. Skifahren möchte ich mit Eichendorff, denn der ist in seinem Leben nie Ski gefahren. Ihm würde das sicher sehr gefallen. Ich kann mir das gut ausmalen ‒ und habe ich nicht ein Recht, mir das auszumalen?
‹Das, was war›, sagt T. S. Eliot, ‹und das, was hätte sein können, weisen auf das gleiche Ziel, und das ist immer jetzt.›»[9]
[Audio Tag 4 ‒ Nachmittag (30:49)] «‹Alles ist immer jetzt› (T. S. Eliot).[10]
Und wenn wir im Jetzt leben, ist es und ist und ist: Es hat Anteil an der Zeit ‒ wir erleben es in der Zeit ‒, aber alles, was ist, ist zugleich in diesem Doppelbereich, zugleich in der Zeit und über die Zeit hinaus, weil ‹Alles ist immer j e t z t›, alles! Und das ist nicht nur der Mensch, der immer ist.»
Also ‹im Ewigen› ist zugleich in Zeit und Ewigkeit. Es ist die menschliche Einsicht oder Erfahrung, die hinter der christlichen Formulierung von der ‹Auferstehung des Fleisches› steht.
Das ist ja ein ganz früher Glaubenssatz im Credo, im apostolischen Glaubensbekenntnis:
‹Ich glaube an den Heiligen Geist,
die heilige Katholische Kirche,
Gemeinschaft der Heiligen,
Vergebung der Sünden,
Auferstehung der Toten (im Urtext: ‹Auferstehung des Fleisches›)
und das ewige Leben.
Amen.›
‹Ich glaube an den Hl. Geist› ‒ ‹Geist› ist ‹Leben›:
‹Ich glaube an den Hl. Geist› heißt ‹Ich glaube, dass das Leben göttlich ist›, ich glaube, dass das Wesen des Lebens diesem großen Geheimnis angehört. Das ist sehr christlich ausgedrückt, das muss ja jeder Mensch sagen können: Das Leben ist göttlich, ist total geheimnisvoll. Und wir leben es ja, sind drin:
‹In ihm leben wir, weben wir und sind› (Apg 17,28).
Und dann folgt im Credo die Kirche, die Gemeinschaft, denn der Geist drückt sich ja in Beziehung aus, ‹Vergebung der Sünden›: keine Trennung mehr ‒ Sünde ist Absonderung ‒, alles vereint, und ‹Auferstehung des Fleisches› und ‹das ewige Leben›.
Und ‹Fleisch› ist alles, was vergänglich ist.
Und Auferstehung heißt ja nicht ‹zurück-kommen›, das ist so ein populäres Missverständnis: Jesus ist gestorben und dann ist er wieder auferstanden, wieder zurückgekommen. Nein, die Auferstehung geht in einer Richtung weiter.
Die älteste und beste Fassung von Auferstehung ist: ‹Sein Leben ist verborgen in Gott› (Kol 3,3), in dem großen Geheimnis. Aber es ist sein Leben.
Das ist ganz etwas anderes wie: er ist gestorben und damit ist es aus.
Nein, er ist gestorben und auferstanden in dem Sinn, dass sein Leben jetzt verborgen ist ‒ das große Geheimnis ist uns ja verborgen ‒ in Gott.
Und so ist auch die ‹Auferstehung des Fleisches› die Auferstehung von allem, was vergänglich ist: der Mandi und der Anton oder alle unsere Schweine ‒ die gehören ja dazu, die sind ja auch sterblich ‒, alles, was vergänglich ist: unsere Katzen, unsere Hunde, darum sagen die Kinder: ‹Ich möchte gar nicht in den Himmel, wenn mein Kanarienvogel nicht dort ist›. Selbstverständlich! Er muss ja dort sein. Das ist alles vergänglich, aber es lebt alles im Jetzt. Und das heißt: Es lebt zugleich in der Ewigkeit.
Ein wunderschönes Gedicht von Johann Gottfried Herder:[11]
‹Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
Auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wogen schweben
Und schwinden wir
Und messen unsre trägen Tritte
Nach Raum und Zeit;
Und sind (und wissen’s nicht) in Mitte
Der Ewigkeit.›
Das Jetzt, dieser Augenblick ist unvergänglich, ist ja ewig.
Und da braucht nichts wiederholt zu werden, zurückkommen: Es ist einfach.
Und irgendwie scheint es, hofft man und glaubt man, dass dann im Tod, im Sterben, wenn die Zeit um ist, diese große goldene Honigwabe uns zugänglich wird, wo alles drin ist.»[12]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-4, 6, 8f., 12
[Ergänzend:
1.1. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 3:
(31:33) Tod und Jenseits: die traditionelle Lehre und die Sprache von Bruder David / (35:33) Das Jenseits beginnt hier ‒ Ein Wort von Kabir / (38:06) Gegenwart Gottes im Herzen, das ‹Jetzt, das nicht vergeht› (‹Nunc stans›)[13] und die Schau Gottes / (40:25) Der Schmerz, wenn wir mit Geisteskranken an Grenzen stoßen / (42:47) Das beherzte Schlusswort einer Teilnehmerin
1.2. Jetzt im Doppelbereich:
Johannes Kaup: «Vom Leiden hoffen wir, dass es ebenfalls verwandelt wird. Deswegen frage ich noch einmal anders: Wird auch die Vergänglichkeit verwandelt?»
Bruder David: «Sie wird schon jetzt verwandelt. Jetzt oder nie.
Der mystische Dichter Kabir fragt: ‹Wenn du als Lebender nicht deine Ketten sprengst, sollen Geister es tun, wenn du tot bist?›
Er meint, ewige Seligkeit, nur weil die Würmer dich fressen, sei ein Wunschtraum. Was du jetzt findest, wirst du dann gefunden haben, was du jetzt versäumst, wirst du dann versäumt haben. Schon jetzt musst du den großen Gast empfangen und umarmen.»
2. Auferstehung des Fleisches:
2.1. Audio Credo (2023): Teil 2: Urkraft Hl Geist:
(15:05) ‹Die Auferstehung der Toten›, im Urtext heißt es ‹die Auferstehung des Fleisches›
2.2. Vertrauen in das Leben (2014); siehe auch Kreuz und Auferstehung: Ergänzend: 2.2.
Vortrag:
(38:21) ‹Stirb und Werde›: Auferstehung meint etwas anderes – ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke) – ‹Euer Leben ist verborgen in Gott› (Kol 3,3)
2.3. Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 217f. und 210:
«Wenn ich an persönliche Erlebnisse zurückdenke, bei denen mir die Wirklichkeit bewusst wurde, die im Credo ‹Auferstehung des Fleisches› heißt, dann spüre ich, wie schade es ist, dass diese wörtliche Übersetzung in ‹Auferstehung der Toten› umgewandelt wurde.
‹Fleisch› ist a l l e s Vergängliche, und wir dürfen gläubig vertrauen, dass es im Unvergänglichen liebend aufgehoben ist.
Die Einengung auf die Toten ist zugleich Verlust und Verzerrung. Verlust, weil so vieles ausgeblendet wird; Verzerrung, weil der Blick vom ganzen vergänglichen Kosmos abgelenkt, sich auf das menschliche Privatinteresse am Los der Toten beschränkt. Es geht hier um weit mehr. Ja, es geht gar nicht um Tod, sondern um Leben ‒ ewiges Leben. Es geht hier nicht um ein Ereignis ‹nach dem Tod›, sondern um etwas, das hier und jetzt stattfinden kann und soll.
Die ‹Auferstehung des Fleisches› ist nicht Umkehrung des Totseins, sondern Überhöhung des Lebendigseins.
So ruft auch in meiner Erinnerung ‹Auferstehung des Fleisches› Augenblicke wach, in denen meine Lebendigkeit so intensiv wurde, dass sie plötzlich Zeit und Vergänglichkeit überragte und im ewigen Jetzt ‒ wenn auch nur flüchtig ‒ an Unvergänglichkeit streifte.»
«Durch unseren Körper sind wir ja untrennbar mit allen anderen Lebewesen und darüber hinaus mit dem ganzen Universum verwoben. Jedes Atom in uns war einmal in einer Super-Nova.
Die Übersetzung ‹Auferstehung der Toten› engt die Aussage dieses Glaubenssatzes zu sehr ein. In meiner Jugend hieß es noch ‹Auferstehung des Fleisches›, und das trifft das lateinische ‹resurrectionem carnis› genauer.
Das Credo spricht hier nicht nur von Menschen, sondern von a l l e m Vergänglichen. Alle Formen, die in der Zeit erscheinen und vergehen, sind hier im Glauben an Auferstehung mit eingeschlossen ‒ das ganze Universum.»
2.4. Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich ‒ 9. Dialog›, 189f.:
«Bevor wir darüber sprechen, ist es wichtig zu wissen, was wir mit Auferstehung überhaupt meinen. Die meisten Leute denken dabei an ein wieder Auferstehen, also ein Wiederkommen von etwas, das gestorben und zerfallen ist. Aber im richtigen Verständnis von Auferstehung gibt es kein ‹wieder›. Auferstehung geht nicht wieder zurück in Raum und Zeit, sondern vorwärts in das große Geheimnis hinein. In einem Roman von C. S. Lewis[14], ‹Die große Scheidung oder Zwischen Himmel und Hölle›, ist dieses ‹Vorwärts› schön beschrieben. Die Seligen im Himmel reiten dem ewigen Sonnenaufgang entgegen und rufen einander zu: ‹Höher hinauf und tiefer hinein!› Diese Vorstellung ist in der christlichen Tradition fest verankert. Sie geht ‒ vielleicht sogar im Bewusstsein von C. S. Lewis ‒ zurück auf die kappadokischen Kirchenväter[15], die das Auferstehungsleben als eine dynamische Entdeckungsfahrt in das Geheimnis Gottes hinein gedacht haben. Auferstehung heißt, in das Geheimnis hineingenommen zu werden. In diesem Zusammenhang müssen wir die Auferstehung des Fleisches sehen. Sie ist eine Wirklichkeit, mit der wir jetzt schon in Berührung sind. Unser ganzes Leben ist eine Auseinandersetzung in Raum und Zeit dem Großen Geheimnis, das über Raum und Zeit hinausgeht. Schon jetzt nimmt jedes Erlebnis im Doppelbereich an diesen beiden Aspekten teil. Wenn also Raum und Zeit wegfallen, ist das, was ich erlebt habe, damit nicht ausgelöscht. Das zeigt uns schon jetzt unsere Erinnerung, die Tatsache, dass wir uns überhaupt an etwas erinnern können.»
3. Entwicklung als zyklischer Entfaltungsprozess im Unterschied zu Entwicklung als allmähliche Anreicherung, Bereicherung, Ausreifen[16]:
3.1. Video Heilsame Spiritualität (12. April 2013): Teil 1 «Lebenslanges Lernen»:
(16:05-27:12) Entwicklung auf der natürlichen Ebene: Same ‒ Keim ‒ Blüte ‒ Frucht ‒ Same und Entwicklung im Sinn von Erfahrungen sammeln, zielgerichtet nicht vorauszusehen, indem wir im Jetzt sind / (22:38) im Jetzt ist der Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit, ‹der Augenblick innerhalb und außerhalb der Zeit› (T. S. Eliot) / (23:35) ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke) ‒ den Nektar ‹einheimsen› und Wort des Kirchenvaters Ignatius von Antiochien: ‹In meinem Herzen fließt eine Quelle und ich höre das Wasser sagen: Heim zum Vater›[17]
3.2. Lebensorientierung (2015)
Tag 4, 13. Februar, Freitagvormittag mit 7. Impulsvortrag (Bruder David), siehe Nachschrift Tag 4: Entwicklung auf zwei Ebenen ‒ Sterben und Tod
(27:11) Der Schlüsselbegriff ‹Entwicklung› weist in seiner Doppelbedeutung hin auf unsere Lebensaufgabe, unsern einzigartigen Beitrag im Großen und Ganzen des Selbst: ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke) / (31:58) Mit dem Schlüsselbergriff ‹aufheben› (G. W. F. Hegel) Sterben ‒ Tod ‒ Unsterblichkeit der Seele deuten / (34:37) Seele: unsere Identität über die Zeit hinaus ‒ Reinkarnation und Fegefeuer: ‹Dichtung sagt mehr Wahrheit aus als Prosa, aber wörtlich darf man sie nicht nehmen.›
3.3. Audio Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Mitschrift, 7-9, und Sterben:
(33:58) «Im Bereich des Geistes geht es um etwas ganz anderes. Da geht es nicht um Entwicklung, sondern um etwas, was man Anreicherung nennen könnte.»
3.4. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105-107:
«Und das ist unsere Lebensgeschichte als Selbst: Bereicherung, ganz was anderes wie Entwicklung. Bereicherung geht in einer Linie, Entwicklung ist kreisförmig.»[18]]
_______________
[1] Bruder David spricht das Gedicht von Rilke aus dem Stundenbuch ‹Ich lese es heraus aus deinem Wort› im Audio
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 4 ‒ Nachmittag: ‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
(04:33) ‹Der Tod ist groß›: Sterben in jedem Augenblick ‒ der Tod, die Frucht des Lebens ‒ den eigenen Tod sterben: Bruder David liest Gedichte und Verse aus dem Stundenbuch von R. M. Rilke
[2] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 213f.
[3] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 214
[4] Credo (2015): Ewiges Leben›, 222
[5] J. W. Goethe: ‹Selige Sehnsucht›
[6] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 215
[7] Robert Bly (Hrsg.): Kabir: Ecstatic Poems, 2004
[8] Credo (2015): Ewiges Leben›, 228
[9] Gespräch von Bruder David mit P. Anselm Grün im Audio
Christliche Spiritualität für die Gegenwart (2023): Teil 4:
‹Dankbar leben – oder: Wenn jeder Augenblick zum Geschenk wird›; abgedruckt im Buch Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015), 91-97 und 105f. (leicht überarbeitet):
(03:05) Ich-Selbst in zwei sich unterscheidenden Aspekten von Entwicklung: einerseits als zyklischer Entfaltungsprozess und anderseits als allmähliche Bereicherung
(06:18) Ich glaube an die Auferstehung des Fleisches, die unsere Einzigartigkeit einschließt
T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten (Anm. 6)
[10] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten
[11] Siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 91
[12] Sinngemäße Wiedergabe des Vortrags von Bruder David im Audio
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 4 ‒ Nachmittag: ‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
(31:31-35:27); zugleich die Fortsetzung dieses Vortrags (21:24-30:49) in Doppelbereich Ich-Selbst
[13] Der Ausdruck ‹nunc stans› findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›; siehe auch Jetzt und ewiges Leben, Anm. 8.
[14] Clive Staples Lewis (1898-1963): irischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, verfasste neben Werken der Literaturkritik auch bekannte christliche apologetische Schriften wie ‹Mere Christianity›, ‹The Abolition of Man› und Romane wie ‹The Great Divorce› und ‹The Chronicles of Narnia›.
[15] Kappadokien ist ein großes Gebiet in Kleinasien. Im 4. Jahrhundert n. Chr. prägten die kappadokischen Kirchenväter Basilius der Große, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz die Geschichte der künftigen christlichen Kirche. Sie bildeten das kappadokische Dreigestirn im Kampf für trinitarischen Glauben an die Dreifaltigkeit Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Heiliger Geist.
[16] Siehe auch ENTWICKLUNG, in: Das ABC der Schlüsselworte, 132f. im Buch Orientierung finden (2021) mit Blick auf drei verschiedene Aspekte unserer persönlichen Geschichte, 52f.:
«Zunächst weist Entwicklung auf den Entfaltungsprozess hin, der uns und allen andren Lebewesen gemein ist ‒ wie etwa die in der Knospenhülle eingewickelten Blütenblätter sich entwickeln und entfalten. Entwicklung kann aber auch eine allmähliche Bereicherung bedeuten, beispielsweise, wenn wir unseren Wortschatz oder unsren Freundeskreis in sozialen Netzwerken entwickeln.»
[17] Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökumene:
(32:15) ‹Heim zum Vater› (das Wort von Ignatius von Antiochien)
[18] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105-107. Bruder David sagt dort ‹Bereicherung›, meint aber dasselbe wie ‹Anreicherung› im Unterschied zu Entwicklung.
Treue
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Wir dürfen dem Leben vertrauen, dürfen uns dem Geheimnis, das uns «entgegenwartet», anvertrauen.
Es gibt Anlässe, bei denen dieses Vertrauen klar anerkannt und feierlich zum Ausdruck gebracht wird – Momente gegenseitigen Sich-Anvertrauens zweier Menschen oder eines Menschen und einer ganzen Gemeinschaft.
Das kann eine Verbindung und Bindung auf Lebzeiten sein.
Das setzt voraus, dass die Menschen, die sich in Freiheit so aneinanderbinden, mit solcher inneren Klarheit sehen, wir gehören zusammen, dass sie einander versprechen können, füreinander da zu sein, was immer auch kommt.
Solche geheimnisvollen Augenblicke, denn das sind sie ‒ Momente voll der Gegenwart des großen Geheimnisses –, solche Augenblicke der Lebendigkeit wurden seit vorgeschichtlichen Zeiten mit Ritualen gefeiert.
Man könnte meinen, dass Menschen einander dadurch versprechen, miteinander durchzustehen, was kommen mag.
Aber richtig verstanden, drücken sie ihr Vertrauen aus, dass das große Geheimnis sie miteinander durchbringen wird.
Dieses gewichtige und weitreichende Vertrauen ist von nun an ihre gemeinsame Berufung.
Was kommt, wird nicht leicht sein: Nüchterne Erwägungen zeigen uns das.
Wer die Entscheidung hinterfragt, wenn es schwer wird, verschwendet Energie, die er braucht, um dem Versprechen treu zu bleiben – dem eigenen, dem des Gegenübers und dem Versprechen des Lebens, das in solchen heiligen Riten klarer spricht als sonst.
Diese Klarheit der Berufung ist ein großes Geschenk, aber wohl auch ein seltenes.
[Dem Leben vertrauen (2022), Auszug aus Orientierung finden (2021): «Berufung ‒ ‹Folge deinem Stern›!», 100f.]
[Ergänzend:
Aus dem Buch: Orientierung finden (2021), 95f. zu den Schlüsselworten «Verpflichtung» und «Bindung»:
«Wie aber könnte man von uns erwarten, dass wir uns für eine so viel längere Zeit als unsere Vorfahren bindend zu etwas verpflichten? Und dies, während alles um uns herum sich so viel schneller verändert als früher.
Da kann es uns helfen, zu unterscheiden zwischen Form und Inhalt einer Verpflichtung.
Wir können einem Versprechen treu bleiben, obwohl die Form, in der wir es verwirklichen, sich im Laufe des Lebens verändert.
Unsere Großeltern machten diese Unterscheidung noch nicht. Die Mentalität der Gesellschaft hätte es damals nicht gestattet. Eine Lebensverpflichtung einzugehen, das bedeutete ganz selbstverständlich, sie lebenslang in ein und derselben Form zu verwirklichen.
Heute ist die Gesellschaft da flexibler und für Veränderungen offener geworden. Jetzt ist es ohne Weiters möglich, etwas, wozu wir uns fürs ganze Leben verpflichtet wissen, in ganz verschiedenen, aufeinander folgenden Formen zu verwirklichen.
Wir verpflichten uns unserem tiefsten Verlangen, nicht dieser oder jener Form seiner Verwirklichung.
Mehrere Berufe können wir nacheinander ausüben und dabei eine Vielzahl unserer Begabungen entfalten, unserer tiefsten Berufung getreu und ohne vom Weg unserer bleibenden Begeisterung abzuweichen.»]
Überraschung
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Wenn ich mich an die spirituellen Giganten erinnere, die zu treffen ich die Ehre hatte ‒ Mutter Teresa, Thomas Merton, Dorothy Day, S.H. der Dalai Lama ‒ kann ich noch immer die kraftvolle Energie spüren, die sie ausstrahlten.
Aber woher hatten sie diese Vitalität?
In dieser Welt gibt es keinen Mangel an Überraschungen, aber solch eine strahlende Lebendigkeit ist selten.
Mir ist aufgefallen, dass all diese Leute von tiefer Dankbarkeit waren, und so habe ich das Geheimnis verstanden.
Eine Überraschung macht uns nicht automatisch lebendig, Lebendigkeit ist eine Sache von Geben-und-Nehmen, von Erwiderung.
Wenn wir zulassen, dass die Überraschung uns lediglich stört, dann wird sie uns betäuben und unser Wachstum hemmen.
Jede Überraschung ist eine Herausforderung, dem Leben zu vertrauen und so zu wachsen.
Überraschung ist ein Samen.
Dankbarkeit sprießt, wenn wir uns dem Aufruf der Überraschung stellen.
Die Großen auf dem Gebiet des Geistes sind so sehr lebendig, weil sie von so tiefer Dankbarkeit sind.
Dankbarkeit kann durch Übung vertieft werden. Aber wo sollen Anfänger beginnen?
Der naheliegende Ausgangspunkt ist Überraschung.
Du wirst merken, dass du die Samen der Dankbarkeit wachsen lassen kannst, nur indem du ihnen Raum gibst.
Wenn Überraschung passiert, weil etwas Unerwartetes auftaucht, lasst uns nichts erwarten.
Lasst uns Alice Walkers Rat befolgen:
«Erwarte nichts. Lebe einfach von der Überraschung.»
Nichts zu erwarten, das kann bedeuten, dass du nicht für selbstverständlich nimmst, dass dein Auto startet, wenn du den Schlüssel drehst.
Versuche das, und du wirst überrascht sein von einem Technikwunder, das aufrichtige Dankbarkeit verdient.
Oder vielleicht bist du von deiner Arbeit nicht gerade begeistert, aber wenn du für einen Moment aufhören kannst, sie für selbstverständlich zu nehmen, dann wirst du die Überraschung spüren, überhaupt eine Arbeit zu haben, während Millionen andere arbeitslos sind.
Wenn dich das einen Funken Dankbarkeit spüren lässt, wirst du den ganzen Tag über ein kleines bisschen freudiger, ein kleines bisschen lebendiger sein.
Wenn wir aufhören, alles für selbstverständlich zu nehmen, werden unsere eigenen Körper zu den größten Überraschungen überhaupt.
Es erstaunt mich immer wieder, dass mein Körper in jeder Sekunde zugleich 15 Millionen rote Blutkörperchen produziert und zerstört, 15 Millionen! Das ist fast zweimal die Einwohnerzahl von New York City.
Mir wurde gesagt, dass die Blutgefäße in meinem Körper, hintereinander aufgereiht, um die ganze Welt reichen würden. Trotzdem benötigt mein Herz nur eine Minute, um mein Blut durch dieses filigrane Netzwerk und wieder zurück zu pumpen. So hat es das in den vergangenen 75 Jahren Minute für Minute, Tag für Tag getan, und es pumpt immer noch alle 24 Stunden 100.000 Herzschläge. Für mich geht es dabei um Leben und Tod, dennoch habe ich keine Ahnung davon, wie das funktioniert und es scheint trotz meiner Ahnungslosigkeit erstaunlich gut zu funktionieren.[1]
Solange wir unserer Wege gehen und die Dinge als selbstverständlich hinnehmen, werden wir das Licht nie sehen; die Wirklichkeit bleibt undurchlässig wie die Klosterfenster, bevor die Sonnenstrahlen sie zu Wänden aus Licht machen.
In dem Maß, in dem wir Überraschungen in unser Leben hereinfließen lassen, wird unser ganzes Leben lichtdurchlässig.
Überraschung ist noch nicht Dankbarkeit, aber mit ein bisschen gutem Willen wächst sie von ganz allein zu Dankbarkeit heran.[2]
Es hilft, täglich wenigstens eine Überraschung wahrzunehmen, irgend etwas, was überraschend und unvorhergesehen ist.
Vielleicht ist es das Wetter, vielleicht ein Anblick, auf den wir aufmerksam werden.
Es kann ein angenehmes oder ein unangenehmes Ereignis sein. Wenn wir unser Herz öffnen, um etwas Überraschendes hineinzulassen, wird es uns immer klarer, wie viele Überraschungen jeder Tag enthält, und mit der Zeit erkennen wir, dass wir in einem Universum leben, das irgendwie zu uns spricht. Wenn wir das erst einmal erkannt haben, hören wir ganz selbstverständlich hin, weil wir die Botschaft hören wollen.[3]
Ein Regenbogen ist immer eine Überraschung.
Das soll nicht heißen, dass man ihn nicht voraussagen könnte. Manchmal bedeutet überraschend unvorhersagbar, häufig aber bedeutet es mehr.
Überraschend im umfassenden Sinn bedeutet irgendwie grundlos, geschenkt, gratis.
Selbst das Vorhersagbare wird zur Überraschung, wenn wir aufhören, es für selbstverständlich zu halten.
Wüssten wir genug, dann wäre alles vorhersagbar, und doch bliebe alles grundlos.
Wüssten wir, wie das gesamte Universum funktioniert, dann wäre es immer noch überraschend, dass es das Universum überhaupt gibt. Mag es auch vorhersagbar sein, so ist es doch umso überraschender.
Unsere Augen öffnen sich diesem Überraschungscharakter unserer Welt im gleichen Moment, da wir aufwachen und aufhören, alles als selbstverständlich zu erachten. Regenbogen haben etwas an sich, das uns aufwachen lässt.
Es kommt vor, dass ein uns völlig Unbekannter uns am Ärmel zieht und zum Himmel zeigt:
«Haben Sie den Regenbogen bemerkt?»
Gelangweilte und langweilige Erwachsene werden zu erregten Kindern. Vielleicht verstehen wir nicht einmal, was uns da aufscheuchte, als wir jenen Regenbogen sahen.
Was war es? Es war das Geschenkhafte, das da in uns hereinplatzte, die Unentgeltlichkeit aller Dinge.
Wenn so etwas geschieht, dann ist unsere spontane Reaktion Überraschung. Plato erkannte jene Überraschung als den Anfang aller Philosophie. Sie ist auch der Beginn von Dankbarkeit.
Eine kurze Begegnung mit dem Tod kann jene Überraschung auslösen.
In meinem Leben kam das sehr früh zustande. Da ich im von den Nazis besetzten Österreich aufwuchs, gehörten Luftangriffe zu meiner täglichen Erfahrung. Und ein Luftangriff kann einem die Augen öffnen.
Ich erinnere mich an einen Tag, als die Bomben zu fallen begannen, unmittelbar nachdem die Warnsirenen abgeschaltet waren. Ich befand mich auf der Straße. Da es mir nicht gelang, schnell genug einen Luftschutzbunker zu erreichen, rannte ich in eine nur ein paar Schritte entfernte Kirche. Um mich vor Glassplittern und Trümmern zu schützen, kroch ich unter eine Kirchenbank und verbarg mein Gesicht in den Händen. Als aber die Bomben draußen explodierten und der Boden unter mir erzitterte, da war ich sicher, dass das gewölbte Dach jeden Moment einstürzen und mich lebendig begraben würde. Nun, meine Zeit war noch nicht gekommen.
Ein gleichbleibender Ton der Sirene verkündete, dass die Gefahr vorüber sei. Und da stand ich nun, reckte mich, klopfte den Staub aus meiner Kleidung und trat heraus in einen herrlichen Maimorgen.
Ich lebte. Welch eine Überraschung!
Die Gebäude, die ich vor weniger als einer Stunde noch gesehen hatte, waren jetzt rauchende Schuttberge.
Was mich aber auf überwältigende Art und Weise überraschte, war, dass es dort überhaupt noch irgendetwas gab.
Meine Augen fielen auf wenige Quadratmeter Rasen inmitten all dieser Zerstörung.
Es war als hätte mir ein Freund auf seiner Handfläche einen Smaragd angeboten.
Niemals, weder vorher noch nachher, habe ich Gras so überraschend grün gesehen.[4]
Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, dann haben sich alle Schicksalsschläge und alles Arge, was mir widerfahren ist, immer als die Quelle einer guten Entwicklung herausgestellt.
Wir vergessen das nur allzu oft.
Und manchmal muss man auch lange warten, um es zu erkennen. So ist aber das Leben ‒ alles Schwere und alle Schläge wenden sich letztlich doch zu unserem Besten.
Rückblickend können wir das sehen. Und wenn wir uns üben, dann können wir daraus auch Vertrauen schöpfen im Voraus. Wir vertrauen uns dann dem Leben an. Wir sind offen für die Überraschungen, die uns das Leben schenkt.
Das alles entspringt aus der Dankbarkeit.[5]
Unser Herz sehnt sich nach der Überraschung, dass ein Geschenk auch wirklich ein Geschenk ist. Unser stolzer Intellekt aber stutzt bei einer Überraschung und will sie erklären, hinwegerklären.
Der Intellekt allein bringt uns nur ein Stück weit. Er hat einen Anteil an Dankbarkeit, aber eben nur einen Anteil.
Unser Intellekt sollte wach genug sein, die vorhersagbare Hülle der Dinge bis zu ihrem Kern zu durchschauen, um dort ein Körnchen Überraschung vorzufinden.
Das allein ist eine anspruchsvolle Aufgabe.
Aber Aufrichtigkeit verlangt ebenso, dass der Intellekt genügend demütig sei, das heißt genügend bodenständig, um seine Grenzen zu kennen.
Der Geschenkcharakter aller Dinge kann erkannt, nicht aber bewiesen werden ‒ zumindest nicht durch den Intellekt. Beweise finden sich im Leben. Und am Leben ist mehr, als der Intellekt zu fassen vermag.
Auch unser Wille muss seine Rolle übernehmen. Auch er gehört zur ganzen Fülle von Dankbarkeit. Es ist die Aufgabe des Intellekts, etwas als Geschenk zu erkennen, der Wille aber muss den Geschenkcharakter anerkennen. Erkennen und anerkennen sind zwei verschiedene Aufgaben.[6]
Es spielt keine Rolle, wie taub oder intellektuell verfangen wir sind, Überraschung ist immer nahe.
Selbst wenn in unserem Leben außerordentliche Überraschungen selten sind, das ganz Normale möchte uns immer wieder aufs Neue überraschen.
Wie ein Freund mir eines Wintermorgens aus Minnesota schrieb: «Ich war vor Sonnenaufgang auf den Beinen und beobachtete Gott dabei, wie er alle Bäume weiß anmalte. Den Großteil seiner besten Arbeit tut Er, während wir schlafen, um uns beim Aufstehen zu überraschen.»
Es ist ebenso wie bei der Überraschung, die wir in unserem Regenbogen fanden.
Wir können lernen, unseren Sinn für Überraschungen nicht nur durch das Außergewöhnliche anklingen zu lassen, sondern vor allem durch einen frischen Blick für das ganz Alltägliche.
«Natur ist niemals verbraucht», sagt Gerard Manley Hopkins und preist Gottes Größe.
«Ganz tief in den Dingen lebt die köstlichste Frische.»
Die Überraschung des Unerwarteten vergeht, aber die Überraschung über jene Frische vergeht niemals.
Bei einem Regenbogen ist das offensichtlich.
Weniger offensichtlich ist die Überraschung jener Frische in den allergewöhnlichsten Dingen. Wir können lernen, sie so klar zu sehen, wie wir den puderartigen Reif auf frischen Blaubeeren sehen können, «ein Schleier aus dem Atem eines Windes», wie Robert Frost das nennt, «ein Glanz, der mit der Berührung einer Hand vergeht.»
Wir können uns dazu trainieren, uns für jenen Hauch von Überraschung empfänglich zu machen, indem wir ihn zunächst dort entdecken, wo wir ihn am leichtesten finden.
Das Kind in uns bleibt immer lebendig, immer offen für Überraschungen; nie hört es auf, vom einen oder anderen erstaunt zu sein.
Vielleicht sah ich «an diesem Morgen des Morgens Liebling», Gerard Manley Hopkins «vom Morgengrauen gezogenen Falken schweben», oder einfach die zwei Zentimeter Zahnpasta auf meiner Zahnbürste.
Für das Auge des Herzens sind sie alle gleich erstaunlich, denn die allergrößte Überraschung ist die, dass es überhaupt etwas gibt ‒ dass wir hier sind.
Den Geschmack unseres Intellekts für Überraschung können wir kultivieren. Und alles, was uns erstaunt aufschauen lässt, öffnet «die Augen unserer Augen».[7]
Wir fangen an, alles als Geschenk zu betrachten. Ein paar Zentimeter Überraschung können zu Meilen von Dankbarkeit führen.
Überraschung führt uns auf den Weg der Dankbarkeit. Dies gilt nicht nur für unseren Intellekt, sondern auch für den Willen.
Es spielt keine Rolle, wie beharrlich sich unser Wille an unsere Selbständigkeit klammert, das Leben bietet uns die Hilfe, die zum Entkommen aus dieser Falle nötig ist.
Selbständigkeit ist eine Illusion. Und früher oder später zerbricht jede Illusion am Leben. Wir alle wären nicht das, was wir sind, ohne unsere Eltern, Lehrer und Freunde. Selbst unsere Feinde helfen dabei.
Niemals hat es jemanden gegeben, der sich selbst zu dem gemacht hat, was er ist. Jeder von uns braucht andere. Früher oder später begreifen wir diese Wahrheit.
Ein plötzlicher Trauerfall, eine lange Krankheit oder irgendetwas anderes ‒ ganz überraschend hat uns das Leben eingefangen.
Eingefangen?
Überraschend befreit, sollte ich besser sagen. Vielleicht schmerzt es, aber Schmerz ist ein geringer Preis für die Freiheit von Selbsttäuschung.[8]
(Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-6, 8)
[Ergänzend:
1. Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(18:34) «Das Wesentliche am mit dem Herzen schauen ist das Staunen: staunen können, so wie Kinder noch staunen können mit ihrer Unbefangenheit. Oder wie Künstler staunend auf die Welt schauen und so die Überraschung geradezu herausfordern. Oder wie Mütter auf ihre Kinder schauen. So sollten wir eigentlich auf alles schauen: auf andere Menschen, auf Tiere, Pflanzen, auf die ganze Welt, mit mütterlichen Augen, die sagen: Überrasch mich! Und so schaffen wir dann einen Raum, in den die Welt hineinwachsen kann, in den auch andere Menschen hineinwachsen können. Wenn wir mit Augen schauen, die ohne Worte sagen: ‹Überrasche mich!›, dann werden wir wirklich unsere Überraschungen erleben.»
2. Audios
2.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(15:21) Das Leben will uns überraschen ‒ mit Hoffnung leben im Jetzt
2.2. TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(56:56) Offenheit für Überraschung in Angst und Panik
2.3. Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(19:29) Offen für Überraschung im Augenblick tiefster Dankbarkeit ‒ Überraschung ist ein Name Gottes
2.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Stärke unseren Glauben› (Lk 17,5):
(49:08) Hoffnung vor dem Scherbenhaufen zerstörter Hoffnungen
3. Weitere Texte
3.1. Das Leben ist überraschend
Sinnenfreudiges Morgenlob mit Gedichten von Gerard Manley Hopkins; siehe auch Schönheit
Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht:
«Wann und wo immer ich etwas mit Ehrfurcht beachte,
beschenkt es mich mit namenloser Überraschung,
weil bei allem ‹mehr dahintersteckt›.
Heute will ich also ehrfürchtig auf alle Dinge schauen.»
Jeder Augenblick enthält so viele Überraschungen (2019):
«Ob krank oder gesund, wir sollten unseren Sinn für Überraschungen schärfen. Der Anfang der Dankbarkeit ist, sich vom Leben überraschen zu lassen – nicht von außergewöhnlichen Dingen, sondern von ganz alltäglichen! Es ist beispielsweise unglaublich, wie mein Blut tagtäglich Sauerstoff zu den Zellen transportiert. Oder wenn ich jetzt aus dem Fenster schaue, staune ich über die Schönheit des Abendlichts auf dem See. In solchen Momenten wird das Geschenkhafte der Welt deutlich. Nichts ist selbstverständlich, sondern alles ist geschenkt, unentgeltlich. Wir müssen aufwachen und aufhören, alles als selbstverständlich hinzunehmen.»
Die Innehalten ‒ Schauen ‒ Handeln ‒ Technik im Buch Dankbar leben (2018):
«Zuerst einmal können wir nicht damit beginnen, dankbar zu sein, es sei denn, wir wachen auf.
Aufwachen zu was? Zu Überraschungen!
Solange uns nichts überrascht, gehen wir wie betäubt durchs Leben.
Wir brauchen Übung, um zu einer Überraschung aufzuwachen. Ich schlage vor, eine einfache Frage als eine Art Wecker zu verwenden: ‹Ist das nicht überraschend?›
‹Ja, natürlich!›, ist die richtige Antwort, egal, wann und wo und unter welchen Umständen diese Frage gestellt wird.
Ist es nicht letztendlich überraschend, dass da überhaupt etwas ist anstatt nichts?
Fragen Sie sich selbst mindestens zweimal am Tag: ‹Ist das nicht überraschend?›, und Sie werden schon bald wacher durch die überraschende Welt gehen, in der wir leben.
Überraschung kann uns ein Anstoß sein, genug, um uns aufzuwecken und uns daran zu hindern, alles für selbstverständlich zu halten.»
Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 68f.:
Wir sagen, das Leben überrascht mich. (Schmunzelnd:) Und das Leben überrascht uns immer. Keine Gefahr! Wenn’s lebendig ist, ist es überraschend, wenn es nicht überraschend ist, sind wir schon im Bereich des Mechanischen, die Maschine. Das Leben ist grundsätzlich Überraschung.»
3.2. Hoffnung ist Offenheit für Überraschung
«2. Durch ‹Look› üben wir eine Haltung, die traditionell Hoffnung genannt wird.
Hoffnung unterscheidet sich von unsren Hoffnungen, denn diese sind immer auf etwas gerichtet, das wir uns vorstellen können.
Hoffnung aber ist radikale Offenheit für Überraschung ‒ für das Unvorstellbare. Wenn dies die Einstellung ist, mit der wir schauen, hinhorchen und alle andren Sinne öffnen, dann kommt zum Lebensvertrauen eine neue Dimension hinzu: Bereitschaft für die Anforderungen, die das Leben an uns stellt.»
«Hoffnung, so verstanden, unterscheidet sich von Hoffnungen. Auch wenn all unsere Hoffnungen zerschlagen werden, diese Hoffnung überlebt als ‹radikale Offenheit für Überraschung›. Das Leben ist immer überraschend, und dem Leben dürfen wir vertrauen. Darum ist es diese, unsere gemeinsame Hoffnung, die ich Euch ans Herz lege und die ich uns allen von ganzem Herzen erwünsche und erbete.»
Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Hoffnung: Offenheit für Überraschungen›, 115, 117, 122 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 115, 117, 121f.]:
«Wichtig ist, dass wir in unserer Hoffnung offen bleiben, offen für die Überraschung, denn Gott kennt unseren Weg viel besser als wir selbst. In diesem Wissen kann unser Herz Ruhe finden, auch während wir weiterwandern. Hoffnung als die Tugend des Pilgers vereint Stille mit Bewegung.»
«Die Überraschung in der Überraschung jeder neuen Entdeckung besteht darin, dass es immer noch Neues zu entdecken gibt. Hoffnung hält die Gegenwart offen für eine völlig neue Zukunft. Wir wollen jedoch nicht vergessen, dass es wenig Sinn hat, von Gott, Vergangenheit und Zukunft in einem Atem zu sprechen. Gott lebt im ‹Jetzt, das nicht vergeht›.
Hoffnung hält uns im doppelten Sinne offen: für eine Zukunft in der Zeit und für eine Zukunft jenseits von Zeit, für Gottes Jetzt.»
«Warten ist nur dann ein Ausdruck von Hoffnung, wenn es ein ‹Warten auf den Herrn› ist, auf Gott, dessen Name Überraschungen heißt ‒ und auf sonst nichts. Solange wir auf eine Verbesserung der Situation warten, machen unsere Ambitionen einigen Lärm. Und wenn wir auf eine Verschlechterung der Situation warten, dann werden unsere Ängste laut. Die Stille, die in jeder beliebigen Situation auf das Aufleuchten des kommenden Herrn wartet ‒ das ist die Stille biblischer Hoffnung.»
3.3. Überraschung ist ein Name Gottes
Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Hoffnung: Offenheit für Überraschungen›, 109 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 109]; siehe auch ST 139:
«Überraschung aber ist ein Name Gottes.
Tatsächlich ist Überraschung vielleicht der einzige Name, mit dem wir es wagen dürfen, den Namenlosen zu benennen. Zwar gelingt es auch dem Namen Überraschung nicht, Gott zu benennen. Indem wir ihn aussprechen, gelingt es uns aber zumindest, unser Herz für die Erkenntnis offen zuhalten, dass Gott mit keinem Namen eingefangen werden kann. Und das macht gerade aus unserer Unzulänglichkeit einen Erfolg.»
Das Vaterunser (2022): ‹Geheiligt werde dein Name ‒ Mein liebster Gottesname heißt Überraschung›, 46:
«Die Ergriffenheit, die mir vor dem Bild des Gottes Shiva in Chidambaram in Indien geschenkt wurde, kann ich nicht unterscheiden von dem, was mich manchmal beim Beten des Vaterunsers ereignet.
Es sollte uns daher gelingen, uns den Gottesnamen ‹Vater› immer wieder frisch zu eigen zu machen und ihn rühmend zu beten. Wir dürfen auch selber immer wieder neue Gottesnahmen erfinden.
Mein eigener liebster Gottesname ist ‹Überraschung›.»]
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[1] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Wunder des Lebens›, 57-61; siehe auch Lass dich überraschen (2019): ‹Jede Überraschung fordert uns auf, dem Leben zu vertrauen und so zu wachsen›
[2] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Staunen wie ein Kind›, 48; siehe auch Musik der Stille (2023), 55
[3] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Lass dich überraschen›, 51; siehe auch Der spirituelle Weg (1996): ‹Zen-Buddhismus und Christentum im täglichen Leben, ein Dialog› von Robert Aitken mit David Steindl-Rast›, TEIL 2, 102
[4] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Nichts ist selbstverständlich›, 52-56; siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Staunen und Dankbarkeit›, 16f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 13f.]; siehe auch ST 137f.
[5] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Alles zu unserem Besten›, 113f.; siehe auch Spiritualität und Verantwortung: Christa Spannbauer im Gespräch mit Br. David (2009)
[6] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Erwachen›, 78f.; siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Staunen und Dankbarkeit›, 19f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 16f.]
[7] Siehe auch den Titel der Festschrift zum 80. Geburtstag von Bruder David Die Augen meiner Augen sind geöffnet (2006), inspiriert vom Gedicht XAIRE / 65 von E. E. Cummings im Beitrag von Max Milz Nicht quantifizierbar: Anm. 3
[8] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Staunen und Dankbarkeit›, 26f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 23f.]
Vergebung
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Die größte Form des Gebens ist die Vergebung. Vergebung steht im Gegensatz zu Übelnehmen. Verglichen mit Inbesitznehmen und Als-selbstverständlich-Hinnehmen ist Übelnehmen die dümmste aller «Nehmensformen», weil wir hier etwas «nehmen», was wir gar nicht wollen.
Vergeben ist die größte aller Formen von «Geben». Es fällt uns deshalb so schwer, weil es beinhaltet, dass wir Schuld auf uns nehmen. Nicht im juristischen Sinn ‒ «Vielleicht habe ich es getan», «Es hätte leicht auch mir passieren können» ‒, sondern in dem Sinn, dass wir, wenn wir wirklich verzeihen, aus tiefstem Herzen vergeben. Und in unserem tiefsten Herzen sind wir eins mit allem und demnach auch eins mit jedem, dem wir zürnen. Da gibt es niemanden zu tadeln. Wir nehmen Schuld weg durch das Vergeben.
«Vergib uns, wie auch wir vergeben», bitten wir. Jesus sagt: «Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie auch vergeben». Wenn wir vergeben, vergibt Gott. Tatsächlich hat Gott bereits «vor aller Zeit» vergeben. Wir werden aufgefordert, Gottes Vergebung durch die Welt fließen zu lassen. Die Vergehen sind einfach fort, ausgelöscht. [ST 141, Quelle: [ST 141, Quelle: MS 5) 112f.]
Verhaltensmuster
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Die Meisten gehen immer wieder auf dieselbe Art mit Freunden, Ehepartnern oder Verwandten um. Wir rutschen immer wieder in die ausgefahrenen alten Verhaltensmuster. Sagen wir mal, dass jemand eine sarkastische Bemerkung macht, wohl wissend, dass der Andere ärgerlich oder noch sarkastischer darauf reagieren wird. Möglicherweise kommt es zum Streit oder einfach nur zu einer verbitterten und verfahrenen Lage. Jedenfalls führt das nirgendwo hin. Beide stecken fest. Sie finden keinen Ausweg, um aus den Rollen auszubrechen, die sie im Umgang miteinander übernommen haben.
Ganz selten ist es mir gelungen, solche Rollen zu durchbrechen, aber nur, wenn ich mich ganz sorgfältig vorbereitet habe. Zuerst muss ich mich lange vor einer Begegnung sammeln, wenn möglich Stunden zuvor, mich genau daran erinnern, wie das Gespräch gewöhnlich verläuft und wo wir stecken bleiben. Dann stelle ich mir vor, wie ich dem Andern kreativer antworten könnte und probe das richtiggehend, bevor ich mich in die Situation begebe. Wenn das gewohnte Reizwort dann fällt, sage ich etwas völlig Unerwartetes, und ganz plötzlich fallen die Rollen in sich zusammen. Aber das passiert nicht einfach so. Man muss sich wirklich gut darauf vorbereiten und wissen, was man tun will. [ST 142, Quelle: SW 230f.]
Verstehen durch Tun
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt!Ich staune in die große Stille Deines Abgrunds hinein;
ich horche bewundernd hin auf ein Wort,
das aus der Stille aufsteigt,
und versuche, im Alltag danach zu leben.Aber ich frage mich: Heißt das ‹beten›?
Sind meine ‹Gebete› nicht nur Empfindungen,
Erwägungen, Betrachtungen?
Nein. Es sind Gebete: Begegnungen mit Dir.Ich horche hin und bemühe mich gehorsam,
dem Gehörten gerecht zu werden.Jede Begegnung mit Dir ist Gebet.
Lass mich Dir heute bewusst
in allem begegnen, was mir begegnet.Alles soll Gebet werden. Amen.»[1]
Alles, was wir sehen, hören, riechen, schmecken, tasten oder sonst auf sinnliche Weise wahrnehmen, ist in diesem Sinne Wort, das uns aus der Stille des göttlichen Urgrundes zugesprochen wird.
Wir selber sind in diesem Sinne Wort ‒ «ausgesprochen und zugleich angesprochen» (worin Ferdinand Ebner tiefsinnig unsere menschliche Sonderstellung sieht).
All die Vielfalt rund um uns und in uns ist letztlich ein einziges Wort, das auf immer neue Weise «Ja» sagt, und so allem Dasein Wirklichkeit gibt.[2]
Verstehen heißt zunächst, sich dem Wort stellen, und zwar so, dass wir dem Wort erlauben, uns in das Schweigen zu führen. Aber nicht, als ob das eine Sackgasse wäre; aus diesem Schweigen heraus kommt nun die Antwort.
Das Wort führt uns nämlich nicht nur in das Schweigen, es sendet uns auch zur Erfüllung im Gehorsam.
Wenn wir das Sinnerlebnis in dieser Dynamik verstehen, dann wird uns verständlich, warum Paul Ricœur sagt,
der Sinn liege weder i m Wort
oder h i n t e r dem Wort;
der eigentliche Sinn liege
dem Worte v o r a n.
Nur wenn wir uns vom Wort in das Schweigen führen lassen, in dem der Sinn wurzelt, dann aber auch zur Antwort fortschreiten, zur Erfüllung des Wortes, durch die der Sinn Frucht bringt in Gehorsam, nur dann haben wir wirklich verstanden.
Nur der Gehorsam versteht den Vollsinn, der dem Worte voranliegt, der nicht im Worte eingeschlossen gefangen liegt, der immer in die Zukunft weist.[3]
Gehorsam geht weit über das Ausführen von Befehlen hinaus, das man ja auch Hunden beibringen kann. Menschlicher Gehorsam im Vollsinn dieses Wortes ist ein Horchen mit dem Herzen, so tief und willig, dass aus Horchen Gehorchen wird.
Gehorsam gehorcht letztlich dem Anspruch,
den das Leben stellt ‒ durch alles,
was uns im gegebenen Augenblick gegenübersteht.
Das kann eine Situation sein, ein Lebewesen
oder auch ein unbelebter Gegenstand.
Auch Dinge erwarten ja etwas von uns:
Sie wollen behutsam und respektvoll behandelt werden,
mit Achtsamkeit für das Netzwerk von Beziehungen,
das durch sie auf uns zukommt ‒
letztlich auch die Beziehung zum Großen Geheimnis,
das allem zugrunde liegt.[4]
Je älter man wird, umso mehr wird man sich bewusst, dass wir nicht nur Menschen, Tieren und Pflanzen, allen Lebewesen gegenüber eine Verantwortung haben, sondern eben auch den Dingen.
Wir haben den Dingen gegenüber eine Verantwortung.
Der Dichter Rainer Maria Rilke in einem seiner bekanntesten Gedichte
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.Rilke: Das Stunden-Buch
spricht ja davon, dass unser Leben darin besteht, dass wir wachsende Ringe über die Dinge ziehn.
Die Dinge verändern sich, Ring um Ring, wie die Ringe eines Baumes durch unser Leben und unseren Umgang mit ihnen.
Rilke spricht auch davon, dass sich unsere Rühmung, also unsere dankbare Freude, wie ein Festtagskleid über die sinnenden Dinge breitet:
Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben;
dass du weißt, was der Wind dir will,
eh noch die Birken beben.Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
lass deine Sinne besiegen.
Jedem Hauche gieb dich, gieb nach,
er wird dich lieben und wiegen.Und dann meine Seele sei weit, sei weit,
dass dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.Rilke: Mir zur Feier
Unsere Dankbarkeit, unser Rühmen breitet sich über die sinnenden Dinge wie ein Festtagskleid.
Und zu diesen Dingen gehören auch die Bücher. Ein Buch ist ganz in einem besonderen Sinn ein «sinnendes Ding».
Und die haben ein Eigenleben, diese «Dinge».
Wenn Sie dann nachher in den Vitrinen schauen, werden Sie einige Beispiele meiner «lieben Dinge» sehen.[5]
Gehorsam hinhorchen
können wir nur, wenn wir still werden.
Inneres Stillwerden lässt sich üben und erlernen.
Aus der Stille des Herzens entspringt dann
wie von selbst das Horchen des Gehorsams.[6]
Das ist nun das Entscheidende: Das Verstehen ist jene Tätigkeit, die wir nur im Vollzug verstehen können. Was es heißt zu verstehen, das müssen wir von innen her verstehen. Es von außen her verstehen ist noch kein richtiges Verstehen des Verstehens. Man versteht nur, was verstehen heißt, indem man eben etwas versteht. Aber dieses Etwas ist nicht das Verstehen selbst. Der Sehende sieht ja nicht sein Sehen.
Es geschieht im Sehen, dass wir sehen,
es geschieht im Verstehen, dass wir verstehen.
Und das führt nun zu einer ganz eigenen Dimension des christlichen Gebetes, die man das Gebet des Verstehens nennen könnte oder christliches Yoga.
Yoga ist ja Verstehen. Swami Venkatesananda hat dieses wunderschöne Wort geprägt:
«Yoga i s t einfach Verstehen.»
Yoga ist Verstehen, weil es (mit dem deutschen Worte Joch wurzelverwandt) Wort und Schweigen zusammenjocht.
Und was wir hier Gebet des Verstehens genannt haben, wird traditionell meditatio in actione genannt.
Eine wohl nicht wörtliche Übersetzung von meditatio in actione, aber eine, die vielleicht ausspricht, was gemeint ist, könnte lauten:
Gott i m Tun finden.
Meditatio in actione, nicht während des Tuns, sondern im Tun.
Unser Verständnis von meditatio in Actions krankt sehr oft daran, dass wir meditatio in actione sagen, aber Meditation während des Tuns meinen.
Wir sagen zum Beispiel: Oh, das ist eine sehr einfache Tätigkeit, die übe ich gerne aus, denn da kann ich gleichzeitig gut meditieren. Aber ich meditiere über etwas ganz anderes als das, was ich tue. Sehr nett, Kartoffeln zu schälen, da kann ich meine Gedanken bei Gott behalten.
Dagegen ist allerdings nichts einzuwenden, nur ist es keineswegs meditatio in actione.
Wenn wir wirklich meditatio in actione beim Kartoffelschälen durchführen wollen, dann müssen wir Gott im Kartoffelschälen finden. Dass das ohne weiteres möglich ist, liegt ja dem ganzen Konzept der meditatio in actione zugrunde.
Wie ist es aber möglich, dass wir Gott in unserer Tätigkeit finden, nicht nur während unserer Tätigkeit?
Es ist so, weil er, indem wir tätig sind, zugleich in uns tätig ist. Wir finden ihn in unserem Tun, weil es sein Tun ist; und wir finden ihn insofern, als unser Tun wirklich sein Tun ist.
Nur indem wir die Wahrheit tun,
können wir die Wahrheit verstehen.
Dieses Verstehen des Wortes
durch liebenden Gehorsam ist unser Heil,
denn es ist Gottes Leben in uns;
es ist unser Ergriffensein vom Heiligen Geist.[7]Nur wenn Du’s tust, wirst Du‘s verstehen.
Verstehen heißt sich hineinstellen, ganz hineinstellen.
Im Englischen heißt es: understanding, das heißt: drunterstehen.
Einer meiner Zen Lehrer hat immer gesagt: «O ihr im Westen, ihr sagt immer, ihr wollt verstehen im Sinne von u n t e r stehen, aber was ihr eigentlich wollt ist ü b e r stehen, aus der Hubschrauberperspektive betrachten.» Er sagt: «Ihr seid wie Leute, die unter der Dusche stehen und einen Regenschirm aufspannen.»
Oder so wie das Kind sagt: «Wie ist es eigentlich, wenn man stirbt? Ich möcht’s nicht tun, aber ich möcht‘s wissen.»
Wenn ihr Schwimmen lernt: Ihr könnt jedes Buch lesen oder euch jede Vorlesung über Schwimmen aneignen, habt aber dennoch keine Ahnung vom Schwimmen, bevor ihr ins Wasser geht. Man muss hineingehen: «Du wirst nur mit der Tat erfasst» (Rilke, Das Stunden-Buch).[8]
Das Geheimnis ist uns unzugänglich, außer wenn wir auf die Frage Wie? durch Tun antworten:
«Tu es einfach, dann wirst Du schon verstehen Wie?»[9]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-7 und 9]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag; siehe auch Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen: Haupttext und Ergänzend: 1.1.:
(29:24) Die Methode: Stop ‒ Look ‒ Go, Innehalten ‒ Innewerden ‒ Tun: Unsere täglichen buddhistischen Augenblicke, unsere ‹amunah›-Spiritualität und unser Yoga
1.2. TAO der Hoffnung (1994)
Vortrag; siehe auch Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 2.4.:
(28:12) «Wenn wir uns vom Wort in das Schweigen führen lassen und vom Schweigen in das Wort ‒ das ist ein Tanz, das ist eine Rundbewegung vom Wort ins Schweigen und vom Schweigen ins Wort ‒, dann verstehen wir. Wir verstehen erst wirklich, wenn wir uns einem Wort: einer Situation, einem Menschen … diesem Wort, dem, was Sinn hat, so hingeben, dass es uns in die Stille führt ‒, dann verstehen wir. Und wenn wir so in die Stille lauschen, dass die Stille zu Wort kommt, dann verstehen wir auch. Oder wenn wir so uns dem Wort so hingeben, dass es uns in die Stille führt und uns dann sendet sozusagen, hinaussendet, etwas zu tun: In dem Tun verstehen wir dann. Im Tun, nur im Tun können wir richtig verstehen. … Verstehen und Tun gehören engstens zusammen.»
(36:08) Yoga ist Verstehen ‒ Atman und Brahman – Krishna zu Arjuna in der Bhagavad Gita: Tu’s, dann wirst du verstehen / (41:47) ‹Das ist es!› in drei verschiedenen Betonungen – Der Reigentanz der Religionen von außen und von innen her betrachtet
1.3. Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag; siehe auch Religionen ‒ drei Innenwelten: Ergänzend: 1.3.:
(44:19) Das Verstehen durch Tun im Hinduismus: ‹Yoga i s t Verstehen› (Swami Venkatesananda) und der Prinz Arjuna in der Bhagavad Gita – ‹Wer bereit ist, den Willen Gottes zu tun, wird erkennen› (Joh 7,17) – ‹Du wirst nur durch die Tat erfasst› (Rilke: Das Stunden-Buch)
2. Texte
2.1. Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen: Haupttext und Ergänzend: 2., Themenbereich 4): Gebet ‒ drei Innenwelten; Kontemplation im Handeln
2.2. Orientierung finden (2021), 113; siehe auch Sinn ‒ dreifaltiges Mysterium:
«So oft wir innehalten, sei’s auch nur für einen Augenblick, umfängt uns das Geheimnis im Schweigen.
So oft wir aus innerer Stille heraus hinhorchen auf das, was der Augenblick uns zuspricht, öffnen sich die Ohren unseres Herzens für das Geheimnis als Wort.
Und so oft wir dann durch unser Tun Antwort geben auf dieses Wort, sei es ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, dein Ding oder ein Ereignis, werden wir das unbegreifliche Geheimnis durch unser Tun verstehen, so wie wir den Tanz nur dadurch verstehen können, dass wir tanzen.»
2.3. Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2018); siehe auch Sakramentales Leben: Anm. 9:
«Darum scheint mir manchmal, dass ‹dankbar leben› sogar unser Motto ‹Ora et labora› ersetzen könnte. Es geschieht ja durch dankbares Leben, dass die Arbeit selbst zum Gebet wird – und alle Geräte des Klosters zu heiligem Altargerät (RB 31,10).»
2.4. Auf dem Weg der Stille (2023), 38-40; siehe auch Religionen ‒ drei Innenwelten:
«Es sei an das erinnert, was hier schon über das Verstehen gesagt wurde: Es ist der Prozess, in dessen Verlauf das Schweigen ins Wort findet und das Wort ins Schweigen heimfindet.
Das liefert uns den Schlüssel zur zentralen Intuition des Hinduismus: Atman ist Brahman ‒ der manifeste Gott (das Wort) ist der nichtmanifeste Gott (das Schweigen) ‒ und Brahman ist Atman ‒ das göttliche nicht Manifeste (das Schweigen) ist das manifeste Göttliche (das Wort).
Zu wissen, dass das Wort Schweigen ist und das Schweigen Wort ‒ unterschieden, aber ungetrennt und untrennbar verbunden, jedoch ohne Vermischung ‒, das ist Verstehen.
Das Sanskrit-Wort ‹Yoga› und das englische Wort ‹yoke› (‹Joch›) haben die gleiche sprachliche Wurzel, die ‹verbinden› bedeutet. Yoga in allen seinen verschiedenen Formen ‒ Dienst, Einsicht, Frömmigkeit usw. ‒ ist die Handlung, bei der Wort und Schweigen durch Verstehen miteinander verbunden werden.
Im Hinduismus weiß man, dass dieses Verstehen nur durch Tun zustande kommt.
In der Bhagavad-Gita wird Prinz Arjuna mit einem Rätsel konfrontiert, das er wahrscheinlich gar nicht lösen kann. Der Glaube hat ihn in eine Situation gebracht, in der es seine Pflicht ist, eine gerechte, aber grausame Schlacht gegen seine eigenen Verwandten und Freunde zu führen. Wie kann ein friedliebender Prinz dieses Dilemma sinnvoll lösen? Sein Wagenlenker, der als Krishna verkleidete Gott Vishnu, kann ihm nur den Rat geben: Tu deine Pflicht, und im Tun wirst du verstehen.
Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Wir könnten Buch um Buch über die Kunst des Schwimmens lesen, würden aber dennoch nie verstehen, wie sich Schwimmen anfühlt, solange wir nicht selbst ins Wasser stiegen und schwämmen. Genauso könnten wir auch alle jemals geschriebenen Bücher über die Gottesliebe lesen und dennoch nie das Lieben verstehen, solange wir nicht selbst liebten. Unzählige liebevolle Menschen praktizieren die Kontemplation in Aktion, ohne je diese Bezeichnung gehört zu haben. Was macht das schon aus? Indem sie lieben, verstehen sie Gottes Liebe von innen heraus.»
Genau wie man das Stillegebet als die buddhistische Dimension der christlichen Spiritualität bezeichnen kann, so lässt sich die Kontemplation in Aktion als deren hinduistische Dimension bezeichnen.
Zugegeben, dies alles stelle ich aus meiner eigenen Sicht vor, die christlich ist. Aber welche andere Wahl hätte ich denn?
Würde ich versuchen, völlig von meiner eigenen religiösen Sinnsuche abzusehen, so würde ich die Berührung mit genau der Wirklichkeit verlieren, die ich genauer erkunden möchte. Ich wäre dann wie der Junge, der seinen Zahn in die Hand nimmt, nachdem ihn der Zahnarzt gezogen hat, etwas Zucker darauf streut und abwartet, wie das wehtut. Schmerz kann man nicht von außen her verstehen, und genauso wenig Freude, Leben oder Religion. Es ist nichts Falsches daran, wenn man vom Inneren einer Tradition her spricht, solange man nicht seine eigene Sichtweise verabsolutiert, sondern diese in ihrer Beziehung zu allen anderen sieht.»
2.5. Bruder David im Schlusskapitel «Amen» seines Buches Credo: Ein Glaube, der alle verbindet, 236; siehe auch Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen durch Tun in den Weltreligionen im letzten Abschnitt der Vorträge Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010) in Freiburg, München, Wien anlässlich der Vorstellung dieses Buches:
«Swami Satchidananda war schon vor mir in Chicago angekommen, und ich hatte ihn von weitem gesehen. Er war als der ‹Woodstock Guru› bekannt, weil er das Woodstock Festival im August 1969 eröffnet hatte. Das Festival stand unter dem Motto ‹Drei Tage Frieden und Musik› und er hatte von Musik gesprochen als dem ‹himmlischen Klang, der ins ganze Universum Ordnung bringt›. Von meiner langen Freundschaft mit diesem großen Lehrer wusste ich, dass im Hinduismus weder Wort noch Schweigen letzte Bedeutung haben, sondern Verstehen.
‹Yoga i s t Verstehen›, hatte Swami Venkatesananda gesagt und so sein tiefes Verständnis bezeugt für das, worauf es dem Hinduismus letztlich ankommt, denn das Wort Yoga fasst ja die ganze hinduistische Spiritualität zusammen.
Was wir oben über das Wort sagten, das aus dem Schweigen kommt und durch Verstehen ins Schweigen heimkehrt, gab mir Zugang zu der hinduistischen Einsicht: ‹Atman ist Brahman› und ‹Brahman ist Atman› ‒ der offenbare Gott (das Wort) i s t der verborgene Gott (Schweigen); und der verborgene Gott i s t der offenbare.
Einzusehen, dass das Wort das offenbar gewordene Schweigen ist und Schweigen das verborgene Wort ‒ unterschieden und doch ohne Trennung, untrennbar eins, und doch unvermischt ‒, das heißt verstehen.
(Freilich geht es hier um ein Verstehen, das weit über verstandesmäßiges Begreifen hinausgeht, ein Verstehen mit dem Herzen, an dem Denken, Fühlen und Wollen gleichermaßen beteiligt sind.)»
2.6. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2016): Dienstagmorgen, 61-80, in 70 und 80 mit Übersicht über die drei Formen des Gebets]
__________________
[1] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹52 ‒ Beten›, 61
[2] Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Leben aus der Stille›, 156; siehe den vollständigen Text, S. 152-159, in Stille leben
[3] Bruder David im Eröffnungsvortrag anlässlich der Salzburger Hochschulwochen Jesus als Wort Gottes (1972), abgedruckt im Buch Die Frage nach Jesus (1973), 50
[4] GEHORSAM, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 139
[5] Ansprache von Bruder David am Festakt der Übergabe seiner «geliebten Dinge» an die Universitätsbibliothek der Paris Lodron Universität Salzburg (PLUS) am 28. Oktober 2024
[6] GEHORSAM, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 139, die Fortsetzung des Textes in Anm. 12
[7] Jesus als Wort Gottes (1972), 55f.
[8] Siehe das Gedicht in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 63
«Und das Wie? ist unsere dritte Orientierungsfrage: Wie sollen wir leben? Und darauf ist die Antwort: Mit der Tat.»
Verstehen im Raum der Stille
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt!Du rührst mich an durch alles, was mich berührt,
am tiefsten aber berührt mich Musik.Sie lässt mich auch am deutlichsten erfahren,
was es heißt, Dich zu verstehen,
Du unbegreifliches Geheimnis.Begriffliches Begreifen ist etwas ganz anderes
als dieses Ergriffenwerden durch Musik,
das mich sie verstehen lässt,
mich ganz drin stehen lässt
durch meine Ergriffenheit.Ich will heute wenigstens kurz
irgendwann Musik anhören.Letztlich ist aber alles, was es gibt,
geheimnisvoll wie Musik.Gib mir Mut, meine Rüstung abzulegen
und mich ergreifen zu lassen. Amen.»[1]
Bruder David: «Mir scheint, letztlich kommt es darauf an, sich vom Geheimnis ergreifen zu lassen. Ganz gleich, was man begrifflich darüber sagt. Und das gilt auch für Menschen, die begrifflich das Richtige sagen, die zum Bespiel christlich erzogen sind, das Credo beten können und sozialisiert sind im Christentum. Wenn sie nicht ergriffen sind vom Geheimnis, dann ist alles andere eigentlich letztlich nicht wichtig. Aber ich bin überzeugt, dass das Leben so verläuft, dass Erfahrungen des Geheimnisses unumgänglich sind. Wir müssen zumindest den Tod erleben. Der Tod konfrontiert uns mit etwas, was wir nicht begreifen, was wir aber verstehen können, wenn es uns ergreift.[2]
Das gleiche gilt bei vielen Menschen für Musik und Naturerlebnisse. Ich bin überzeugt, dass Musik und Natur bei ihnen die eigentlichen religiösen Erfahrungen auslösen, auf die es ankommt.
Wenn uns das Geheimnis ergreift, dann führt es uns in den Bereich, den Rilke den ‹Weltinnenraum› nennt. Und darauf kommt es an, nicht auf begriffliche Auslegungen.»
Johannes Kaup: «Kurz zu ‹Weltinnenraum›: Was ist damit genauer gemeint?»
Bruder David: «Rilke hat noch andere Ausdrücke dafür. ‹Weltinnenraum›[3], ‹das Offene›[4], ‹die Unbetretbarkeit›[5]:
Das sind dichterische Begriffe, die man auf sich wirken lassen muss. Da klingt etwas an, aber es begrifflich zu fassen, ist nicht möglich. Ergriffenheit, darum geht es immer wieder im Letzten.»[6]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt!Aus Gipfelerlebnissen weiß ich, was es heißt,
von dir ergriffen zu sein.Aber Ergriffenheit kommt selten ‒ überraschend.
Im Alltag berührst Du mich, wenn etwas mich rührt.
Babys und neugeborene, noch blinde Kätzchen
wecken spontan diese Rührung:Wie ausgesetzt sie sind, wie verletzlich!
Aber ist nicht letztlich alles vom Schicksal verwundbar,
alles der Zerstörung ausgesetzt?Ich will mein Herz nicht verhärten
gegen die Zerstörbarkeit aller Dinge,
nicht gegen meine eigene Verwundbarkeit.Gib mir heute Mut, mich durch Rührung
sanft von dir berühren zu lassen. Amen.»[7]
(43:33) Bruder David erzählt, wie er im Teenageralter in die Nationalbibliothek ging. Er hat dort den Hohelied-Kommentar von Bernhard von Clairvaux (1090-1153) ausgeliehen, auf den ihn Pater Walter Schücker (1913-1977), ein Zisterzienser aus der Abtei Heiligenkreuz im Wienerwald aufmerksam gemacht hat, mit dem bedeutungsvollen Satz:
«Begriffe machen wissend,
Ergriffenheit macht weise.»
Weisheit ist, wenn man das Leben nicht in den Griff bekommen will, sondern sich dem Leben stellt und mitspielt im Leben:
«Das kann jeder tun: jeden Augenblick einfach die Gewohnheit pflegen, hinzuhorchen: was will jetzt das Leben von mir? Und meistens ist es einfach, dass wir uns freuen. Wenn man sich zu Tisch setzt ‒ im Tischgebet sich sich erinnern, jetzt innezuhalten und bewusst zu tun, was das Leben von mir will: es will, dass ich mich an der Suppe freue.»[8]
Was uns Freude schenkt, ist nicht einfach das, was uns Spaß macht.
Unser echtes Begehren sitzt tiefer
als unsere Begierden.
Um herauszufinden, was wirklich dein tiefstes Begehren ist, wirst du einen Ort brauchen, an dem du ungestört allein sein und dir Zeit lassen kannst, um ganz still zu werden. Um innere Klarheit zu finden, ist Stille notwendig ‒ in uns und um uns herum.
Ein oft gebrauchtes Bild dafür ist trübes, aufgewirbeltes Wasser im Teich. In Stille wird es von selber klar. Du musst nichts tun, als zu warten, bis der Schlamm sich senkt, dann kannst du bis tief auf den Grund sehen.
Stille ist auch unerlässlich, um die zarte Stimme des Herzens zu hören ‒ die Stimme unseres tiefsten Begehrens. Sie wird immer wieder übertönt vom lauten Schreien unserer Begierden, verstummt aber doch nie ganz.
Begierden kommen und gehen.
Um das bleibende Begehren
unseres Herzens kennenzulernen,
können wir uns also fragen:
Wonach würde ich immer noch begehren,
wenn all meine Begierden gestillt wären?
Die Antwort darauf wird uns zugleich auch klarmachen, was uns bleibend begeistert.
Begeisterung im Sinne Campbells führt uns auf den Pfad des Helden, von dem der Mythos berichtet, dass er durch Todesschrecken gehen muss, um das begeisternde Ziel seines Begehrens zu erreichen.
Nur was uns zum Äußersten bereit macht,
ist unsere wahre Begeisterung;
von ihr dürfen wir uns leiten lassen.[9]
Unabhängig von unseren religiösen Überzeugungen: Die letzte Wirklichkeit ist nichts, das wir von außen betrachten und analysieren können. Dort oben ist Gott du hier unten auf der Erde sind wir: Mit diesem Zugang zu den Dingen kommen wir nicht weiter. Wir können dieses Gefühl des Eingebettet-Seins nur innerlich erleben.
Wir sollten uns also nicht fragen, wie wir dieses Gefühl verstehen, es lehren und wie wir darüber sprechen können. Denn ihm liegt ein Geheimnis zugrunde, über das wir eigentlich gar nicht sprechen können, wie sich dieses Gefühl nicht in Worte fassen lässt. Wir können es nur erleben.
«Kein Auge hat es gesehen.
Kein Ohr hat es gehört,
was Gott denen bereitet hat,
die ihn lieben.» (vgl. 1 Kor 2,9)«Manche Dinge berühren uns
in unserem tiefsten inneren Wesen,
weil sie Spiegelbilder
unseres eigenen Wesens sind.»[10]
Im Alltag bedeutet das, dass alle, die «durch den Geist Gottes geführt werden», mit kindlicher Unbefangenheit in jeder Lage die rechte Antwort finden können in Wort und Tat.
In der weitesten Sicht bedeutet es Teilnahme an dem göttlichen Reigentanz, den die christliche Vorstellungskraft aus Johannes 16,28 herausliest, wo der Logos spricht:
«Ausgegangen bin ich vom Vater
und gekommen bin ich in die Welt;
ich verlasse wieder die Welt
und gehe zum Vater.»
Aus dem Schweigen kommend, kehrt das Wort durch liebendes Verstehen ins Schweigen zurück.
Mitzutanzen in diesem Reigen ist die höchste Erfüllung dessen, was wir «Leben aus der Stille» nennen.
Leben aus der Stille ist nichts anderes als dankbares Leben.
Wir können «mitten in der Welt» all das, was wir tun, bestimmen lassen von jener Stille, die in der monastischen Tradition zu Hause ist.
Dazu bedarf es nicht einmal der äußeren Stille, obwohl diese eine große Hilfe sein kann. Wir müssen nur dankbar leben lernen.
Im trinitarischen Rundtanz dürfen wir
den Kreislauf der Dankbarkeit sehen.
Wir erleben den Urgrund der Wirklichkeit als den Ursprung all dessen, was «ES gibt».
Die Wirklichkeit, mit der wir es zu tun haben, zeigt sich uns immer als Gegebenheit ‒ also als Gabe.
Unser eigenes Leben ist uns zugleich gegeben und aufgegeben.
Die Aufgabe, die in dieser Gabe liegt,
heißt Leben in Dankbarkeit.
Und worin besteht das?
Einfach darin, dass wir uns dem Leben stellen.
Dankbarkeit ist still und einfallsreich;
sie macht etwas aus jeder Gegebenheit.
Meistens ist uns Gelegenheit gegeben,
uns an etwas zu freuen.
Leider sind wir oft nicht wach genug,
das wahrzunehmen.
Aber in jeder gegebenen Lage, sei sie noch so schwierig, wird uns Gelegenheit geschenkt, uns schöpferisch ‒ und dadurch dankbar ‒ zu erweisen. Wir müssen uns nur etwas einfallen lassen. Und jeder Einfall ist selber wieder Geschenk.
Indem wir so Schritt für Schritt,
aus unserem Leben etwas machen,
steigt es zum Ursprung zurück als Dank.In dieser gegebenen Welt dankbar leben,
heißt Sinn finden.
Und in dem Maß, in dem wir Sinn finden,
werden wir still.Dann fallen wir nicht mehr, wie Hölderlins leidende Menschen
«blindlings von einer Stunde zur andern,
wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen,
jahrlang ins Ungewisse hinab.»[11]
So oft wir aus innerer Stille heraus hinhorchen auf das, was der Augenblick uns zuspricht, öffnen sich die Ohren unseres Herzens für das Geheimnis als Wort.
Und so oft wir dann durch unser Tun
Antwort geben auf dieses Wort,
sei es ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze,
ein Ding oder ein Ereignis,
werden wir das unbegreifliche Geheimnis
durch unser Tun verstehen,
so wie wir den Tanz nur dadurch
verstehen können, dass wir tanzen.
Im Tanzen kommt unser Dreischritt von Stop ‒ Look ‒ Go ins Fließen ‒ er zeigt sich als Fließweg.
In höchster sprachlicher Verdichtung hat Conrad Ferdinand Meyer (1825-l898) in seinem Gedicht «Der römische Brunnen» das Ruhen im Fließen in ein Bild gefasst.
Wenn wir ‒ ohne es intellektuell zu analysieren ‒ diesem Sinnbild gestatten, uns zu ergreifen, dann kann uns bewusstwerden, dass der Fließweg durch die drei Schalen zugleich der Weg der Sinnfindung ist, denn
Sinn ist das, worin das Herz Ruhe findet:
«Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.»[12]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 6-12]
[Ergänzend:
1. Siehe den wegweisenden Beitrag von Bruder David mit dem Titel: «Leben aus der Stille» im vorletzten Kapitel des Buches Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 152-159, überschrieben mit den Zeilen von Joseph von Eichendorff:
«Mein Herz wird mir so stille
und wird nicht untergehn.»[13]
Der Beitrag ist vollständig enthalten in Stille leben.
Er erschien zuerst als Geleitwort und Epilog von Bruder David im Buch der Ruhe und der Stille (2005), 7f., 179-184, siehe auch Auszüge davon in Alles in uns schweige (2013), Finde die Stille (2010) und im obigen Text mit Anm. 12.
Der Beitrag schließt mit dem Satz, der den ganzen Inhalt zusammenfasst:
«Der Kreislauf in dem alles Gegebene als Dank zum Ursprung zurückkehrt ‒ der Kreislauf, in dem das Schweigen Wort wird und im Verstehen zurückkehrt ins Schweigen ‒ findet ein dichterisches Bild in den Marmorschalen von Conrad Ferdinand Meyers römischem Brunnen:
‹… und jede nimmt und gibt zugleich
und strömt und ruht.› (158f.)»
2. An welchen Gott können wir noch glauben (2008); siehe auch Geben und Nehmen: Ergänzend: 2.:
«Das Verstehen ereignet sich, indem wir so tief auf das Wort – was immer das Wort ist, es kann eine Situation sein, ein Mensch sein, ein Ding sein, Musik sein –, was immer das Wort im weitesten Sinne ist, wenn wir so tief darauf hinhorchen, dass es uns mitnimmt dorthin, wo es herkommt, in dieses Schweigen. Es kommt aus dem Schweigen, es ergreift uns und es führt uns in dieses Schweigen. Wenn wir da mitgehen, dann verstehen wir. Das ist der Prozess des Verstehens. Und das ist Sinnfindung durch Schweigen, Wort und Verstehen.
Es gibt ein kurzes Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer, ‹Der römische Brunnen›. Da ist das alles drinnen.»
3. Audios
3.1. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökumene; siehe auch Fließweg: Ergänzend: 4
(31:54) «In ihm und durch ihn und mit ihm ‒ Jesus Christus ‒ gehen wir wieder zurück zum Vater: Wir als Christen drücken das so aus und erleben das so, aber alle Menschen erleben das so, können es verstehen, wenn man es ihnen nahebringt. … Einer der ganz frühen Kirchenväter sagt: ‹In meinem Herzen fließt eine Quelle und ich höre das Wasser sagen: Heim zum Vater.› Das ist etwas, das jeder Mensch erlebt, einfach als Mensch. Diese Quelle haben wir in unserem Herzen und hören diese Stimme, die sagt: ‹Heim zum Vater.›
3.2. Audios mit dem Gedicht von C. F. Meyer: ‹Der römische Brunnen›; siehe auch Fließweg: Ergänzend: 3.
Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun:
(55:30) ‹Der römische Brunnen› (C. F. Meyer) und ‹Römische Fontäne› (R. M. Rilke, Neue Gedichte)
Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökumene:
(01:12:38) ‹Der römische Brunnen› (C.F. Meyer)
Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
Vortrag:
(58:38) Der römische Brunnen (C.F. Meyer)]
__________________
[1] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹26 ‒ Ergriffenheit›, 35
[2] Helmut von Loebell (1937-2020) lebte in Kolumbien als Initiator von sozialen Projekten dauernd in Todesgefahr. Im Buch Der Stehaufmann (2016) blickt er auf sein Leben zurück. Bruder David schrieb unter dem Titel Ein Lobpreis des Lebens ein berührendes Vorwort zu diesem Buch. Beide begegneten sich 2018 in Salzburg im Video Würde ‒ was wären wir ohne sie? (2018) mit Übersicht über die Themen des Gesprächs.
[3] Rilke: ‹Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen› (Gedichte aus dem Nachlass):
«Durch alle Wesen reicht der e i n e Raum
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will.
ich seh hinaus, und i n mir wächst der Baum.»
[4] Rilke: Die achte Elegie (Duineser Elegien):
«Mit allen Augen sieht die Kreatur
das Offene: Nur unsre Augen sind
wie umgekehrt und ganz um sie gestellt
als Fallen, rings um ihren freien Ausgang.»
Bruder David trägt die achte Elegie vor in Lebendige Spiritualität (2015)
Der Doppelbereich:
(29:14) Die achte Duineser Elegie und Zugänge zu Rilkes Gedichten
[5] Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, III:
«Spiegel noch nie hat man wissend beschrieben,
was ihr in euerem Wesen seid.
Ihr, wie mit lauter Löchern von Sieben
erfüllten Zwischenräume der Zeit.
Ihr, noch des leeren Saales Verschwender ‒,
wenn es dämmmert, wie Wälder weit...
Und der Lüster geht wie ein Sechzehn-Ender
durch eure Unbetretbarkeit.
Manchmal seid ihr voll Malerei.
Einige scheinen in euch gegangen ‒,
andere schicktet ihr scheu vorbei.
Aber die Schönste wird bleiben -, bis
drüben in ihre enthaltenen Wangen
eindrang der klare gelöste Narziß.»
[6] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹7. Weltreiseerfahrungen ‒ 7. Dialog›, 149f.
[7] Du großes Geheimnis: ‹Gebete zum Aufwachen› (2019), ‹28 ‒ Rührung›, 37
[8] Andreas Salcher im Gespräch mit Bruder David (2021) mit Übersicht über die Themen des Gesprächs
[9] Orientierung finden (2021): ‹Berufung ‒ Folge deinem Stern›, 91f.; siehe auch Berufung
[10] Erkenntnis (2023): Kapitel 5: ‹Dem Welthaushalt freudig dienen: Die letzte Wirklichkeit›: 119f.
[11] Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Stille leben›, 157f.; weitere Hinweise in Ergänzend: 1.
Hölderlins Verse sind die Schlussverse in seinem Gedicht ‹Hyperions Schicksalslied›
[12] Orientierung finden (2021): ‹Stop ‒ Look ‒ Go: sich einüben in den Fließweg des Lebens›, 113f.
[13] Joseph von Eichendorff: ‹Der Pilger, 3›: ‹Schlag mit den flammgen Flügeln›
Vertrauen
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Vertraue dem Leben, dass es jeden Moment genau das zur Verfügung stellt, was du brauchst.
Dem Leben zu vertrauen heißt: fest damit rechnen, dass jeder Tag uns genau das bringen wird, was wir brauchen ‒ wenn es auch nicht immer das ist, was wir uns wünschen. Daher werden wir keine Energie an inneren Widerstand verschwenden oder an Wunschträume; dann haben wir mehr Energie verfügbar, um mit der gegebenen Lage umzugehen – genau dort, wo das Schicksal uns hingestellt hat. Wir verlassen uns eben darauf, dass die Lebensquelle uns schon gibt, was für uns gut ist, ob wir es immer gleich erkennen oder nicht.
Menschen, die so leben, gleichen Schwimmern in einem reißenden Strom. Sie liefern sich der Strömung nicht willenlos aus, aber sie widerstehen ihr auch nicht; sie passen sich vielmehr mit jeder Bewegung der Trift oder Sog an, und nützen den Lauf des Wassers zielstrebig und geschickt so aus, dass sie sich an dem Abenteuer richtig freuen können.
Was wäre für ein erfülltes, geglücktes Leben wichtiger als solch gläubiges Vertrauen? Je bewusster wir leben, umso klarer erkennen wir, was für ein unfassbares Geschenk es ist, überhaupt lebendig zu sein. Diese Einsicht löst mit jedem Atemzug tiefe Dankbarkeit aus und öffnet dadurch unser Herz für immer größere Lebensfreude. [CG 1) 184; 2) 184]
Vorrat
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Klaudia Menzi-Steinberger
Wachstumsprozess
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Sobald wir aufwachen und nicht mehr alles als selbstverständlich erachten, glimmt zumindest ein Fünkchen von Staunen, der Beginn von Dankbarkeit in uns.
Dankbarkeit aber muss sich ausdrücken.
Wir kennen das unangenehme Gefühl, das mit einem anonymen Geschenk einhergeht. Wenn ich eines erhalte und nicht weiß, wem ich nun danken soll, dann drängt es mich den ganzen Morgen lang, jedem, der mir über den Weg läuft, so etwas wie Dank zu äußern, einfach um mein eigenes Bedürfnis danach zu befriedigen.
Und während ich meinen Dank ausdrücke, wird er mir immer mehr bewusst.
Und je größer meine Bewusstheit, desto größer mein Bedürfnis, ihn auszudrücken.
Was hier geschieht, ist ein spiralförmiges Ansteigen, ein Wachstumsprozess immer weiterer Kreise um ein ruhendes Zentrum herum, eine Bewegung, die immer tiefer in die Dankbarkeit führt.
Ebenso ist es mit Gebeten.
Als Ausdruck unserer Andächtigkeit verstärken Gebete unsere Andacht. Und jene größere Andächtigkeit bedarf wiederum des Ausdrucks in Gebeten.
Vielleicht haben wir anfänglich nicht viel vorzuweisen, aber die Spirale dehnt sich entsprechend ihrer eigenen inneren Dynamik solange aus, wie wir beteiligt bleiben.
Ein hervorragendes Abbild dieser dynamischen Wachstumsentwicklung ist die Nautilusmuschel.
Ich kann an keiner Muschelausstellung vorbeigehen, ohne nach einer dieser faszinierenden Muscheln zu suchen. Besonders begeistern mich jene Exemplare, die in zwei Hälften geschnitten wurden, um die ganze Reihe leerer Kammern mit ihren Innenwänden aus Perlmutt zu zeigen. Irgendwo im Südpazifik oder im Indischen Ozean baute sich eine Molluske diese großartige Muschelschale um ihren Körper.
Und als dieses geheimnisvolle Meerwesen immer größer wurde, wanderte es von einer Kammer zur nächsten, löste sich von der alten, zu klein gewordenen, um zur nächsten, größeren überzusiedeln.
Aber schon bald war auch diese neue zu klein geworden und zwang seinen Erbauer und Bewohner dazu, weiterzubauen und umzusiedeln.
| Year after year beheld the silent toil | Jahr für Jahr beäugte das schweigende Mühen | |
| That spread his lustrous coil; | sein strahlendes Gewölbe auszubauen. | |
| Still, as the spiral grew, | Und weiter wuchs die Spirale. | |
| He left the past year's dwelling for a new, | Er ließ das Heim vom vorigen Jahr für ein neues zurück, | |
| Stole with soft step its shining archway through, | Wanderte heimlich durch seinen glänzenden Bogengang, | |
| Build up its idle door; | Verbaute hinter sich die jetzt nutzlose Pforte, | |
| Stretch'd in his last-found home, and knew the old no more. | Dehnte sich aus im neugefundenen Heim und vergaß das alte. |
Diese Zeilen stammen aus einem Gedicht von Oliver Wendell Holmes, «The Chambered Nautilus».
Der Dichter dankt unserer kleinen weichen Muschel, jenem «Kind der ewigen See» für seine Botschaft, die in den längst verlassenen Kammern immer noch widerhallt.
Eine «himmlische Botschaft» nennt sie der Dichter, denn sie erzählt vom Wachsen auf ein höchstes Ziel hin.
Von der Botschaft sagt er:
| While on mine ear it rings | Während sie in meinem Ohr nachklingt | |
| Through the deep caves of thought I hear a voice that sings: | Höre ich durch die tiefen Gedankenhöhlen hindurch eine singende Stimme: | |
| ‒ Build | ‒ Baue | |
| Build thee more stately mansions, O my soul, | Baue dir erhabenere Gebäude, meine Seele, | |
| As the swift seasons roll! | Während die Jahreszeiten dahinfliegen! | |
| Leave thy low-vaulted past! | Verlasse deine flachgewölbte Vergangenheit! | |
| Let each new temple, nobler than the last, | Jeder neue Tempel, vornehmer als der vorige, | |
| Shut thee from heaven with a dome more vast, | Soll dich mit höheren Kuppeln vom Himmel schirmen | |
| Till thou at length art free, | Bis du zuletzt befreit | |
| Leaving thine outgrown shell by life's unresting sea! | Die Muschel, der du entwachsen, an des Lebens müheloser See zurücklässt. |
[FN 1) 44-46; 2-5) 46-48; 6) 48-51; die deutsche Übersetzung des Gedichts ist dieser Ausgabe entnommen]
[Ergänzend:
Wandlung ins Übersinnliche
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
[Video ab (36:46)]: «Der Geschmacksinn ist eigentlich der innerlichste unserer Sinne. Es ist kein Zufall, dass das lateinische Wort für Weisheit ‒ sapientia ‒ eigentlich ein innerliches Schmecken heißt. Wörtlich ist sapientia ein innerliches Schmecken.
Und die tiefste Weisheit des Herzens besteht darin, einen Geschmack für die Welt zu entwickeln.
Und wie sollen wir das tun, wenn wir es nicht auch sinnlich mit unserer Zunge, mit unserm Geschmack lernen? Das ist eine sehr spirituelle Aufgabe wie mit all den andern Sinnen. Es handelt sich einfach darum, wirklich lebendig zu werden, wirklich aufzuwachen zu der Tiefe und Fülle des Lebens.
(38:40) Diese Art der Spiritualität, diese Art wirklich lebendig zu sein, und die Askese der Sinne, die dazu führt, ist im wahrsten Sinne allumfassend und also im echten Sinne katholisch. Sie schließt sich der ganzen Welt auf. Und das ist unsere große Aufgabe.
Das Kind in uns ist immer Dichter, bleibt Dichter. Und es tut das, was der Dichter tut. Es hebt das Sinnliche über den Wandel der Zeit ins Zeitlose hinaus.
(40:09) Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
Der Dichter Rainer Maria Rilke hat das so schön ausgedrückt.[1] Er vergleicht uns Menschen mit Bienen, die den Nektar des Sichtbaren in die großen goldenen Honigwaben des Unsichtbaren sammeln. Das ist unsere große menschliche Aufgabe.
(41:26) Diese Offenheit der Welt gegenüber von der wir hier sprechen, ist etwas so Wunderschönes, so Anziehendes, dass man sich wundern muss, warum wir uns so oft davor verschließen, warum wir nicht so leben, einfach im Alltag, warum man das üben muss. Und die einzige Antwort, die ich finden kann, ist, dass wir uns fürchten. Es kostet uns zu viel, uns dem auszusetzen. Wir wollen auswählen. Wir wollen uns nur dem aussetzen, was uns gut gefällt. Daher verschließen wir uns. Daher engen wir unsern Gesichtskreis ein. Angst verengt uns überhaupt. Angst verengt schon die Blutgefäße. Angst hat zu tun mit Angina, ángina: mit Enge: mit der inneren Enge, mit dem nicht atmen können. Es hat aber auch zu tun mit der Enge des Geburtskanals, durch den wir durchmüssen, um wirklich das Licht der Welt zu sehen, um geboren zu werden. Und das verlangt ungeheuren Mut von uns.
Dieser Mut, dieser Lebensmut, dieses gläubige Vertrauen in das Leben, das heißt im religiösen Sprachgebrauch Glaube. Und der Glaube ist eben einfach diese Offenheit dem Leben gegenüber, diese Bereitschaft für alles, was uns entgegenkommt. Dieses tiefe Vertrauen in die Welt, in das Leben und in den Urgrund und die Quelle des Lebens: Gott, wenn wir es so nennen wollen.
(43:41) Das Einzige, das wir wirklich lernen müssen, und das ist sehr einfach, ist aufzuwachen zu den vielen, vielen Geschenken, die wir täglich empfangen und sie dankbar entgegenzunehmen. Wenn wir wirklich dankbar sind, dann nehmen wir schon ganz spontan die Haltung ein, von der hier die Rede ist. Denn in der Dankbarkeit ist schon das Vertrauen beinhaltet dem Geber gegenüber, dem Gegebenen gegenüber, dem Leben, das uns sich gibt. Wenn wir dankbar sind, sind wir offen für dieses Geben, es in Empfang zu nehmen. Wir sind offen für Überraschungen. In der Dankbarkeit freut man sich über Überraschungen. Man weist sie nicht zurück, sie sind einem willkommen, man ist bereit dafür. Und wir sind auch bereit für dieses Geben und Nehmen, das zur Dankbarkeit gehört, das in Empfang nehmen und das Dank sagen. Und in diesem Geben und Nehmen besteht unsere Zugehörigkeit zu der Welt: unser Daheimsein in der Welt.»
[Bruder David im Buch HerzWerk (2025), 163, 98, 55-57]:
Werner Bergengruen sagt so schön (163):
«Nichts ist, was dich schrecken darf, und du bist daheim.»[2]
Das Leben will Wandlung ‒
in immer glühendere Lebendigkeit
auf immer höheren Ebenen. (98 und 101)
In seinem mit Recht berühmten Brief vom 13. November 1925 an seinen polnischen Übersetzer Withold Hulewicz erklärt Rilke eine grundlegende Einsicht seines Weltverständnisses:
«Alle Welten des Universums stürzen sich ins Unsichtbare,
als in ihre nächst-tiefere Wirklichkeit.»
Und noch einmal, etwas anders ausgedrückt:
«Die Vergänglichkeit stürzt überall in ein tiefes Sein.
Und so sind alle Gestaltungen des Hiesigen
nicht nur zeitbegrenzt zu gebrauchen,
sondern, soweit wirs vermögen,
in jene überlegenen Bedeutungen einzustellen,
an denen wir Teil haben.» (55 und 207)
Uns Menschen fällt bei dieser Verwandlung eine ganz wesentliche Aufgabe zu:
«Unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde
uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen,
dass ihr Wesen in uns ‹unsichtbar› wieder aufersteht.»
In uns also findet nach Rilkes Verständnis die Verwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares statt:
«Die Erde hat keine andere Ausflucht,
als unsichtbar zu werden: in uns,
die wir mit einem Teil unseres Wesens
am Unsichtbaren beteiligt sind.» (55)
Um Verinnerlichung geht es bei diesem Prozess und Rilke sagt das ausdrücklich in seiner siebten Duineser Elegie:
«Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen. Unser
Leben geht hin mit Verwandlung. Und immer geringer
schwindet das Außen.»
Verwandlung stellt für Rilke unsere einzigartige Lebensaufgabe als Menschen dar. Wohl deshalb, weil wir Menschen jene Tiere sind, die bewusst am Übersinnlichen Anteil haben.
Für den Dichter besteht offenbar der Reifungsprozess eines Menschenlebens in fortschreitendem Verwandeln, bei dem das Außen immer geringer wird und schließlich verschwindet, wenn aller von uns lebenslang eingeheimster Nektar des Sichtbaren zu Honig wurde ‒ im unsichtbaren Bereich. Er nennt uns Menschen ja
«die Bienen des Unsichtbaren».
«In uns allein kann sich diese intime
und dauernde Umwandlung
des Sichtbaren in Unsichtbares,
vom sichtbar- und greifbar-sein
nicht länger Abhängiges vollziehen,
wie unser eigenes Schicksal in uns
fortwährend zugleich
vorhandener und unsichtbar wird. …
Wir sind, noch einmal sei's betont, …
diese Verwandler der Erde,
unser ganzes Dasein,
die Flüge und Stürze unserer Liebe,
alles befähigt uns zu dieser Aufgabe
(neben der keine andere, wesentlich, besteht).»(56 und 207f.)
Alexandra: In dem wichtigen Brief, den du hier mehrmals zitierst, finde ich das Bild der «Bienen des Unsichtbaren» besonders hilfreich für ein Verständnis von Verwandlung.
Bruder David: Ja, Alexandra, außerordentlich hilfreich. Rilke sagt:
«Wir sammeln voll Leidenschaft ‒
eigentlich ‹ganz in unserer Arbeit aufgegangen› ‒
den Honig des Sichtbaren, um ihn zu speichern
im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren.»
Er schreibt diesen einen Satz auf Französisch:
«Nous butinons éperdument le miel du visible,
pour l'accumuler dans la grande ruche d’or de l’invisible.»
Alexandra: Es war ja tatsächlich die überragende Leidenschaft Rilkes, durch sein Leben und Dichten alles Sichtbare im Bereich des Unsichtbaren zu speichern ‒ es innerlich auf eine höhere Ebene hinaufzuheben und dort sozusagen aufzuheben wie in einer großen goldenen Honigwabe. (56f.)
«So gilt es, alles Hiesige nicht nur
nicht schlecht zu machen und herabzusetzen,
sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen,
die es mit uns teilt,
sollen diese Erscheinungen und Dinge
von uns in einem innigsten Verstande
begriffen und verwandelt werden.
Verwandelt? Ja, denn
unsere Aufgabe ist es.»(57 und 208)
Bruder David: Und dieses Verwandeln ist aus Rilkes Sicht eben unsre große Aufgabe als Menschen:
«Umwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares.»
Er versteht «Unsichtbares» als etwas «vom sichtbar- und greifbar-sein nicht länger Abhängiges».
Dabei ist offenbar, dass es Rilke daran liegt, «im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen», wie er ausdrücklich betont (57):
«Der Engel der Elegien ist dasjenige Wesen, das dafür einsteht,
im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen. ‒
Daher ‹schrecklich› für uns, weil wir, seine Liebenden und Verwandler,
doch noch am Sichtbaren hängen.» (213)
[Obiger Text ist eine Komposition mit Auszügen aus der Transkription des Videos Wir sind daheim in dieser Welt (1975) ab (36:46) und dem Buch von Bruder David und Alexandra Kreuzeder: HerzWerk (2025): ‹Freude finden mit Rainer Maria Rilkes Sonette an Orpheus›, 163, 98, 55-57]
[Ergänzend:
‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren›
1. Audios
1.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 4
Nachmittag: ‹memento mori› ‒ ‹memento vivere› (Bruder David):
(21:24) Leben im Doppelbereich Leben-Sterben heißt Rühmen auch unter Schatten: ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus), ‹Seidener Faden kamst du hinein ins Gewebe› (Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XX), ‹Nur wer die Leier schon hob auch unter Schatten› (Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, IX) ‒ ‹And the time of death is every moment› (T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, III) / (26:32) Leben im Doppelbereich Ich-Selbst heißt im Augenblick leben ‒ Warum das Ich? ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke): Nichts geht verloren: ‹All is always now› (T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V) / (31:31) Auferstehung des Fleisches: von allem, was vergänglich ist, unser Leben verborgen in Gott (Kol 3,3)
Siehe auch Jetzt im Doppelbereich und Jetzt und ewiges Leben
1.2. Lebendige Spiritualität (2015) mit Bruder David und Pater Johannes Pausch in vier Gesprächsabenden mit Gedichten und Texten von Rilke
Verstehen durch TUN:
(39:35) ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› ‒ ‹Preise dem Engel die Welt› – ‹Aber weil Hiersein viel ist› (Die neunte Elegie)
Siehe auch Lobpreis des Lebens: Ergänzend: 3.
1.3. Lebensorientierung (2015)
Tag 4:
(27:11) Der Schlüsselbegriff ‹Entwicklung› weist in seiner Doppelbedeutung hin auf unsere Lebensaufgabe, unsern einzigartigen Beitrag im Großen und Ganzen des Selbst: ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren›
Siehe auch in der Nachschrift Tag 4 den Abschnitt mit dem Untertitel: ‹Entwicklung auf zwei Ebenen›
1.4. Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014)
Vortrag:
(30:31) Worum geht es im Leben? Wie begegnen wir dem Sterben und dem Tod?
‹Anreicherung›, Erfahrungsreichtum im Bereich des Geistes unterscheidet sich von ‹Entwicklung›, dem ‹Stirb und Werde› im materiellen, leiblichen Bereich:[3]
Siehe auch die Transkription des Audios:
«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Wir heimsen den Nektar des Sichtbaren ‒ und das heißt, den Nektar des Sichtbaren und mit allen Sinnen Erfahrbaren: darum leben wir in dieser Körperlichkeit im Bereich der Materie ‒ Wir heimsen den Nektar des Sichtbaren in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren.
Und das ist der Bereich des Geistes. Das ist, was ich Anreicherung nenne, und das kann niemand von außen beobachten, das können wir nur aus eigener Erfahrung, nur von innen her.»
«Und das kann ein großer Trost sein, nicht was äußerlich Beweiskraft hat, aber etwas, das innerlich Trost und Stärke geben kann. Dass wir in diesen großen goldenen Honigwaben etwas ansammeln, was durch unser Sterben, das eben zum Leben gehört ‒ zum Leben gehört das Sterben ‒, überhaupt nicht betroffen wird, sondern eben: Sein ist über den Tod erhaben. Sterben ‒ Tod ist nicht das Gleiche.»
1.5. Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft (2014): Audio Tag 3-4 ab (23:55), transkribiert in Teil II, 105-107; siehe auch Rühmen, Er-innern, Aufheben
1.6. Fülle und Nichts (1996)
Vortrag:
(30:42) In der Erinnerung verinnerlichen wir uns, was wir mit den Sinnen nicht mehr erreichen können – Beispiel einer blinden, 83jährigen, Frau
(32:04) ‹Wir Menschen sind die Bienen des Unsichtbaren›
1.7. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Eröffnungsreferat Vortrag:
(22:47) Verleiblichen des Geistigen und Vergeistigen des Leiblichen: Durch die Sinne Sinn finden – ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren›
Der Text des Vortrages Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ist abgedruckt im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens; siehe S. 23
1.8. Menschenwürde (2019)
‹Würde und unsere Einzigartigkeit›; siehe auch die Mitschrift:
«Jetzt haben wir über die Zugehörigkeit nachgedacht, über die Eigenart könnten wir auch nachdenken: Nicht zwei Menschen, nicht einmal Zwillinge haben den gleichen Fingerabdruck. Das heißt aber auch, dass niemand einen Strauß Tulpen so gesehen hat ‒ vorher oder nachher in der Geschichte ‒, wie jede und jeder jetzt diese Tulpen sieht. Denn was wir da sehen, ist ja nicht nur Licht, das unsere Augen trifft: Sehen heißt, es erleben. Und erleben hängt davon ab, wer wir sind. Wir sind so verschieden voneinander, dass nicht zwei Menschen das gleiche erleben können. Das ist auch unser Beitrag zur Menschheitsgeschichte, dass wir das wirklich erleben.
Rilke sagt: ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren, und wir heimsen den Nektar des Sichtbaren in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren›. Das ist unsere Aufgabe im Leben. Und das mit allen Sinnen zu machen. Und jede und jeder von uns kann das nur ganz anders machen wie alle andern. Wir unterscheiden uns so voneinander!»
2. Texte:
2.1. Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Sinnlichkeit und christliche Askese› (2021), 97f.:
«So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden. Verwandelt? Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ‹unsichtbar› wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible.»
Ebd. ‹Die Dankbarkeit der fünf Sinne› (2021), 56f.:
«Wir sind daheim in dieser Welt, und das Kind in uns weiß es. Als Kinder zweifelten wir nicht einen Augenblick daran, dass Liebe diese Welt entwarf. Darum blickten unsere Augen noch ‹mit hellem Mut›. Wir hatten eben noch den Mut, die Welt arglos dankbar als das zu erkennen, was sie ist, als Gabe. Was verdüstert uns dann heute so oft hellen Mut und hellen Blick? Furcht. Wir fürchten, uns auf die Güte des großen Gastgebers zu verlassen; Furcht, uns ehrfürchtig vor dem Geber zu neigen. Wir haben Furcht vor der Ehrfurcht. Und warum? Weil die Ehrfurcht Gott jene Mitte zugesteht, die wir uns so gerne selber anmaßen. Gerhard Terstegen hat mit wenigen Worten zielsicher auf das Entscheidende an der Ehrfurcht hingewiesen: Nicht wir sind in der Mitte, sondern Gott.
‹Gott ist gegenwärtig; lasset uns anbeten
Und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte …›Gerhard Teerstegen: Anbeten vor Gottes Gegenwart
Wir müssen wählen zwischen Ehrfurcht und Furcht. Wer nicht den Mut zur Ehrfurcht hat, der fällt unweigerlich existentieller Angst zum Opfer. Nur die Ehrfürchtigen sind daheim in dieser Welt und wissen es.»
2.2. 99 Namen Gottes (2019): ‹88 al-Ġanī, der REICHE, der niemanden braucht›, 183:
«Wir gehören ja als Menschen dem Vergänglichen an, ragen aber ins Geheimnis hinein, also ins Unvergängliche. Durch uns fließt alles, was unsere Sinne ergreifen, ins unbegreifliche Geheimnis zurück. Darum nennt Rilke uns ‹die Bienen des Unsichtbaren›: Durch alles, was wir tun und erleiden, sammeln wir den Nektar des Sichtbaren in die große, goldene Honigwabe des Unsichtbaren. Dieses Bild zeigt den Strom des Segens als zurückfließend und der REICHE erscheint nun auch deshalb so überreich, weil sein verschenkter Reichtum unaufhörlich bereichert in ihn zurückfließt.
‹So fließt der Dinge Überfluss dir zu.
Und wie die obern Becken von Fontänen
beständig überströmen, wie von Strähnen
gelösten Haares, in die tiefste Schale, so
fällt die Fülle dir in deine Tale,
wenn Dinge und Gedanken übergehn.›
(Rilke: ‹Und du erbst das Grün›: Das Stunden-Buch: ‹Von der Pilgerschaft›)
Du bist einzigartig. Noch nie hat jemand einen Baum genau so gesehen, wie du ihn siehst. Alles, was du von Geburt aus bist, und deine ganze bisherige Erfahrung fließen in dein Schauen ein. Vielleicht willst du heute still und lange einen Baum anschauen und dich daran freuen, dass du dadurch das Universum bereicherst und dem REICHEN den Baum durch dein Schauen bereichert zurückschenkst.»
2.3. Im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 95f.; siehe den Text in Rühmen, Er-innern, Aufheben
2.4. Im Buch Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9. Doppelbereich ‒ Dialog›, 190f.; siehe auch Jetzt im Doppelbereich und Rühmen, Er-innern, Aufheben:
«Erinnerung ist nicht Wiederbringung von Vergangenem, sondern ‹Er-inner-ung›:
Etwas ist ins Innerste eingegangen und gehört nicht nur meinem persönlichen Innersten an, sondern dem Weltinnenraum.
Rilke fasst das in die dichterische Vorstellung, dass wir Menschen die ‹Bienen des Unsichtbaren› sind.
Unser ganzes Leben besteht darin, jeden Augenblick, jede Erfahrung in die ‹große goldene Honigwabe› des Weltinnenraums einzuheimsen.
Nichts kann dort je wieder verloren gehen. Was ich einheimse in diese große goldene Honigwabe, ist mein einzigartiger Beitrag.
Wir sind so verschieden voneinander, dass es wohl nie zwei Menschen gegeben hat, die, sagen wir, eine Rose angeschaut und dasselbe gesehen haben.
Mit meiner einzigartigen Sensibilität reichere ich den Weltinnenraum an.
Ich bereichere ihn mein Leben lang, nicht nur durch alles Angenehme, was ich erlebe, sondern auch durch jedes Leiden. Alles hat Wert und Bestand. Nichts geht verloren.»
Johannes Kaup: «Vom Leiden hoffen wir, dass es ebenfalls verwandelt wird. Deswegen frage ich noch einmal anders: Wird auch die Vergänglichkeit verwandelt?»
Bruder David: «Sie wird schon jetzt verwandelt. Jetzt oder nie.»
2.5. Bruder David im Gespräch mit Anselm Grün im Buch Das glauben wir (2016): ‹Wie kann ich endlich leben? ‒ oder: Über das Sterbliche und das Ewige›, 92f.:
Bruder David spricht vom Unterschied von Ich und Selbst: «Unser Selbst ist nicht in Raum und Zeit, wir erleben es im Jetzt, das über Raum und Zeit erhaben ist. Unser Ich dagegen ist in Raum und Zeit. Menschliche Größe und menschliche Aufgabe zugleich ist es, in diesem Doppelbereich zu leben.
Ich und Selbst durchlaufen dabei,
obwohl vereint,
zwei unterschiedliche Prozesse:
Für mein Ich stellt meine Lebensspanne von der Empfängnis bis zum Tod ein Prozess dar, in dem es um Entwicklung geht ähnlich wie vom Samen über die Blüte zur Frucht, die selbst wieder zu neuem Samen wird.
Beim Selbst geht es nicht um diese Art von Entwicklung, sondern um Entwicklung in einem anderen Prozess, den wir vielleicht Anreicherung nennen könnten.[4] In diesem Sinn verstehe ich, was der Dichter Rilke von uns Menschen sagt:
«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren
und heimsen den Nektar des Sichtbaren in die
große goldenen Honigwabe des Unsichtbaren ein.»
Ich sehe den Sinn von allem, was wir in der Zeit an Freude und Leid erleben, in einem Anreichern, einem Einbringen in diese ‹goldene Honigwabe› des Überzeitlichen. Jenseits von Zeit wird das Selbst bereichert durch alle Leiden und Freuden, die wir Zeit unseres Erdendaseins durchstehen.
Im Doppelbereich stehen wir sozusagen auf zwei Beinen, einerseits mit unserem Ich in Raum und Zeit, andererseits mit unserem Selbst im Jetzt, im überzeitlich Bleibenden.
Ich sehe meine Aufgabe in meinem hohen Alter darin, mehr und mehr das Selbst zu meinem Standbein zu machen, bis mein Ich nur mehr das Spielbein ist.
Wenn mein Ich stirbt und nicht mehr da ist, genauso wenig, wie es vorher da war, dann bleibt doch das Selbst ‒ und, im Selbst aufgehoben, jeder Augenblick meiner Zeit mit all seiner Fülle. Ich kann mir das freilich nicht bildlich vorstellen. Auch ein Embryo kann sich ja nicht vorstellen, wie man außerhalb des Mutterschoßes leben könnte. Ebenso kann sich eine Raupe nicht vorstellen, wie es sein könnte, als Schmetterling zu fliegen.»
2.6. Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft (2014): Teil II, 105-107; siehe auch Ergänzend: 1.5.
2.7. Ostergrüße 2013]
_____________________
[1] Siehe weiter unten: R. M. Rilke am 13. November 1925 in einem Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz
[2] Werner Bergengruen (1892-1964): ‹POETA CREATOR, Ein Glückwunschgedicht›, in seinem Buch: ‹Die heile Welt: Gedichte›, Zürich, im Verlag der Arche 1952, 158-162; ausführlich in Heim ‒ Heimweg: Haupttext und Ergänzend: 3.
[3] Im Buch Orientierung finden (2021), 52, engt Bruder David den Begriff ‹Entwicklung› nicht mehr auf den Entwicklungsprozess ein, den wir mit andern Lebewesen teilen. Er gibt dem Wort ‹Entwicklung› nun drei Bedeutungen:
ENWICKLUNG, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 134:
«Entwicklung ist ein Wort mit dreifacher Bedeutung. [1] Einerseits bedeutet Entwicklung Entfaltung, etwa im Hinblick auf biologische Prozesse. [2] Das Wort ‹entwickeln› kann aber auch auf Prozesse wie das Aufbauen eines Wortschatzes hinweisen. [3] Und in der Fachsprache der Photografie ist Entwicklung der Prozess, durch den ein Negativ zum positiven Foto wird. Im Sinne dieser drei Prozesse lässt sich in unsrem Lebenslauf von Entwicklung sprechen. Entwicklung bedeutet also Entfaltung, Anreicherung und Verwirklichung von Möglichkeiten. Auch im Hinblick auf Entwicklung im Sinne von Evolution kommt diesen drei Aspekten große Bedeutung zu.»
[4] Überarbeite Fassung im Sinn von Anm. 3
Wandlung will Lebendigkeit
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Wolkengestalten in ihren pausenlosen Verwandlungen
erstaunen und begeistern mich,
schon seit ich mit Kinderaugen
ihrem Dahinziehen in die Ferne folgte.
Und seither hat jeder Tag ‒
so viele Jahre und Jahrzehnte lang ‒
neue Wunder an Wolkengestalten vor mir aufgetürmt
und an mir vorüberziehen lassen.
Alles, was ich an Wandel der Welt
erleben durfte in meinem langen Leben
‒ und es war viel ‒,
fand im Wandel der Wolken sein Widerspiel.
Das Stürmen der Zeit und Stürme im Luftraum:
Stimme und Gegenstimme im Kontrapunkt
der einen großen polyphonen Musik
und darüber gewölbt Deine Stille
als ungetrübtes Blau des Himmels.Ich will lernen, mich dem Wandel
nicht zu widersetzen.
In meinem Leben kann ich so wenig aufhalten
wie am Wolkenhimmel.
Lass mich Schritthalten lernen ‒ Tanzschritt.
Amen»«Bewegung in zahllosen Formen,
das ist doch eigentlich,
was wir das Leben nennen.
Vom Kreisen der Galaxien,
Sonnen und Planeten zum Kreisen
der Falken, ihrem Hinabsausen
und dem Zappeln der Maus;
vom plötzlichen Aufblühen der
Feuerwerksraketen zum sachten Entfalten
der Wiesenblumen; vom Flug des Pfeiles
zum Fallen plumper Pflaumen,
Bewegungen von Fliehen und Erhaschen,
von Mühe und Entspannung,
Einschlafen und Erwachen.Aber auch die Bewegung aufsteigender
Dankbarkeit, sprießenden Verliebtseins,
stiller Verinnerlichung.
Verinnerlichung hinein in eine Stille,
die nicht Stillstand bedeutet,
sondern bis zum scheinbaren Stillstand
geballte Bewegung ‒
wie der Flügelschlag des Kolibris.
Aus dieser Mitte lass jede letztlich
ein Empfangen und Weiterschenken werden,
ein Geben und Nehmen zwischen Dir und mir.
Amen.»(Bruder David: Erwachende Worte (2023): ‹Meditative Gebete›, 55 und 105)
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines
Lebens, Meer, dem alles zuströmt!Zu diesem Strömen gehört auch das Fließen
meiner Lebenszeit in die Ewigkeit.
Schon jetzt ist Ewigkeit gegenwärtig in der Zeit,
so wie unsichtbares Licht gegenwärtig ist
in allem, was ich sehe.
Weil ich hier im Diesseits
Ewigkeit in der Zeit erlebe,
darf ich mir vorstellen,
dass im Jenseits Zeit in Ewigkeit aufgehoben ist.
Übergangspunkt ist meine Sterbestunde.
Wann sie kommen wird, weiß ich nicht,
aber jeden Tag durchlaufe ich diesen Punkt.
Daran will ich heute denken
und jede Stunde so vollbewusst leben,
als wäre es meine letzte. Amen.»(Bruder David: Du großes Geheimnis (2019): ‹Gebete zum Aufwachen›, 56)
Das Leben will Wandlung ‒
in immer glühendere Lebendigkeit
auf immer höheren Ebenen. (98 und 101)
Rilkes Sonett «Wolle die Wandlung» ist ein Weckruf zu wacher Lebendigkeit:
«Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.»
(Rilke: ‹Wolle die Wandlung›:
Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XII) (100)
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines
Lebens, Meer, dem alles zuströmt!Es wird mir immer klarer, dass ich
vor allem für den verschwindend kurzen
Zwischenraum zwischen einem Gedanken
und seiner Ausführung wach sein muss,
um wirklich achtsam zu leben.
In dieser haardünnen Zeitritze
scheinen Entscheidungen Platz zu haben,
auf die alles ankommt ‒
etwa die Entscheidung, ob ich ein Wort,
das mir schon auf der Zunge liegt,
sagen soll, oder es verschlucken.
Ungesagt kann ich es nachher
nicht mehr machen.
Oft wird mir das erst zu spät bewusst.
Heute will ich auf diesen Drehpunkt achten.
Amen»(Bruder David: Du großes Geheimnis, 87)
«Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte;
wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's?
Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.
Wehe –: abwesender Hammer holt aus!»
(Rilke: ‹Wolle die Wandlung›) (100)
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines
Lebens, Meer, dem alles zuströmt!An manchen Tagen scheint alles schon
beim Aufstehen zu klemmen.
Alles stockt irgendwie.
Ich kann nur tief durchatmen
und mich Dir anvertrauen,
Du Lebensstrom,
an dem mein Atmen teilnehmen darf.
Dann denke ich an alles,
was in der großen Welt draußen klemmt,
an Stellen, wo Austausch stockt
und Beziehungen brechen.
Und weil alles mit allem zusammenhängt,
kann ich überall, wo Leben nach Heilung schreit,
Dich, Du Lebenskraft, hineinatmen.
Lass das nicht eine Art Magie sein,
sondern Fürbittgebet für meine Lieben.
Amen.»(Bruder David: Du großes Geheimnis, 52)
«Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung;
und sie führt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne,
das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt.»
(Rilke: ‹Wolle die Wandlung›) (100)
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines
Lebens, Meer, dem alles zuströmt!Dieses Strömen von allem ist doch zugleich
auch ein Kreisen:
Alles kehrt zu seinem Ursprung zurück,
wie Wasser verdunstet,
aber als Regen zurückkehrt;
wie Erde sich verwandelt in Lebendiges,
das wieder zu Erde wird.
Kreisläufe vermitteln Geborgenheit.
Darum will ich in allem,
was kreist ‒ im Kreisverkehr,
in den unzähligen Rädern ‒,
nicht nur das Hinwegreißende
beachten, sondern das
im Kreislauf Ruhende.
So kann mein Anschauen den tollen Wirbel
in einen gelassenen Rundtanz verwandeln.
Heute soll Reigentanztag werden ‒
Dir zu Ehren. Amen.»(Bruder David: Du großes Geheimnis, 59)
«Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung,
den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne
will, seit sie lorbeern fühlt, dass du dich wandelst in Wind.»
(Rilke: ‹Wolle die Wandlung›) (100)
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines
Lebens, Meer, dem alles zuströmt!Du schenkst mir den Morgenwind;
der mir Stirn, Wangen und Ohren streichelt.
Er tut es ohne Absicht, hat kein Ziel.
Er weht eben.
Er ist reines Verschenken.
So wünsche ich mir mein eigenes Dasein.
Hast Du es nicht so gemeint?
Mein Leben vergeht so oder so.
Ich will es nicht auströpfeln lassen
wie Wasser durch ein Loch im Eimer.
Lass es mich willig verströmen
und freudig verschenken an alle,
die mir begegnen, und durch alles,
was ich tue ‒ am heutigen Tag
und immer. Amen.»(Bruder David: Du großes Geheimnis, 15)
«Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.
Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte;
wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's?
Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.
Wehe –: abwesender Hammer holt aus!
Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung;
und sie führt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne,
das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt.
Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung,
den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne
will, seit sie lorbeern fühlt, dass du dich wandelst in Wind.»
(Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XII) (100)
[Obiger Text ist eine Komposition mit Auszügen aus dem Buch von Bruder David und Alexandra Kreuzeder: HerzWerk (2025): ‹Freude finden mit Rainer Maria Rilkes ‹Sonette an Orpheus›,98, 100f., und Gebeten von Bruder David in Erwachende Worte (2023) und Du großes Geheimnis (2019)]
[Ergänzend:
‹Wolle die Wandlung›
1. Video Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017) und Transkription; siehe auch Abschied, der Klang des Lebens und Abschied, Wandlung, Aufheben:
(15: 36) «Und was hindert uns daran so zu überleben? So zu überstehen?
Was uns hindert ist Furcht. Furcht vor Wandel. Wir wollen, dass alles immer bleibt. Wir fürchten den Wandel. Und da sagt Rilke im Sonett: ‹Wolle die Wandlung›:
Wenn es still ist und wir uns ins Bleiben verschließen wollen, ist das nur die Stille vor dem Sturm, nur die Stille vor dem Hammer, der schon ausholt. Denn nichts kann sich dem Bleiben verschließen: das Leben ändert sich ständig. Und das macht uns Angst.»
2. Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009); siehe auch Sterben und Wandlung: Ergänzend: 1.
Vortrag:
(36:46) ‹Wolle die Wandlung›
3. Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft (2014): Audio Tag 5-1 ab (48:52), transkribiert in Teil II, 150-155.
In den Vorträgen im Haus St. Dorothea in Flüeli-Ranft vom 14.-18. September 2014 bildete dieses Sonett ‒ wie auch ‹Sei allem Abschied voran› ‒ das Herzstück dieser vier intensiven Tage.
4. Im Buch HerzWerk (2025): ‹Wolle die Wandlung› (Die Sonette 2. Teil, XII): ‹Sich nicht ins Bleiben verschließen›, 100-107:
« … ‹in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt›:
Wen erinnert das nicht an die Vorliebe antiker Meister für den Wendepunkt einer Figur in Bewegung ‒ etwa beim berühmten Diskuswerfer des Myron. Nur deshalb wirken antike Skulpturen so lebendig, weil es dem Bildhauer gelang, den Augenblick der Stille im ‹Schwung der Figur› festzuhalten ‒ ein Bild für das Jetzt, in dem der ganze Ablauf von Vergangenheit und Zukunft Gegenwart wird.» (101f.)
«Die Verweigerung der Wandlung nennt Rilke hier das Bleiben ‒ verschlossen und erstarrt ‒, das Gegenteil vom ständig sich wandelnden Leben. Aber ‹jener entwerfende Geist›, das innerste Lebensprinzip, will Lebendigkeit und kann das Erstarrte nicht dulden. Man sollte diese warnenden Verse laut lesen und die Pause nach dem ‹Wehe› erleben, um ihre Drohung hautnah zu fühlen: ‹Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte. Wehe ‒: abwesender Hammer holt aus›!
Die Stille, in die sich alles zurückzieht, was sich ins Bleiben verschließt, ist ein grau verstaubtes duckmäuserisches Stillhalten, nicht die horchende Stille, wie Tiere sie uns vorleben.[1] Sie ist die unheilschwangere Stille vor dem Donnerschlag ‒ bevor der noch abwesende Hammer niederkracht.» (102)
«Aber wenn die Verkrustung dessen zerschlagen ist, was sich ins Bleiben verschließt, kommt alles wieder ins Fließen. ... Wir dürfen uns einfühlen in dieses Uns-Ergießen und in jenes Völlig-erkannt-Werden, nach dem wir uns zutiefst sehnen. Mit dieser Haltung werden wir uns ‹entzückt durch das heiter Geschaffne› führen lassen und erst solche Hingabe wird uns so recht die Heiterkeit der Schöpfung erleben lassen. Wir werden einbezogen in den großen Reigentanz alles Geschaffenen, in dessen Kreis Anfang und Ende eins sind.» (102)
«Das letzte Bild dieses Sonetts spielt auf einen griechischen Mythos an. Die Nymphe Daphne flieht vor der ungestümen Begierde Apollos und wird von Zeus zur Rettung in ein Lorbeerbäumchen verwandelt. Rilke stellt diese klassische Ikone der Verwandlung ans Ende dieses Sonetts und wandelt zugleich dessen Anfang ab, indem er die Blickrichtung umkehrt.
Hieß es am Beginn ‹Wolle die Wandlung ... drin sich ein Ding dir entzieht›, geht es am Schluss um die Verwandelte, die sich dir durch ihre Wandlung entzogen hat, und sie will etwas von dir: ‹dass du dich wandelst›.
Meisterhaft weist Rilke durch diese Umwandlung vom Ende auf den Anfang zurück. Er tut es, scheint mir, mit einem schelmischen Lächeln. Er weiß aus Erfahrung, dass jede Daphne ‹mit Verwandlungen prunkt›, und will, dass du dich wandelst, je nachdem, wie sie sich fühlt. Wenn sie sich lorbeerartig f ü h l t, so ist es eben notwendig, ‹dass du dich wandelst in Wind›. Das stellt deine Liebe auf die Probe. Echte Liebe gibt Kraft zur Wandlung.»]
________________
[1] Im Buch HerzWerk (2025): 2. ‹Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung› (Die Sonette 1. Teil, I): ‹Orpheus und Christus›, 23 und 29:
«Tiere aus Stille drangen aus dem klaren
gelösten Wald von Lager und Genist;
und da ergab sich, dass sie nicht aus List
und nicht aus Angst in sich so leise waren,
sondern aus Hören. Brüllen, Schrei, Geröhr
schien klein in ihren Herzen.»
Weg, Wandeln, Wagnis
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
An einem Sommermorgen
Da nimm den Wanderstab,
Es fallen deine Sorgen
Wie Nebel von dir ab.Des Himmels heitre Bläue
Lacht dir ins Herz hinein,
Und schließt, wie Gottes Treue,
Mit seinem Dach dich ein.Rings Blüten nur und Triebe
Und Halme von Segen schwer,
Dir ist, als zöge die Liebe
Des Weges nebenher.So heimisch alles klinget
Als wie im Vaterhaus,
Und über die Lerchen schwinget
Die Seele sich hinaus.Theodor Fontane: Guter Rat
Der Wanderer, den Fontane beschreibt, ist guten Mutes, weil die Liebe an seiner Seite wandert. In seinem Vaterhaus ist der Himmel das Dach. Die Welt ist seine Heimat. Er fühlt sich aufgehoben im Welthaushalt, er kennt seinen Platz und seine Seele fühlt sich fast unbesiegbar.[1]
Wieder und wieder finden wir in der Bibel ein Bild für die Abenteuer des Herzens: das Bild des Weges. Das Bild erhält noch tiefere Bedeutung, wenn wir uns daran erinnern, dass in der Bibel Weg immer Pilgerweg bedeutet.
Es ist der Weg, auf dem uns überraschenderweise der nächste Schritt schon zum Ziel führen kann, während das Ziel sich, auf ebenso überraschende Weise, als nur der nächste von vielen weiteren Schritten herausstellen kann.
Das Bild des Weges sagt uns, dass wir uns nicht fürchten müssen, die Ungebundenheit der Suche zu verlieren, selbst wenn wir finden. Wir müssen uns aber auch nicht fürchten, die Freude am Gefundenen zu verlieren, selbst wenn die Suche immer weiter geht.
In seinen «Four Quartets» spricht T. S. Eliot von dem Paradox
«still sein und dennoch vorangehen»,
dem Paradox der Hoffnung.
Seine Einsichten sind so klar und so treffend ausgedrückt, dass ich hier gerne ein paar von Eliots poetischen Zeilen in meine eigenen tastenden Versuche, über Hoffnung zu sprechen, einfügen möchte:
Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften
Und das Ende unseres Kundschaftens
Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen
Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V[2]
«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften», weil «auf dem Weg sein» das Unterwegs sein bedeutet.
Es spielt kaum eine Rolle, ob wir uns auf der falschen oder der richtigen Straße niederlassen. Solange wir sitzen, sind wir nach nirgendwo hin auf dem Weg. Wann immer wir uns bequem niedergelassen haben, sagt Gott:
«Eure Wege sind nicht meine Wege.» (Jesaja 55,8)
Das lässt die Illusion von Sicherheit zerbrechen und wirft uns wieder hinaus auf die kalte, dunkle Straße. Und das ist ein Segen. Arg wäre es, wenn Gott uns uns selbst überließe, bis uns übel würde von dem, was wir am meisten wünschten.
Im Gefundenen steckenzubleiben ist nicht besser als beim Suchen uns selbst zu verlieren.
Früher oder später werden wir erkennen,
dass nicht unser Finden wirklich zählt,
sondern unser Gefundenwerden.
Wir werden sehen, dass es nicht darauf ankommt, dass wir den Weg kennen, sondern dass wir an unserem Gehen erkannt werden.
Biblisch ausgedrückt heißt das:
«Es kennt der Herr den Weg des Gerechten» (Psalm 1,6),
und das ist es, was zählt.
Als Pilger haben wir ein Ziel. Aber der Sinn unserer Pilgerschaft hängt nicht davon ab, dass wir dieses Ziel erreichen.
Wichtig ist, dass wir in unserer Hoffnung offen bleiben,
offen für die Überraschung,
denn Gott kennt unseren Weg viel besser als wir selbst.
In diesem Wissen kann unser Herz Ruhe finden,
auch während wir weiterwandern.
Hoffnung als die Tugend des Pilgers vereint Stille mit Bewegung.[3]
An dem ruhenden Punkt der kreisenden Welt.
Weder Körper noch Geist,
Weder Hin noch Her;
Am ruhenden Punkt,
da ist der Tanz,
Weder einhalten noch Bewegung.
Und nenn es nicht Stillstand,
Wo Vergangenes und Künftiges zusammenfallen.
Bewegung weder hin noch her,
Weder Steigen noch Fallen.
Wäre der Punkt nicht, der ruhende Punkt,
so wäre der Tanz nicht,
und es gibt nichts als den Tanz.T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, II
Die Zeit um die es hier geht, ist nicht unsere Zeit, aber eine Zeit, die wir in den großen Rhythmen des Lebens entdecken und der wir uns hingeben können auf unserem Weg zum Sinn.[4]
Gegenwärtig zu sein, bedeutet,
zur Wirklichkeit des Ortes aufzuwachen.
Wenn nicht hier, wo sonst?
Wann, wenn nicht jetzt?[5]«Das Ziel hienieden
Den meisten von uns unerreichbar,
Wir, die nur unbesiegt bleiben,
Weil wir es stets aufs Neue versuchten.»«Für uns gilt nur der Versuch
Der Rest ist nicht unsere Sache.»T. S. Eliot: Four Quartets[6]
Johannes Kaup: «Jesus sagt:
‹Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.› (Joh 14,6)
Ist das nicht ausschließlich gemeint?»
Bruder David: «Der Weg, um den es hier geht, ist der Weg zu Gott, der Weg ins große Geheimnis hinein. Wer auf diesem Weg ist, der verwirklicht dadurch das Christus-Selbst.
Wenn Jesus Christus bei Johannes sagt, ‹Ich bin der Weg›, so heißt das nicht: ‹Ich bin unter all den vielen Wegen der einzige, der ans Ziel führt.› Es muss vielmehr heißen:
‹Wer sich auf den Weg macht,
der ist auf dem Weg zur Verwirklichung des Christus-Selbst.›
Um aber auf dem Weg zu sein, muss ich mich auf den Weg machen. Auf diese Bewegung kommt es an. Beim Straßenschild faul herumzusitzen, heißt nicht, auf dem Weg zu sein, auch wenn ich den Namen auf dem Schild für den einzig richtigen halte. Auf den Straßennamen kommt es nicht an.
Wer immer sich aufmacht und geht, ist auf dem Weg.
Wer immer die Wahrheit sucht, findet mich ‒
das heißt, die Christuswirklichkeit in seinem Innersten;
und wer diese findet, findet Leben in Fülle.»[7]«Weg und Ziel zeigst Du mir nicht nur an,
Du großes Geheimnis im Herzen des Lebens,
Du b i s t mir beides.Als Weg erfahre ich Dich am richtungsweisenden Fließweg des Lebens,
dem ich mich anvertrauen darf wie ein Schwimmer dem Strom.Als Ziel erkennt Dich die Strömung in meinem Inneren mit ihrem geheimnisvollen Sog, der mir zuraunt: ‹Heim zum Vater!›
Lass mich nicht erschlaffen beim Schwimmen,
nicht schlapp dahintreiben wie Schwemmholz,
sondern wendig werden wie ein Fisch.Mach mich achtsam für den leisesten Hinweis,
den mir das Leben ‒ den D u mir gibst.
Und lass mich täglich fröhlicher werden,
weil ich ja auf dem Heimweg bin zu Dir. Amen.»[8]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-8]
[Ergänzend:
1. T. S. Eliot: Four quartets
1.1. Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription; siehe auch Zeit der großen Glocken
1.2. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsreferat, Vortrag:
(15:08) Hungern nach Weisheit und Sinn – Unruhig ist unser Herz (Augustinus) – Wir lassen niemals vom Entdecken / Und am Ende allen Entdeckens / Langen wir, wo wir losliefen, an / Und kennen den Ort zum ersten Mal. / Durchs unbekannte, erinnerte Tor (T.S. Eliot)
Im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens (1992) ist dieser Vortrag abgedruckt unter dem Titel Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen. Siehe S. 21f.
1.3. T. S. Eliot in Stillehalten und Zeit der großen Glocken
2. Abraham, der «Vater unseres Glaubens»
2.1. «Verlass dein Land!» (1 Mose 12,1)
Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg:
(28:06) In die Zukunft hineingehen ohne noch klar sehen zu können, wie die Landschaft ausschauen wird – Geh hinaus in das Land, das ich dir zeigen werde (Die Berufung Abrahams, 1 Mose 12,1)
Im Buch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 83, [bzw. Fülle und Nichts (2015), 81f.]:
«‹Verlass dein Land!› sind Gottes erste Worte an Abraham, der erste Vers aus Kapitel 12 der Genesis. ‹Geh hinaus!› lautet die Herausforderung. ‹Wage dich vor!› Die deutsche Übersetzung erlaubt es kaum, die volle Wucht dieser Aufforderung auszudrücken. Und dann türmt sich Bild auf Bild, um dieses Wagnis für Abrahams Mut so herausfordernd wie möglich zu machen: ‹Verlass dein Land und deine Verwandtschaft und deines Vaters Haus.› Und wohin soll er gehen?
‹… in das Land, das ich dir zeigen will.›
Weder eine Karte, noch eine Richtung, noch der Name seines Ziels werden Abraham gegeben. Es ist, als sagte Gott:
‹Vertrau Mir! Ich bringe dich hin.
Alles was du brauchst, ist der Mut hinauszugehen
und alles hinter dir zu lassen.›
So und nur so wird Abraham zu unserem Vater im Glauben. Und fast nebenbei erfahren wir hier, wie alt Abraham war, als er sich im Glauben auf den Weg machte: fünfundsiebzig! Das ist nicht unbedingt ein Alter, in dem sich Menschen besonders abenteuerlustig fühlen. Es muss Abraham einiges an Vertrauen und Mut gekostet haben.»
2.2. «Wandle vor mir und sei vollkommen!» (1 Mose 17,1)
Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 15f.; siehe auch Sterben und Wandlung:
«In diesem Wort an Abraham ist schon, wie in einem Samen, das ganze Wagnis der Heilsgeschichte beschlossen. Das Wagnis liegt einfach darin, vor Gott zu wandeln, sich dem Wort zu stellen.
Es heißt ja nicht: Wandle vor mir und nimm dich jetzt zusammen, wirklich vollkommen zu sein, denn ich werde dich beobachten!
Es heißt: wandle vor mir und sei vollkommen! In einem Parallelismus, in dem die zweite Hälfte dasselbe aussagt wie die erste: Wandle vor mir; das ist schon Vollkommenheit. Setze dich mir aus, darin liegt das Wagnis der Vollkommenheit.»
3. «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.» (Joh 14,6)
Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 299f.; siehe auch Jesus, der Christus: Ergänzend: 5.:
«Dieser Tage bekam ich ein Flugblatt in die Hand. Ich bewundere die jungen Menschen, die es verteilt haben. Sie haben sich wirklich getraut, für ihre Überzeugung einzutreten. Aber der Inhalt dieses Blattes zeigt mir, dass sie in ihrem Glauben nicht weit genug gegangen sind, zumindest nach christlichem Maß. Denn das Blatt besteht aus Bibelzitaten, und das sollte uns schon zu denken geben. Ist die Bibel für Christen ein Handbuch, aus dem man Sätze herauszieht, mit denen man seine Gesprächspartner bestenfalls überzeugt und schlimmstenfalls mundtot macht? Oder ist die Bibel Wort, das mich persönlich jetzt und hier herausfordert? Heraus-fordert, aus was heraus? Aus der Angst in den Glauben! Aus der Angst in das Vertrauen.
Ich lese gleich am Anfang: Jesus Christus spricht: ‹Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben› (Joh 14,6).
Ich würde es als gläubiger Christ sehr unter der Würde dessen, was wir als Christen von Jesus Christus glauben, halten, dass wir ihn nur als einen von vielen Wegen darstellen. Was heißt es denn, auf dem Weg zu sein? Auf dem Weg sein, heißt, sich bewegen. Jeder, der sich vorwärtsbewegt nach jenem Kompass des Herzens, der immer auf Gott weist, der ist auf dem Weg. Der ist also auf dem Weg, den wir als Christen ‒ Gott sei Dank ‒ als Jesus Christus kennen. Aber es ist viel weniger wichtig, dass man den Namen kennt, als dass man auf dem Weg ist. Christus, der Weg, kennt alle, die sich auf den Weg gemacht haben.»
4. «Fahre zu! Ich mag nicht fragen, / Wo die Fahrt zu Ende geht!» (Joseph von Eichendorff: «Frische Fahrt»), siehe Fragen des Lebens
5. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsreferat Vortrag:
(24:59) ‹leiden› und das ‹Leid(ige)› unterscheiden: Mit oder gegen den Strich gehen / (29:12) leiden, leiten, Lotse: Die leitende Kraft ist das Leben selbst
Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen, 23f., sowie im Haupttext in Leiden und das Leidige:
«Die Lebensreise ist das Leiden.
Das überrascht uns vielleicht, besonders, wenn wir noch jung sind.
Es ist aber auch in der Philosophie, die in unserer Sprache enthalten ist, völlig klar angelegt. Leiden heißt ursprünglich gehen, fahren, reisen.
Leiden hatte nichts mit e r leiden zu tun.
Das Leiden, das ursprünglich fahren, reisen, gehen bedeutete, kommt von e i n e r Wurzel her, und das Leid (das Leidige) ist ein anderes Wort, das ursprünglich das W i d e r w ä r t i g e bedeutete. Langsam vermischen sich die beiden Wörter.
Erst, wenn wir wieder sehen, dass Leiden gar nicht unbedingt etwas Leidiges sein muss, beginnen wir darüber nachzudenken, was denn das Leiden leidig macht.»
6. Eng ist der Weg (2005); siehe auch Leiden als Mitleiden: Ergänzend: 4.:
«S.H. der Dalai Lama antwortete, indem er sagte: ‹So leicht ist es nicht. Leiden wird nicht dadurch überwunden, dass man die Schmerzen einfach hinter sich lässt; Leiden wird überwunden, indem man den Schmerz für andere trägt.› Und dies ist eine von diesen Antworten, welche sowohl christlich wie buddhistisch ist. Es ist eine grundlegende Aussage, die aus der Tatsache kommt, dass die Enge der Pfad ist.»]
___________________
[1] Erkenntnis (2023): ‹In der Welt zu Hause sein›, 112f.
[2] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V; siehe auch Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Spiegel des Herzens› (2021), 129, und Stillehalten
«We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.»
[3] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114f., [bzw. Fülle und Nichts (2015), 114f.]; siehe auch ST 151 unter dem Titel ‹Ziel›
[4] Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) (26:00) und Transkription; siehe auch Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Spiegel des Herzens› (2021), 112, und Stillehalten
T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, II:
«At the still point oft he turning world. Neither flesh nor fleshless;
Neither from nor towards; at the still point, there the dance is,
But neither arrest nor movement. And do not call it fixity,
Where past and future are gathered. Neither movement from nor towards,
Neither ascent nor decline. Except for the point, the still point,
There would be no dance, and there is only the dance.»
[5] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Die Umwelt als Guru› (2021), 26 und 28; siehe auch Zeit der großen Glocken
[6] Ebd. 30; siehe auch Stillehalten und Zeit der großen Glocken
T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V:
«For most of us, this is the aim
Never here to be realised;
Who are only undefeated
Because we have gone on trying.»
T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V:
«For us, there is only the trying. The rest is not our business.»
[7] Das glauben wir (2015): ‹Spiritualität für unsere Zeit›: Bruder David im Gespräch mit Anselm Grün, 69 (Frage von Johannes Kaup) und 70f. (Antwort von Bruder David)
Siehe auch: Die Weisheit, die alle verbindet (2010):
(04:29) ‹Wir können uns im Schweigen in den Abgrund Gottes hinunterlassen ohne Ende, nie wird ein Echo zurückkommen› (T. S. Lewis) ‒ jede Tradition kennt das Selbst, das uns alle verbindet, die göttliche Wirklichkeit tief in uns: das Christus-Selbst, die Buddha-Natur, Purusha, I’itoi
[8] Erwachende Worte (2023): 11 ‒ Weg, 39; siehe auch Fließweg und Gewissen
Wiedergeburt
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Ein Grund, warum die christliche Tradition mich immer davon abgehalten hat, mich mit Reinkarnation zu beschäftigen, hat weniger mit Glaubenslehre als mit spiritueller Übung zu tun. Die Endgültigkeit des Todes soll uns zu einer Entscheidung herausfordern, der Entscheidung, jetzt und hier vollkommen gegenwärtig zu sein und so ewiges Leben zu beginnen. Denn Ewigkeit ist richtig verstanden nicht die Aufrechterhaltung von Zeit, in einem fort, sondern eher die Überwindung von Zeit durch das Jetzt, das nicht vergeht. Aber wir suchen immer nach Möglichkeiten, die Entscheidung hinauszuschieben.
Wenn du also sagst: «Oh, nach diesem werde ich ein weiteres Leben haben und noch ein weiteres Leben», dann lebst du vielleicht nie, sondern schleppst dich immer halb tot weiter, weil du dich nie dem Tod stellst.
Don Juan sagt zu Carlos Castaneda: «Du bist so mürrisch und nicht vollständig lebendig, weil du vergisst, dass du sterben wirst; du lebst, als würdest du für immer leben.» Wie ich es verstehe, hilft uns das Gewahrsein des Todes, die Entscheidung zu treffen. Don Juan hebt den Tod als Ratgeber hervor.
Der Tod macht uns zu Kriegern. Wenn du dir bewusstwirst, dass der Tod sich genau über deiner linken Schulter befindet und du ihn dort sehen kannst, wenn du dich schnell genug herumdrehst, dann macht dich das lebendig und wachsam in Bezug auf Entscheidungen. [ST 146, Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]
Würde, Rückgrat, Scham
Text, Videoe und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Würde» ist mit dem Wort «Wert» wurzelverwandt. Dingen, die nur vereinzelt vorkommen, messen wir Seltenheitswert bei. Wer erkennt, dass jedes Ding, jedes Lebewesen, jedes Ereignis nicht nur selten, sondern einzigartig ist, wird sich der Würde bewusst, die allem, was es gibt, zukommt und wird ehrfürchtig durch das Leben gehen. Auch jedem Menschen steht diese Grundwürde zu. Wer dies erst einmal entdeckt, wird sich seiner eigenen Würde bewusst und weiß, dass sie nicht von der Anerkennung anderer abhängt. Ein solcher Mensch hat Rückgrat, geht aufrecht und weiß, was unter seiner Würde ist.
Das ist die Innenansicht von Menschenwürde. Es gilt dieses Grundverständnis von Würde festzuhalten, zugleich aber oberflächlichere und doch sehr wichtige Wertunterschiede anzuerkennen. Nur so können wir öde Gleichmacherei vermeiden. Es gibt eine Hierarchie der Werte. Für diese in vielen Bereichen der Kultur feinfühlig zu werden, kann unser Leben nachhaltig vertiefen und bereichern.
Unter dem Schlüsselwort «Würde» erwägen wir die Grundwürde, die jedem Menschen zusteht. Leider sind viele Menschen sich dieser Würde nicht bewusst. Um im Bewusstsein seiner Menschenwürde aufzuwachsen, braucht ein Kind zweierlei: die Erfahrung, bedingungslos geliebt zu sein, und die Erfahrung, in seiner Einzigartigkeit anerkannt, bejaht und unterstützt zu werden.
Weil dies heute vielen Kindern nicht zuteilwird, gibt es mehr und mehr Menschen, die sich wertlos und erniedrigt fühlen. Für Erwachsene, die nicht von Kindheit an ins Bewusstsein ihrer Menschenwürde hineinwachsen konnten, ist es schwierig, dies nachzuholen. Jedoch: Das Leben schenkt uns, was wir dazu brauchen. Wir gehören bedingungslos der Gemeinschaft der Lebenden an. Das heißt, das Leben liebt uns und bejaht uns in unsrer Einmaligkeit. Darauf dürfen wir uns verlassen. Dies zu bedenken, kann eine große Hilfe sein.
Menschenwürde ‒ unsre eigene und die jedes Menschen ‒ gehört heute unweigerlich zum Lehrstoff der Grundausbildung. Aber das Elend in unsrer Welt macht es für manche Menschen nahezu unmöglich, sich geliebt und anerkannt zu fühlen. Das Verbrechen gegen die Menschenwürde, das Not und Elend in der Welt darstellen, fordert die ganze Menschheitsfamilie heraus. Das Elend abzuschaffen, liegt laut Experten in realistischer Greifweite. Diese Aufgabe unverzüglich in Angriff zu nehmen, verlangt daher die Menschenwürde.[1]
Rückgrat
Rückgrat bedeutet zunächst rein anatomisch die Wirbelsäule, wird aber in verschiedenen übertragenen Bedeutungen für wichtige spirituelle Aspekte verwendet. Wer Rückgrat hat, erweist sich als selbstsicher und charakterstark. Menschen mit Rückgrat stehen zu ihren Grundsätzen, auch gegen Widerstand und unter Druck. Jemandem das Rückgrat brechen, das heißt, jemanden lahmlegen und ihm die Widerstandskraft nehmen. So wie wir durch Sport die Gelenkigkeit unsrer Wirbelsäule trainieren können, so können wir auch unser Rückgrat durch spirituelle Übungen trainieren.
Der Begriff «Rückgrat» eignet sich auch dazu, über einen Bewusstseinswandel zu sprechen, der in unsrer Zeit stattfindet. Es gab in der Entwicklungsgeschichte Jahrmillionen vor der Entstehung des inneren Skeletts, zu dem die Wirbelsäule gehört, ein sogenanntes äußeres Skelett, wie wir es heute noch als Panzerkruste von Krabben und Krebsen sehen können und als Chitin-Panzer von Käfern.
Ein äußeres Skelett gibt dem Körper Schutz und Stütze, macht aber die Bewegung schwerfällig. Denken wir nur an einen Laufkäfer, der auf dem Rücken liegt, mit den Beinen strampelt und sich nicht aufrichten kann. Durch ein inneres Skelett gewinnt der Körper eine ganz neue Beweglichkeit.
Wir erleben heute einen psychischen Entwicklungsschritt, der vergleichbar ist mit dem Schritt vom inneren zum äußeren Skelett in der physischen Evolution. Bis vor Kurzem war das ethische Tun und Lassen in unsrer Gesellschaft durch Verhaltensvorschriften bestimmt, die als allgemeinverbindlich galten und das Leben der Einzelnen ‹von außen› her bestimmten. Diese gesellschaftlichen ethischen Bindungen sind weitgehend verlorengegangen. In Zukunft werden wir sie, auf uns selbst gestellt, durch Rückgrat ersetzen müssen. Das verlangt von uns, dass wir uns als Einzelne unsrer ethischen Grundsätze klar bewusstwerden und überzeugt für sie einstehen. Wenn uns das gelingt, wird es dem Schritt vom Panzer zur Wirbelsäule vergleichbar sein, der selbst das Tanzen möglich macht. Die Weltgeschichte bietet uns leuchtende Beispiele von prophetischen Gestalten, die mit Rückgrat auftraten. Hildegard von Bingen setzte sich als Frau gegen eine Welt herrischer Männer durch und Katharina von Siena wies dem Papst mild und ehrerbietig, aber entschieden seinen Platz an.[2]
Ehrfurcht und Scham
(Bruder David am Schluss seines Vortrags Menschenwürde (2019); siehe auch Audio ‹Die Würde des Menschen›:)
(45:52) «Und da kommen wir zu einer Definition von Würde, und da könnte man sagen: Würde ist der unbedingte Wert jedes einzelnen Menschen als Repräsentant des großen Geheimnisses; so stellt sich das große Geheimnis dar.
Und was meine ich mit Geheimnis? Das ist gar kein so geheimnisvoller Begriff, das lässt sich ganz klar sagen: Unter Geheimnis verstehen wir eine Wirklichkeit, die wir nicht begrifflich erfassen können, wohl aber durch ihre Wirkkraft auf uns verstehen können. Das große Geheimnis können wir verstehen, wenn es u n s ergreift.[3]
Bernhard von Clairvaux sagt: ‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise.›[4] Und wir wissen alle zum Beispiel, dass man Musik nicht analytisch begreifen kann, aber man kann sie verstehen, wenn sie einen ergreift. Und das ist ein Beispiel von dem großen Geheimnis, das uns ergreift und unsere Beziehung zu diesem großen Geheimnis.
Und wir sind Repräsentanten dieses großen Geheimnisses, denn wir sind uns selber ja Geheimnis. Wir können uns selber nicht ausloten: du kannst dich verstehen, aber nicht begreifen. Also bist du dir selber Geheimnis und die ganze Umwelt und die ganze Mitwelt.
Und vor diesem großen Geheimnis des Lebens tragen wir Verantwortung. Das gehört unbedingt zur Würde dazu. Wir haben unbedingten Wert, weil wir Repräsentanten dieses großen Geheimnisses sind, und haben davor Verantwortung. Da kommen alle anderen Menschen, alle anderen Bereiche dazu; diese Verantwortung lässt sich nicht trennen von der Würde. Wer Würde hat, der hat Verantwortung, ist sich verantwortungsbewusst.
Verantwortung bedeutet, dass wir so leben, dass wir jeden Augenblick ‒ idealerweise ‒ den Anruf des Lebens hören. Denn das Leben gibt uns jeden Augenblick etwas Neues, das kann man als einen Anruf verstehen, weil es auch etwas von uns will. Meistens ist es sehr angenehm: es will nur, dass wir uns daran freuen ‒ meistens ‒, hie und da auch sehr schwierige Dinge, und wir müssen antworten. Und das ist Verantwortung im letzten Sinn.
Der große russische Philosoph Ende des 19. Jh., Wladimir Solowjow,[5] spricht von drei Haltungen, die uns wirklich zu Menschen machen, und das hat sehr mit der Würde zu tun.[6]
Und das Erste ist: Die Ehrfurcht vor dem großen Geheimnis. Wir erleben das meistens in unseren besten und lebendigsten Augenblicken, in unseren Gipfelerlebnissen, zugleich mit Furcht und Begeisterung. Wir sind zugleich angezogen und erschrocken in diesem Doppelereignis, wenn wir in einem großen Gewitter sind oder in den Bergen.[7] Diese Ehrfurcht ist nicht Furcht.[8]
Das Zweite, was uns zu Menschen macht ‒ gegenüber der Umwelt und Mitwelt ‒, ist Mitgefühl: ‹Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu›.[9]
Und das dritte ‒ uns selbst gegenüber ‒, sagt Solowjow, ist Scham. Das ist ein erstaunliches Wort, das er hier verwendet: es schützt unsern Intimbereich. Es hat mir unserer Würde zu tun, indem ich mich schäme, mich unwürdig zu benehmen. Die Scham behütet meine Einzigartigkeit, während das Mitgefühl meine Zugehörigkeit betont. Und die Ehrfurcht ist die Grundlage für Mitgefühl und Scham.
Und in unserer Gesellschaft ist das Bewusstsein der Würde weitgehend verlorengegangen. Das sagen alle, die sich mit diesem Begriff der Würde beschäftigen, und warum? Es gibt sicher viele Gründe; einer, der mir in die Augen sticht, ist unsere Vereinzelung. Die Vereinzelung ist das Gegenteil vom Bewusstsein der Zugehörigkeit. Viele Menschen erleben das als Einsamkeit, man kann es aber in diesem Zusammenhang als etwas sehr Positives sehen: Wir haben unsere Eigenständigkeit gefunden: das war ungeheuer schwierig, dafür haben Generationen unserer Vorfahren viel bezahlt an Energie und Leid, dass wir nicht einfach Teile der Gesellschaft sind, sondern eigenständige Wesen. Das ist etwas sehr Wichtiges. Aber wir haben das soweit getrieben, dass unsere Verbundenheit zu den anderen verlorengegangen ist.
Und jetzt stehen wir vor dem nächsten Schritt, dass wir alles das Positive, das durch unsere Eigenständigkeit erworben wurde, mitnehmen und die Verbundenheit wieder erleben und diese Verbundenheit l e b e n. Das ist die große Aufgabe.
Das Ziel ist eine Gesellschaft, in der jeder Mensch gewürdigt wird, und zwar als Person, nicht als Nummer oder Fall. Und Person ‒ das Wort kommt vom lateinischen Wort ‹persona›, der Maske, die die Schauspieler in Athen und Rom getragen haben, und heißt eigentlich ‹das Durchtönende›: ‹per-sonare› heißt durch-tönen.[10] Und wir sind Person, weil durch uns das große Geheimnis sich ausdrückt und wir aufeinander horchen und das Geheimnis durchtönt durch uns.
Und C. F. Lewis schreibt einmal: Wenn wir wirklich einen anderen Menschen sehen könnten mit offenen und gesunden Augen, wären wir so hingerissen, dass wir niederfallen würden und anbeten ‒ irgendeinen Menschen. Weil das große Geheimnis durch j e d e n Menschen durchtönt. Und das ist letztlich Grund unserer Würde.»
Am Schluss des Vortrags ermutigt Bruder David alle, die zuhörten, einen Entschluss und Vorsatz zu fassen, und «der Entschluss kann nicht kräftig genug sein, und der Vorsatz kann nicht spezifisch genug sein: d a s werde ich tun ‒, etwas ganz Kleines, zum Beispiel: Ich werde die anderen anders anschauen und sie anlächeln.»[11]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f. und 11]
[Ergänzend:
1. Videose
1.1. Vom Ich zum Wir: Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021): Videointerview von Egbert Amann-Ölz mit Bruder David; siehe auch Transkription des Videointerviews unter dem Titel: Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität, 3:
«Und das Leben zeigt uns auch, dass es uns anerkennt. Das Leben stellt keinerlei Bedingungen – keinerlei Bedingungen: Du atmest, du lebst, du wachst am Morgen wieder auf, nicht unter der Bedingung, dass du dich angepasst hast, sondern das Leben anerkennt dich wie du bist.»
1.2. Würde ‒ was wären wir ohne sie? (2018); Übersicht über die Themen des Gesprächs und Auszüge aus dem Buch Der Stehaufmann, 195:
«In meinem Leben habe ich selten Geborgenheit erlebt, die ja mehr ist als nur die Sicherheit äußerer Rahmenbedingungen. Als Kind wurde ich, weil ich mich seelisch nicht geborgen fühlte, immer wieder krank oder überspielte diese Leere, auch noch als Jugendlicher durch Ungezogenheit.»
2. Audios
2.1. Menschenwürde (2019); ebenso im Audio ‹Würde und unsere Einzigartigkeit›:
(38:35) «Wer Würde erlebt und Würde hat, ist unbestechlich, ist unverführbar. Zur Würde gehört: Ich weiß, was ich tue, ganz gleich, ob das andere tun oder nicht. Und da ist eben schon von Kindheit an der Gruppendruck sehr stark in die gegenteilige Richtung.
Um es nochmals zusammenzufassen: Ich gehöre dazu zu dem Ganzen. Die Evolution hat mir ein Heim bereitet.[12] … Es ist etwas ganz Außergewöhnliches, dass unser Planet wie ein Heim vorbereitet ist, um uns zu empfangen. Und das Leben erhält mich am Leben.
Das Leben, diese geheimnisvolle Wirklichkeit: Wir sprechen so leicht über das Leben: ich habe mein Leben, ich nehme mir das Leben, ich kann mir das Leben nehmen. ‒
Hast du wirklich das Leben, oder hat das Leben dich? Vielmehr: das Leben hat mich! Ich könnte keinen Augenblick überleben, wenn nicht das Leben mich am Leben erhielte.»
(44:39) «Ich bin in das Geheimnis des Lebens eingebettet, engstens verschlungen, verwoben: wir können gar keinen genügend starken Ausdruck finden, wie eng wir in das Leben eingebunden sind.
Und offensichtlich will das Leben mich so, als mich entfaltend in meiner Eigenart, weil: dieses so ist nicht statisch, es will mich so in meiner Eigenart, die bis zum letzten Augenblick noch nicht völlig entfaltet ist. Rumi sagt: ‹Niemand wird meinen wirklichen Namen kennen› ‒ das heißt, niemand wird wissen, wer ich wirklich bin ‒, ‹bevor mein letzter Atemzug ausgegangen ist›, weil ich es selber nicht weiß; und alles das gilt auch von allen anderen Lebewesen.»
2.2. Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Erstes Kamin-Gespräch mit Bruder David; siehe auch Übersicht über das Gespräch mit Kurzvortrag von Bruder David:
(06:26) «Vor 100 Jahren war Würde ein Wort, das jeder ständig im Mund führte. Und damit hängt zusammen: Scham. Also ‹unwürdig› und ‹unverschämt› gehören da zusammen. Und wir haben das Gefühl der Scham völlig verloren.
Wladimir Solowjow, der große russische Denker des späten 19. Jahrhunderts, schrieb: Was uns als Menschen charakterisiert, was uns vom Tier unterscheidet, ist Ehrfurcht vor dem großen Geheimnis, Mitgefühl ‒ mit allen Menschen, Tieren, Pflanzen, mit dem ganzen Universum ‒, und Scham. Scham, unsere Würde nicht zu verletzen.
Mitgefühl ist in aller Munde und Ehrfurcht ist spirituellen Menschen recht verständlich, aber Scham muss heute wieder sehr unterstrichen werden.»
2.3. Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamin-Gespräch mit Bruder David; siehe auch Jeder Augenblick enthält so viele Überraschungen (2019): Interview mit Bruder David von Sabine Schüpbach und Lebensvertrauen: Ergänzend: 4.1.:[13]
(26:55) «Das Wesentliche an der Ethik ist, Augenblick für Augenblick hinzuhorchen: was will das Leben jetzt von mir, und verantwortlich das zu tun. Sehr häufig wird diese Verantwortung nicht so klar gesehen.
Aber wenn man das übt, wenn man sich dessen bewusst ist: ich möchte in Gott und mit Gott leben ‒ das heißt, in diesem Augenblick begegnet mir Gott ‒, da muss ich mich immer wieder bemühen, zunächst einmal aufzuwachen: Was will jetzt dieses Leben von mir? Und das ist manchmal nicht so klar zu sehen. Da muss man halt das Beste tun, und wenn es ein Fehler war, den ändern, aber doch hinhorchen und auch vertrauen, dass das Leben jeden Augenblick etwas von uns verlangt, und zwar oft sehr angenehme Sachen. Das Leben ist ja nicht ein ganz so strenger Lehrer, es sagt fast in jedem Augenblick: Freu dich doch, und wir sind anderweitig beschäftigt.[14] Und auch, wenn andere Sachen dazukommen ‒ ja, das ist wirklich schwierig: du kannst ja doch noch tief durchatmen ‒ das ist ja auch ein Geschenk, viele Menschen können nicht anständig atmen, du kannst jetzt atmen ‒, und trotzdem, mit der ganzen Belastung: tu’s doch! Das ist auch eine Antwort auf die Herausforderung des Lebens.»
2.4. Eine Kultur der Ehrfurcht neu entdecken (2023): Audio-Gespräch von Jörn Florian Fuchs mit Bruder David:
(05:47) «Das Leben lebt u n s. Das Herz dieses Lebens ist das große Geheimnis. Es atmet uns, das ist christlich gesprochen der Heilige Geist. Der Geist Gottes atmet in uns. Und ich nenne es lieber das große Geheimnis, als von Gott zu sprechen, obwohl es genau dasselbe ist, aber das Wort Gott wurde so missbraucht, auf so viele Weise ‒ ich habe selber Hitler als Kind noch von Gott reden gehört. Gott nenne ich es unter dem Aspekt, dass wir zu diesem Geheimnis eine ganz enge Beziehung haben. Dass es zu uns spricht und wir zu diesem Geheimnis sprechen können.»
(17:08) «Ich glaube ‒ das ist eine durch viel Überlegen und viel Studium unterbaute Meinung ‒, dass unsere Zukunft ‒ ob wir eine Zukunft haben ‒, überhaupt davon abhängt, ob wir den Zugang zum großen Geheimnis, also eine Kultur der Ehrfurcht, dadurch auch Ehrfurcht vor anderen Menschen ‒ der Würde der anderen Menschen ‒, wieder finden.
In der Geschichte, wenn wir auf die Jahrhunderte zurückschauen, war es auch nicht so rosig. Wo Menschen sind, war es immer schon recht grausam, kann man nur sagen. Aber ein ganz wichtiger Unterschied, ein Bruch, zeigt sich mit dem Ende des ersten Weltkriegs. Und das steht mir persönlich ja noch sehr nahe: acht Jahre war der Weltkrieg vorbei, wie ich geboren wurde. Also ich habe noch die vielen Verwundeten gekannt, damals es hat ja nur so gewimmelt von einarmigen und einbeinigen Menschen und Blinden und Tauben, davon waren ja tausende und hunderttausende in Wien, ich habe das noch mitbekommen irgendwie. Auch den Umbruch. Ein Umbruch von einer grundsätzlich ehrfürchtigen Haltung dem Leben gegenüber zu einem oberflächlichen Dahinleben, das diese Ehrfurcht verloren hat. Es ist etwas Schreckliches. Und zurückbringen kann man nichts, man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen, aber was mir am wichtigsten und entscheidendsten erscheint, wenn wir auf die Zukunft hinschauen, ist, dass wir Ehrfurcht vor dem Leben und vor der Natur und vor den anderen Menschen und Tieren ‒ Ehrfurcht vor der Würde des Lebens ‒, wieder finden oder neu entdecken, sonst ist unser Weiterleben als Menschheit eigentlich sehr zweifelhaft.»
(22:12) «Ich habe Hoffnung. Aber Hoffnung ist etwas anderes wie Hoffnungen. Hoffnung im spirituellen Sinn, heißt: Offenheit für Überraschung. Und mit dieser Offenheit für Überraschung durchs Leben zu gehen ‒ privat, ganz persönlich ‒, ist sehr, sehr hilfreich. Denn, wenn wir Hoffnungen haben: die machen wir ja uns immer selber. Aber Offenheit für Überraschungen ist Offenheit für das, was das Leben uns schenkt. Und diese Offenheit macht uns so bereit, kreativ mit dem, was uns gegeben wird, umzugehen. Und das ist das Entscheidende. Also wenn es noch viel ärger kommt, als ich es mir überhaupt vorstellen kann, bin ich überzeugt: es wird das Beste sein. Denn das Leben weiß es besser.»
2.5. «Wähle das Leben» (5 Mose 30,19) ‒ Überlegungen zu Tod, Sterben, Leben
Gespräch Teil 2:
(23:00) Unser Leben, eine einzigartige, noch nie dagewesene Selbstverwirklichung Gottes – Selbstverwirklichung dieser überfließenden Liebe]
__________________
[1] WÜRDE / MENSCHENWÜRDE in: Das ABC der Schlüsselworte im Buch: Orientierung finden (2021), 164f. und 149f.; siehe auch Ehrfurcht: Ergänzend 2.1.
[2] RÜCKGRAT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 155
[3] Siehe in Orientierung finden (2021): Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›, 42
[4] Siehe auch Andreas Salcher im Gespräch mit Bruder David (2018), Anm. 6
[5] Wladimir Sergejewitsch Solowjow (1853-1900); ältere Schreibweise: Wladimir Sergejewitsch Solowjew
[6] Siehe Jean-Claude Wolf: Humanismus oder warum wir keine Tiere sind: Überlegungen im Ausgang von Wladimir Solowjew
[7] Orientierung finden (2021), 63; siehe auch Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht:
«Rudolf Otto (1869-1937) hat die Begegnung mit dem Geheimnis unter dem Aspekt des ‹Heiligen› gründlich untersucht. Er beschreibt die beiden Gefühle, die das Heilige in uns auslöst, als «tremendum» ‒ das heißt, es lässt uns ehrfürchtig erschaudern ‒ und ‹fascinans› ‒ das heißt, es löst begeistertes Entzücken aus.»
[8] EHRFURCHT in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 133:
«Nach allem, was wir über Furcht und Angst geschrieben haben, verlangt der zweite Teil dieses Wortes nach einer Erklärung. Die Ehrfurcht weigert sich ‒ denn Weigerung ist die Haltung der Furcht ‒, Ehre anzutasten. Ehrfurcht ist ein Erkennungsmerkmal eines spirituell wachen Menschen. Dieses Wachsein ist verlangt, um die Gegenwart des Geheimnisses zu spüren. Da das Geheimnis in allem, was uns begegnet, gegenwärtig ist, ist Ehrfurcht eine Lebenshaltung spiritueller Menschen. Diese Ehrfurcht zeigt sich in der Begegnung mit allen Lebewesen als Anerkennung der Würde, die ihnen zukommt. Von größter Bedeutung ist heute Ehrfurcht vor der Menschenwürde.»
[9] Diese Haltung ist auch als Goldene Regel bekannt, siehe Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamin-Gespräch mit Bruder David
(30:26) Wann ist Ethik ethisch? und Liebe ‒ die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017)
[10] Die Rolle ist das Ich, der Schauspieler ist das Selbst (2011)
Zum Video:: Das Ich als Maske und das Selbst ‒ kurzer Ausschnitt aus ‹Ich und Selbst› im Zentrum Buddhas Weg im Odenwald (DE); siehe auch Ich-Selbst: Ergänzend: 1.2.
[11] Transkription des Vortrags Menschenwürde (2019) (45:52-55:10), identisch mit dem Audio ‹Die Würde des Menschen›
[12] Siehe den Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975)
[13] siehe auch Audio-Fokus Das Wesentliche an der Ethik
[14] «Als ich mich wirklich geliebt habe, verstand ich, dass ich im Leben in jeder Situation zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, und in genau dem Moment konnte ich mich entspannen. Heute weiß ich, dass es einen Namen für dieses Gefühl gibt: Selbstachtung.» (Charlie Chaplin) ‒ «Das Leben ist das, was passiert, während wir andere Pläne schmieden.» (John Lennon)
Zeit der großen Glocken
Video und Text von Br. David Steindl-Rast OSB
(Video 25:01) T. S. Eliot spricht von dem ruhenden Punkt im Fluss der Zeit. Wir können uns diesen Punkt vorstellen wie eine einzige Achse, um die sich ein enormes Räderwerk bewegt, das doch immer wieder dort seinen stillen Punkt findet. Und für uns Menschen besteht dann die große Aufgabe darin, auch immer wieder diesen ruhenden Punkt in unserem Leben zu erreichen. Und hier an diesem Schnittpunkt von Zeit und Zeitlosigkeit gilt nicht mehr die Zeit der Uhren, sondern ‒ sagen wir ‒ die Zeit der großen Glocken. Oder die Zeit, die uns bewusst wird, wenn wir die Meereswogen beobachten in Ebbe und Flut, die ihre ganz eigene Zeit, ihren ganz eigenen Rhythmus haben.
(27:14) Die Zeit um die es hier geht, ist nicht unsere Zeit, aber eine Zeit, die wir in den großen Rhythmen des Lebens entdecken und der wir uns hingeben können auf unserem Weg zum Sinn.
(46:10) Das Tönen der Glocke
misst die Zeit, die nicht die unsere ist, sondern eine, die geläutet wird
von der gemessenen Flut, eine Zeit,
älter als die der Uhren, älter
als die Zeit, wie sorgende Frauen sie zählen,
die wachliegen nachts und die Zukunft berechnen
zwischen Mitternacht und Morgengrauen, wenn die Vergangenheit Trug ist,
und die Zukunft nicht künftig vor der Morgenwache,
wenn die Zeit einhält und endlos sich dehnt;
Und die Flut, die heute wie von jeher anschwillt,
läutet
die Glocke.[1]
Losgelöstheit macht uns bedürfnisloser. Je weniger wir haben, umso leichter ist es das, was wir haben, zu würdigen.
Stille schafft eine Atmosphäre, die Losgelöstheit begünstigt.
Wie der Lärm das Leben außerhalb des Klosters durchdringt, so ist das Leben des Mönches von Stille durchdrungen.
Stille schafft Raum um Dinge, Menschen und Ereignisse …
Stille hebt ihre Einzigartigkeit hervor und erlaubt uns, sie eins nach dem andern dankbar zu betrachten.
Unsere Übung, dafür Zeit zu finden, ist das Geheimnis der Muße.
Muße ist Ausdruck von Losgelöstheit im Hinblick auf die Zeit.
Die Muße der Mönche ist ja nicht das Privileg derer, die es sich leisten können, sich Zeit zu nehmen, sondern die Tugend derer, die allem, was sie tun, so viel Zeit widmen, wie ihm gebührt.
Für den Mönch drückt sich das Hinhorchen, das die Grundlage dieses Trainings bildet, darin aus, dass er sein Leben mit dem kosmischen Rhythmus der Jahres- und Tageszeiten in Einklang bringt; mit der «Zeit, die nicht unsere Zeit ist», wie T. S. Eliot es ausdrückt.[2]
In meinem eigenen Leben verlangt der Gehorsam oft Dienste außerhalb des klösterlichen Rhythmus. Dann kommt es ganz besonders darauf an, die lautlose Glocke der «Zeit, die nicht unsere Zeit ist» zu hören, wo immer es auch sei, und zu tun, was es zu tun gibt, wenn es dafür Zeit ist ‒ «jetzt und in der Stunde unseres Todes».
«Und die Todesstunde ist jeder Augenblick», in dem wir wirklich hinhorchen, ist «Augenblick in und außer der Zeit».[3]
Die Askese des Raumes des fördert die Loslösung in Bezug auf den Ort, wo immer wir auch seien. Ihr Ziel ist,
da wirklich gegenwärtig zu sein,
wo wir gerade sind.
Dies ist der erste Schritt ‒ und wie oft gelingt er uns nicht!
Wir sind uns selbst voraus oder bleiben hinter uns zurück. Vielleicht aber schauen wir weder voraus in eine Zukunft, die noch nicht da ist, noch halten wir an einer Vergangenheit fest, die schon vorbei ist ‒ und sind doch nicht in der Gegenwart.
Wir sind hier und doch nicht hier, weil wir nicht wach sind.
Gegenwärtig zu sein, bedeutet,
zur Wirklichkeit des Ortes aufzuwachen.Wenn nicht hier, wo sonst?
Wann, wenn nicht jetzt?
Jetzt, hier oder nie und nirgends stehen wir vor der letzten Wirklichkeit.
Ob die Mönche auf dem Feld arbeiten oder auf Reisen sind, wo immer sie auch sein mögen, wenn es Zeit zum Gebet ist, dort sollen sie ehrfürchtig niederknien, gebietet die Regel. Und so führt die Askese des Raumes zur Askese der Zeit.
Zum Hier, zum heiligen Ort, gehört das Jetzt, der heilige Augenblick; «kairos» (griechisch: Zeit), die rechte Zeit, das Heute, von dem die Liturgie immer wieder singt:
«Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!»
ein gewichtiges Psalmwort,[4] mit dem wir Mönche jeden Tag beginnen.
Dieses Heute ist immer.
lm klösterlichen Lebensraum ist Zeit etwas völlig anderes als das, was Uhren messen können.
Die Zeit gehört nicht uns.
Wenn T. S. Eliot von der «Zeit, die nicht unsere ist» spricht, dann weist dies auf Losgelöstheit von der Zeit hin.
Wir behaupten, Zeit zu haben, Zeit zu gewinnen, Zeit zu sparen; in Wirklichkeit gehört uns die Zeit nicht.
Sie wird nicht von der Uhr abgelesen, sondern daran, wann es Zeit ist.
Deshalb sind Glocken in einem Kloster von so großer Bedeutung. Und dies nicht nur, weil die meisten Mönche ohne Glocke nicht aufwachen (wenn auch niemand behaupten wird, das sei unwichtig).
In Wirklichkeit geht es darum, dass in einem Kloster Dinge nicht getan werden, wenn einem gerade danach zumute ist, sondern wenn es dafür Zeit ist.
Nach der Regel des Heiligen Benedikt wird von einem Mönch erwartet, dass er die Feder aus der Hand legt im Augenblick, wo die Glocke läutet, und nicht einmal mehr einen Querstrich aufs «t» oder ein Pünktchen aufs «i» setzt.
Wenn es Zeit für etwas ist, dann verlangt das etwas von uns, ob es uns passt oder nicht.
Auch wenn wir nur fünf Minuten zu spät kommen, geht die Sonne kein zweites Mal für uns auf oder unter. Auch die Mittagszeit können wir nicht verschieben, indem wir die Uhr zurückdrehen. Sonnenaufgang, Mittag, Abend, das sind entscheidende Zeiten, um die sich der Tag im Kloster dreht; kosmische Augenblicke, auf die die Glocke hinweist, nicht willkürliche Uhrzeiten auf einem Fahrplan.
Die Glocken im Kloster sollen uns daran erinnern, dass es Zeit ist, wenn wir sie läuten hören ‒ «nicht unsere Zeit».
In dem Augenblick, wo wir unsere Zeit loslassen, haben wir alle Zeit der Welt.
Wir sind jenseits der Zeit, weil wir in der Gegenwart sind, im Jetzt, das Zeit überwindet.
Das Jetzt ist nicht in der Zeit. Jetzt geht über Zeit hinaus.
Nur wir Menschen wissen, was «jetzt» bedeutet, weil wir «existieren», ‒ weil wir aus der Zeit «herausragen». Das ist ja die Bedeutung von Existenz. Und all diese klösterlichen Glocken wollen uns einfach erinnern:
Jetzt! ‒ und sonst nichts.
Freilich können wir nicht behaupten, dass es uns schon gelungen sei. Um nochmals Eliot zu zitieren:
Das Ziel hienieden
Den meisten von uns unerreichbar,
Wir, die nur unbesiegt bleiben,
Weil wir es stets aufs Neue versuchten.[5]Für uns gilt nur der Versuch
Der Rest ist nicht unsere Sache.[6]
Die Losgelöstheit, von der hier die Rede ist, muss klar von Gleichgültigkeit unterschieden werden. Während Gleichgültigkeit Liebe einer Situation entzieht, ist die Liebe der Losgelöstheit «ein Erweitern über das Begehren hinaus».[7]
Das Begehren ist in der Zeit verstrickt; es sehnt sich nach der Vergangenheit und sorgt sich um die Zukunft. Liebe, die über das Begehren hinauswächst, ist «Befreiung vom Künftigen wie vom Vergangenen».
Was übrig bliebt, ist das Jetzt, in dem «Vergangenes und Zukunft vereint sind», der ruhende Punkt.[8]
Wir können die befreiende Ausdehnung der Liebe in unserem eigenen Alltag erleben. Tatsächlich können wir unser Tun und Lassen bei fortschreitender Erweiterung des Horizonts als immer unwichtiger und zugleich immer bedeutsamer empfinden.
Und genau das geschieht bei fortschreitender monastischer Losgelöstheit.
Das Hier und Jetzt gewinnt genau in dem Maße an Bedeutung, wie es an Wichtigkeit verliert.
Im Ruhepunkt spielt das Hier und Jetzt keine Rolle mehr, und gleichzeitig gewinnt es letzte Bedeutung.
Daraus ergibt sich, dass wir ein dem Training in innerer Freiheit entsprechendes Raum-Zeit-Gefühl entwickeln müssen. Ohne das geht es nicht.
Die unterschiedlichen Formen, durch welche Mönche verschiedener Traditionen die Askese, zum Beispiel des Raumes, kultivieren, mögen von außen betrachtet als gegensätzlich erscheinen. Haben wir erst einmal den Schlüssel gefunden, ist leicht zu erkennen, dass alle dasselbe Ziel haben.
So unterschiedliche Formen wie die Heimatlosigkeit des Pilgermönchs und die Stabilität des Klosters sind nur zwei verschiedene Wege zum selben Ziel.
Ein Wandermönch auf den Straßen Indiens, ein Stylit, der sein Leben auf einer Säule sitzend verbringt; die seefahrenden irischen Mönche des Mittelalters oder die eingemauerten Eremiten im alten Russland und Tibet; und all die Mönche, deren Lebensformen irgendwo zwischen solchen Extremen liegen ‒ sie alle haben nur das eine Ziel: dort gegenwärtig zu sein, wo sie sind, wirklich, ganz, gegenwärtig.
… Um dahin zu gelangen,
Wo du schon bist, und fortzukommen von dort,
wo du nicht bist,
Musst du einen Weg gehen, der keine Ekstase kennt.[9]
«Ekstase» bedeutet wörtlich «außer sich sein», fehl am Platze sein, sogar verrückt sein ‒ also das genaue Gegenteil jener vollkommenen Gesammeltheit, jener Gegenwart im Hier und Jetzt, mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehend.
Dass die Ekstase ausgerechnet im Augenblick höchster Sammlung und Gegenwärtigkeit eintritt, ist lediglich das sprachliche Spiegelbild des hier besprochenen Paradoxes.
Das klösterliche Training ist ohne Eile und Hektik, aufs Praktische und Alltägliche ausgerichtet: fegen, kochen, waschen, bei Tisch auftragen oder am Altar dienen, Bücher lesen, Karteikarten einordnen, den Garten umgraben, an der Schreibmaschine sitzen, Heu machen, Rohre reparieren; aber all das mit jener liebevollen Losgelöstheit, die jeden Ort zum Mittelpunkt des Universums wandelt.
Zu diesem monastischen Bewusstsein des Raums gehört ein entsprechendes monastisches Bewusstsein der Zeit.
Die Jahreszeiten und die Gezeiten der Sterne,
Die Zeit des Melkens und die Zeit des Erntens.[10]
Die Zeit des «unaufhörlichen Angelusläutens der Glockenboje» an der Küste:
Die Glocke zur See misst
Zeit, die nicht unsere Zeit ist, geläutet von dem gemessenen
Schwall der Dünung: eine Zeit, weit älter
Als die Zeit, wie Uhren sie deuten, weit älter
Als die Zeit, wie wir sie zählen…
Und dieser «gemessene Schwall der Dünung» wird zum Sinnbild jener Erweiterung der Liebe über das Begehren hinaus, innerlich frei, aber nicht gleichgültig, sondern hellwach und verantwortlich ‒ denn die Zeit, welche von der läutenden Glocke gemessen wird, ist «nicht unsere Zeit».
Wir werden gerufen. Wir müssen antworten.
Und die Dünung, heut wie von jeher,
läutet
Die Glockenboje.
Die Angelusglocke und der Gong, die Holzklöppel und die Trommel ‒ sie alle geben Zeit an, «nicht unsere Zeit».
Das ist der entscheidende Punkt: dass es nicht unserer Zeit ist.
Die Mönche stehen auf und gehen zu Bett, arbeiten und feiern ‒ wenn es Zeit dazu ist.
Sie «halten» sich nur an die Zeit, ohne sie zu «bestimmen».
Beim ersten Glockenschlag hat der Mönch in seiner Tätigkeit innezuhalten, was immer es sei, und sich dem zuzuwenden, wofür es Zeit ist.
Das Entscheidende ist das Loslassen. Es ist Befreiung.
Durch das Loslassen wird die Zeit, welche «nicht unsere Zeit» ist, alle Zeit, unser eigen, weil wir uns ihr hingeben. Wenn wir im Rhythmus des Lebens mitschwingen, sind wir im Einklang mit der Welt, und sie gehört ganz uns.
Die innere Freiheit von Raum und Zeit, durch die alles unser eigen wird, weil wir im Hier und fetzt völlig gegenwärtig sind, enthält das ganze monastische Leben wie eine Frucht den Samen.
Ein Zustand vollendeter Einfalt
(Der nicht weniger kostet als alles)[11]
Jeder andere Verzicht ist in der liebevollen Losgelöstheit des Mönchs vom Hier und Jetzt eingeschlossen.
Sie weist auf jene radikale Losgelöstheit von uns selbst hin, in der wir unser wahres Selbst finden.
Um das zu besitzen, was du nicht besitzt,
Musst du den Weg der Entäußerung gehen.
Um das zu werden, was du nicht bist,
Musst du den Weg gehen, auf dem du nicht bist.[12]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3, 6, 12]
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[1] Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription
[2] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, I, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 46f.]:
«And under the oppression of the silent fog
The tolling bell
Measures time not our time, rung by the unhurried
Ground swell, a time
Older than the time of chronometers, older
Than time counted by anxious worried women
Lying awake, calculating the future,
Trying to unweave, unwind, unravel
And piece together the past and the future,
Between midnight and dawn, when the past is all deception
The future futureless, before the morning watch
When time stops and time is never ending;
And the ground swell, that is and was from the beginning,
Clangs
The bell.»
«Und unter dem Druck des schweigenden Nebels
Läutet die Glocke
Mißt Zeit, nicht die unsrige, von der nicht eiligen
Dünung geläutet, Zeit
Älter als die Zeit der Chronometer, älter
Als die Zeit, bang gezählt von besorgten Frauen
Die wachliegen und die Zukunft berechnen,
Abzuwickeln und zu entflechten suchen
Vergangenheit, Zukunft zusammenzuflicken,
Zwischen Mitternacht und Morgengrauen, wenn Vergangenheit Täuschung ist,
Zukunft ohne Gestalt, vor der Morgenwache
Wenn die Zeit stockt und Zeit niemals endet;
Und die Dünung, die ist und vor dem Anfang war,
Die Glocke
Hallt.»
«Die Salvages sind eine Felsengruppe vor Cape Ann (Massachusetts), die nur bei Ebbe zu sehen ist und in deren Nähe Eliot in seiner Jugend ‹riskante Segeltörns› unternahm. Die Erfahrung der rauen See, der Urgewalt des Meeres, ein im Zusammenhang mit Eliots Dichtung treffendes Vokabular, schlägt sich in The Dry Salvages entsprechend nieder. Da wird die auf dem Wasser schaukelnde Boje zur Schicksalsglocke, eine sorgenvolle akustische Begleitung für die implizite Frage: Kehren die Seeleute wieder nach Hause zurück?» [Mario Osterland zu T. S. Eliot]
[3] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Mit dem Herzen horchen› (2021), 18f.
T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V; siehe Stillehalten:
«the moment in and out of time»
[4] Psalm 95,7f.; Regel des hl. Benedikt (RB Prolog 10)
[5] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V; siehe Stillehalten:
«For most of us, this is the aim
Never here to be realised;
Who are only undefeated
Because we have gone on trying»
[6] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Die Umwelt als Guru› (2021), 26, 28-30
T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V:
«For us, there is only the trying. The rest is not our business.»
[7] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, III:
«For liberation ‒ not less of love but expanding
Of love beyond desire, and so liberation
From the future as well as the past.»
[8] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, II; gesprochen von Reinhard Glemnitz (26:00) im Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975); siehe auch Transkription (26:00) und Anm. 3, ebenso Stillehalten
[9] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, III:
«Shall I say it again? In order to arrive there,
To arrive where you are, to get from
where you are not,
You must go by a way wherein there is no ecstasy.»
[10] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, I:
«The time of the seasons and the constellations
The time of milking and the time of harvest»
[11] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V, siehe Stillehalten:
«A condition of complete simplicity
(Costing not less than erytheing)»
[12] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Spiegel des Herzens› (2021), 123-126
T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, III:
«In order to possess what you do not possess
You must go by the way of dispossession.
In order to arrive at what your are not
You must go through the way in which you are not.»
Zen
Interviews und Texte von Br. David Steindl-Rast OSB
«Der Zen-Meister Zentatsu Richard Baker Roshi nennt mich im Spaß einen ‹Zenediktiner› und ich sehe das als ein Kompliment an. Zen ist zwar innerhalb des Buddhismus entstanden, ist aber eine Form der Spiritualität, die mit jeder religiösen Tradition vereinbar ist. Es geht beim Zen nicht um eine Lehre, sondern um eine Weise die Welt zu erleben.
Sie haben vielleicht beim Tanzen Augenblicke erlebt, in denen Sie einfach zum Tanz werden; oder beim Joggen sind Sie plötzlich weg und ‹es joggt› nur noch. Beim Klettern in den Bergen gibt es solche Augenblicke und wir können sie bei den verschiedensten Tätigkeiten erleben. Das sind Zen Erlebnisse.
Wir können sie auch durch noch so große Mühe nicht zustande bringen, sie sind immer reines Geschenk des Lebens. Aber wir können uns darauf vorbereiten, dieses Geschenk zu empfangen, und wir können das Bewusstsein der Verschmelzung von dem, was wir sind, und dem, was wir tun, in unseren Alltag einfließen lassen. Darin besteht Zen Training.
Weil es beim Zen nicht um Glaubenssätze geht, sondern um Erfahrung, so werden Fragen, wie die, bezüglich Tod, Auferstehung und Reinkarnation, als Ablenkungen vom Wesentlichen angesehen.
Wenn ich mein Jausenbrot dankbar und mit voller Aufmerksamkeit esse und mich darin übe, hellwach gegenwärtig zu sein für alles, was das Leben mir schenkt, dann werde ich das auch in meinem letzten Augenblick tun, und das genügt für den Herzensfrieden, den wir Menschen uns ersehnen.» [Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt Mystiker zu sein (2020): Bruder David im Interview von Evelin Gander]
«Mir persönlich hat Zen geholfen, mein christliches Gottesverständnis zu vertiefen. Die entscheidende Schwelle war für mich die zu erleben, dass für mich selbst, aber auch für die Mehrzahl der aufgeweckten Menschen das alte Gottesbild oder die überlieferte Gottesvorstellung nicht mehr greift. Sie entspricht unserem heutigen Erleben nicht mehr.
Wir leben heute in einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt, und zwar in allen Lebensbereichen, ob das nun Biologie oder Physik, Politik oder Wirtschaft ist. Alles hängt mit allem zusammen ‒ das ist unsere Erfahrung tagtäglich. Wie sollen wir uns da mit einem Gott abfinden, der von der Welt und von uns getrennt sein soll? Der von uns getrennte Gott ‒ das geht nicht mehr! Doch das war schon in der echten lebendigen christlichen Tradition nicht anders ‒ kein Mystiker hätte das anders gesehen: Gott ist mit jedem von uns ganz intim verbunden, er ist nicht jenseits, er ist meine lebendige Gegenwart!»
«Das, was im Zen als ‹Leere› bezeichnet wird, wäre das dann die Entsprechung von dem Gott, den Sie als das Schweigen begreifen?»
«Ja, das Schweigen oder die Quelle – das ist Gott. Die Quelle ist ‹Nichts› – und diese ‹Gottheit› jenseits des Vaters, von der auch Meister Eckhart und viele andere Mystiker sprechen, dieses Nichts als Fülle zu erfahren, dazu hat mir Zen verholfen.»
«Also muss man selbst seinen eigenen Gottesbegriff loslassen, um ihn mit neuer Kraft zu beleben?!»
«Selbstverständlich. Man erlebt das Durchdrungensein von Gott – und dann spürt man, dass man keinen erstarrten Gottesbegriff braucht. Wenn man an etwas klammert, dann ist man schon jetzt im Leben tot. Man kann dann nicht mehr im Fluss sein.» [Gelebte Dankbarkeit (2014): Bruder David im Interview von Ingeborg Szöllösi]
[Ergänzend:
1. «Wohin geht der Mensch?» (2022): Im überarbeiteten und ins Deutsche übersetzten Vorwort der Neuausgabe dieses Buches von Hugo M. Enomiya Lassalle, das Bruder David 1988 erstmals für die englische Ausgabe des Buches verfasste, schreibt er:
«Buddhisten wie Christen finden, dass Zen eine hilfreiche Methode ist, um die innere Quelle rein zu halten. Bei dieser Herzensarbeit machen sie eine erstaunliche Entdeckung. Diejenigen, deren Leben von diesem Urquell genährt wird, werden nach christlichen Maßstäben zu besseren Christen und nach buddhistischen Maßstäben zu besseren Buddhisten. (Dann nehmen sie solche Etiketten freilich nicht mehr wichtig.) Sie erkennen, dass der buddhistische wie der christliche Weg das gleiche Ziel hat: Den völlig wachen, völlig lebendigen Menschen. Sie erkennen auch dies: In dem Maße, wie wir lebendig werden, werden wir auch lebendig und wach für die Bedürfnisse anderer. Völlig lebendig werden ist eine Aufgabe, die wir nicht als Einzelgänger, sondern nur mit anderen gemeinsam verwirklichen können.»
2. Dankbarkeit macht eine Fütterung zum Mahl (2011): Interview mit Bruder David von Marietta Schürholz:
«… Thich Nhah Hanh führte aus, dass die Jünger Christus an der Art erkannten, wie er das Brot brach. Mir wurde da klar, wie in der Präsenz das Göttliche wohnt, wie Gegenwärtigkeit im Tun zu Gott führt.»
Bruder David: «Dieses Tun kommt aus einem Fühlen. Und dieses Fühlen ist ein Verstehen, das ganz tiefe körperliche Wurzeln hat, ein verkörpertes Verstehen. Das Fühlen ist ein verkörpertes Verstehen.
Das Denken ist ein entkörpertes Verstehen. Es wird umso besser, je mehr man vom Körper wegkommt. Das kann man natürlich nie ganz, aber man kann versuchen vom Körper weg zu kommen. Während im Gefühl versucht man vom Körper mehr und mehr in das Verstehen hineinzunehmen.»
3. Erinnerungen an die letzten Tage von Thomas Merton im Westen (1968):
«Es gab so viele Kontaktpunkte zum Zen Buddhismus, dass ich ihn einfach fragen musste, ob er auch zu diesen Einsichten gekommen wäre, wenn er Zen nie begegnet wäre. ‹Ich bin nicht sicher›, antwortete er nachdenklich ‹aber ich denke nicht. Ich sehe keinen Gegensatz zwischen Buddhismus und Christentum. Die Zukunft des Zen ist im Westen. Ich habe die Absicht, Buddhist zu werden so gut ich kann.›»
4. Askese und Zen:
«In spirituellen Überlieferungen wie etwa dem Zen lernen wir, dass Askese eine Disziplinierung der Sinne bezeichnet, durch die man die Fähigkeit entwickelt, jede Daseinsdimension mit gesteigerter Sensibilität zu erleben. Das wurde in Blütezeiten seit jeher vom Mönchstum in jeder Tradition betont. Für einen wahrhaft aufnahmebereiten Gaumen ist Quellwasser sehr wohlschmeckend.»
5. Konvertieren:
«Natürlich passiert es sehr oft, dass Leute, die einen christlichen Hintergrund haben, viele Jahre damit verbringen, beispielsweise Zen zu praktizieren, oder Yoga ‒ und dadurch letzten Endes ihren christlichen Hintergrund wiederentdecken.»]
Zugehörigkeit
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Echte Lebendigkeit ist der Ausdruck einer tiefen Zugehörigkeit.
Wir wissen es «bis in unsere Knochen».
Es ist die höchste Art von Wissen, das nicht auf Gedanken beschränkt ist, noch auf Gefühle, noch auf irgendeine andere Art von Wissen. Dies ist nicht das Wissen, auf das wir uns in alltäglichen Gesprächen beziehen.
Es ist nicht das, was der konfuzianische Weise Hui Tzu, der sehr um Wortgenauigkeit bemüht war, unter Wissen verstand.
Und dies führt zu einem köstlichen Wortwechsel zwischen ihm und dem großen taoistischen Meister Chuang Tzu.
Es handelt sich um eine Episode, die Thomas Merton entzückte und die er in seinem Buch «The Way of Chuang Tzu» mit dem Titel «The Joy of Fishes» (Die Freude der Fische) übersetzte[1]:
Chuang Tzu und Hui Tzu
gingen über den Fluss Hao
auf einem Damm.
Chuang sagte:
«Schau, wie frei
die Fische springen und herumschnellen:
Das ist ihre Glückseligkeit.»
Hui entgegnete:
«Da du kein Fisch bist,
wie kannst du wissen,
was Fische glücklich macht?»
Chuang sagte:
«Da du nicht mich bist,
wie kannst du bloß wissen,
dass ich nicht weiß,
was Fische glücklich macht?»
Hui erwiderte:
«Wenn ich, der ich nicht du bin,
nicht wissen kann, was du weißt,
folgt daraus, dass du,
der du kein Fisch bist,
nicht wissen kannst, was sie wissen.»
Chuang sagte:
«Warte einen Augenblick!
Lass uns zurückkommen
auf die ursprüngliche Frage.
Was du mich gefragt hast, war:
Wie kannst du wissen,
was Fische glücklich macht?
Von deinen Fragen her
scheinst du offensichtlich zu wissen, dass ich weiß,
was Fische glücklich macht.»
Und dann folgt die entscheidende Aussage, eine Erklärung von größter Bedeutung:
«Ich erkenne die Freude der Fische
im Fluss
durch meine eigene Freude,
wenn ich denselben Fluss entlang gehe.»
Gibt es noch einen anderen Weg, dies zu wissen? Offensichtlich nicht! Aber überlegt, was dies bedeutet.
Unser beglückendes Wissen kommt nicht vom Denken, sondern vom Bewusstsein einer gemeinsamen Lebendigkeit, in diesem Fall zwischen Hui Tzu und dem Fisch.
Die Taoisten nannten diese gemeinsame Lebendigkeit das «Tao». Dieses Wort bedeutete einfach «Weg» oder «Pfad». Doch die Taoisten erweiterten seine Bedeutung.
Für diese Gegebenheit benötigen wir einen Ausdruck und der beste, den unsere Sprache anbieten kann, ist «gesunder Menschenverstand».
Indem wir diese Art von Wissen gesunden Menschenverstand nennen, weiten wir die Definition dieses Begriffs, wie wir ihn normalerweise kennen, aus, doch wenn wir ihn mit neuen Ohren hören, ist es ein außergewöhnlich guter Begriff.
Oft wird gesunder Menschenverstand gebraucht, um herkömmliche Annahmen zu bezeichnen, das genaue Gegenteil von voller Lebendigkeit. Aber der gesunde Menschenverstand, von dem wir jetzt sprechen, ist so dynamisch, so lebendig, so weit, dass es allem, was wir tun und sind, eine neue Farbe, eine neue Note gibt.
Es ist ein sinnliches Wissen und es entspringt dem, was wir mit der ganzen Schöpfung gemein haben. Unseren Erfahrungen wohnt die Erkenntnis inne, dass wir nicht getrennte Leiber sind, sondern dass in diesem Universum alles zusammenhängt, alles ist Teil von allem. Aus diesem Bewusstsein entspringt das einzige Wissen, das Sinn macht. Dieses Wissen geht so tief, dass es in unseren Sinnen verkörpert ist und keine Grenzen hat. Es ist dem ganzen Universum gemeinsam. Wir müssen uns nur anschließen.
Ist es nicht das, was Chuang Tzu sagt? Durch unsere eigene Glückseligkeit erkennen wir die Glückseligkeit der Fische und die Glückseligkeit von allem, was es in der Welt gibt. In diesem glückseligen Augenblick haben wir ein spirituelles – voll lebendiges – Wissen im Herzen der Welt erreicht. [Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012)]
[Ergänzend:
1. ZUGEHÖRIGKEIT, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Kapitel «Liebe Ein ‹Ja› zur Zugehörigkeit» und Schlüsselbegriffe «Liebe» und «Zusammengehören» am Ende des Buchs:
«… Jede Sehnsucht sehnt sich irgendwie danach, das Zusammengehören umfassender zu erkennen und somit reicher zu erfahren. Weil das Zusammengehören eine Tatsache ist, sind wir zuhause in der Welt, ganz gleich, wo wir uns befinden mögen. Und weil das Zusammengehören ein Geschenk ist, ist Dankbarkeit die richtige Antwort auf das Leben, ganz gleich, was es uns bringt.»
2. Auf dem Weg der Stille (2016), 71f.:
«T. S. Eliot kommt in seinen ‹Four Quartets› auch auf eine Gipfelerfahrung zu sprechen und erzählt von einer ‹Musik, die man in solcher Tiefe hört, dass man sie überhaupt nicht hört, aber du bist die Musik, solange diese Musik andauert.›[2]
Du bist die Musik. Das heißt, du vibrierst von dieser Musik, und selbst wenn du bloß an irgendeine Flötenmusik oder Klaviermusik denken solltest, der du zuhörst, ist das die Musik des Universums, mit der du vibrierst. Das ist die Musik nach der dieser ganze kosmische Tanz tanzt, und sie fließt durch dich hindurch ‒ und das ist dein Augenblick religiöser Erfahrung. In diesem Augenblick weißt du, dass du mit allem eins bist. Es ist einfach so: Du bist die Musik, solange die Musik andauert.
Und das ist jetzt der Ausdruck eines tiefen Dazugehörens. Und wenn du jetzt nach deinen Gipfelerfahrungen oder religiösen Erfahrungen suchst und deine Erinnerung durchgehst, so vergiss dabei alles andere, was du dir dabei gedacht hast und was dich davon abgelenkt hat ‒ wie etwa: ‹mein Körper hat noch nie geglüht› oder ‹Musik mag ich gar nicht› und so weiter.
Aber das eine, was du nicht unterlassen solltest, ist, dass du dich fragst: ‹Wo ist mir schon einmal für den Bruchteil einer Sekunde aufgegangen, dass ich dazugehörte, und ich das bis in meine Knochen hinein empfand, und dass ich mit allem eins war und alles mit mir eins war›?
Das ist das Wesentliche, und das ist eine Art des Erkennens, und zwar die größtmögliche Art des Erkennens, die nicht auf Gedanken beschränkt ist, nicht auf Gefühle und nicht auf irgendeine andere Art des Erkennens. Und das ist ‹Gemeinsam-Sinn› (common sense) in der tiefsten Bedeutung dieses Wortes.
Es ist ein Wissen, das so tief geht, dass es in unseren Sinnen verkörpert ist und keine Grenzen seines Gemeinsam-Seins hat.
Darin ist alles beschlossen: Mittels deiner eigenen Glückseligkeit kennst du die Glückseligkeit von allem und jedem, was es in der Welt gibt, denn in diesem Augenblick der Glückseligkeit hast du sozusagen ans Herz der Welt ‒ die spirituelle Erkenntnis ‒ gerührt, an das Wissen, dass alles ‹zusammen sinnt› (commonsense knowledge).»
3. Spiritualität im Alltag in Dienten (1994):
Vortrag
(09:59) Wir erleben Entfremdung und Augenblicke, in denen wir uns grenzenlos zu Hause fühlen, daheim
(20:05) Das Reich Gottes: Wir sind alle eine große Familie im Gotteshaushalt, der vom göttlichen Geist belebt ist, dem Hausfrieden Gottes]
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[1] Siehe auch: Dschuang Dsi: «Das wahre Buch vom südlichen Blütenland»; übersetzt von Richard Wilhelm (= Diederichs gelbe Reihe, 14), Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München 112000: Buch XVII: «Herbstfluten, 12. Die Freude der Fische», 192
[2] Kennen Sie
«… den Augenblick in und außer der Zeit,
Den Wachtraum, verloren im Sonnenstrahl,
Den ungesehenen Thymian, das Wetterleuchten im Winter,
Den Wasserfall oder Musik, die so innig gehört wird,
Dass du sie nicht mehr hörst, weil du selbst die Musik bist,
Solange sie forttönt.»
… the moment in and out of time
The distraction fit, lost in a shaft of sunlight
The wild thyme unseen or the winter lightning,
Or the waterfall, or music heard so deeply
That it is not heard at all, but you are the music
While the music lasts.
T. S. Eliot: «Four Quartets»: «The Dry Salvages», V, diese Verse ebenfalls zitiert in AH 1-2) 122; 3-5) 119
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